Wanderer nach rechts

von Wolfgang Laskowski
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 201 - März | April 2023

Sein politischer Werdegang ist schillernd. Der Nationalbolschewist Ernst Niekisch, präfaschistischer Vordenker der extremen Rechten der Weimarer Republik, saß während der NS-Zeit im Zuchthaus Brandenburg in Einzelhaft und war Mitbegründer der VVN. Eine historische Figur des Querfront-Gedankens.

Antifa Magazin der rechte rand
Ernst Niekisch

Der gelernte Volksschullehrer ist 1918/19 Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrates der linken Räterepublik in München, Mitglied der SPD, später der linken USPD und verbüßt wegen seiner Beteiligung an der Münchner Räterepublik 1920/21 eine Haftstrafe gemeinsam mit den linken Schriftstellern Erich Mühsam und Ernst Toller. Im Jahr 1923 beginnt Ernst Niekischs Weg in das geistige Umfeld des Neuen Nationalismus. Beruflich als Sekretär des Textilarbeiterverbandes tätig, kommt er in Kontakt mit dem »Hofgeismar Kreis« der Jungsozialisten, einer nationalistischen Strömung innerhalb der SPD, die sich in ihrer programmatischen Erklärung vom Internationalismus abwandte. Zeitweise war Niekisch einer der Wortführer der »Hofgeismarer«. Im Zuge des sich ab Mitte der 1920er Jahre formierenden extrem rechten Lagers des Neuen Nationalismus wandte sich Niekisch endgültig vom Marxismus ab und dem radikalen Nationalismus zu.

Die von ihm ab 1926 herausgegebene Zeitschrift »Widerstand« entwickelte sich rasch zu einer publizistischen Stimme der nationalrevolutionären, konkret der nationalbolschewistischen Strömung im Spektrum des sogenannten Neuen Nationalismus. Hier schrieben zahlreiche Autoren der präfaschistischen extremen Rechten der Weimarer Republik: Ernst Jünger, Ernst von Salomon oder Karl Otto Paetel. Der »Widerstand« nahm Einfluss auf die Selbstverständigungsdebatten des sogenannten linken Flügels der NSDAP. Die Zeitschrift polemisierte gegen den Versailler Vertrag und die Begrenzung der Reichswehr auf 100.000 Mann, warb für die Aufrüstung des Reiches und letztlich eine Revanche gegen die Alliierten des Ersten Weltkrieges, um die politische und ökonomische Obstruktion des Deutschen Reiches, wie sie sich etwa bei der Besetzung des Rheinlandes 1923 durch Frankreich gezeigt hatte, zu beenden. Im der Zeitschrift angeschlossenen »Widerstand Verlag« veröffentlichte Niekisch seine Bücher; das bekannteste dürfte das 1932 erschienene »Hitler, ein deutsches Verhängnis« sein. Um die Zeitschrift gruppierten sich »Widerstandskreise«, die als Lesekreise agierten, jedoch über eine Resonanz sowohl im Umfeld der KPD als auch der NSDAP und der Reichswehr verfügten. Die nationalrevolutionären und nationalbolschewistischen Akteure suchten und fanden politische Anschlusspunkte.

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Ernst Niekisch über Hitler

Feindbestimmung: Der Westen, der Bürger
Die Stoßrichtung von Niekischs Widerstandsideologie war entschieden antiparlamentarisch, antiliberal und autoritär. Im Mittelpunkt seines Denkens stand der Arbeiter und der Soldat als Träger des Staates, beide sollten die wirtschaftliche und politische Macht des Clerks, also des Bürgers brechen. Niekisch schwebte ein autoritär-soldatischer Kasernenhof-Staat vor. Den westlichen Liberalismus beschrieb er, wie andere extrem rechte Publizisten seiner Zeit, als dekadent und den Deutschen nicht wesensgemäß. Eine Wesensverwandtschaft hingegen bestehe zu Russland, seinen Traditionen und seinen Herrschaftsformen, was seine Quelle in dem von Deutschen und Russen gleichermaßen geteilten Anti-Individualismus habe.

Fasziniert von Sowjetrussland
Wie viele Zeitgenoss*innen in allen politischen Lagern war Niekisch fasziniert von den Geschehnissen in Sowjetrussland der 1920er Jahre. Nicht die Idee des internationalistischen Kommunismus war es, die ihn anzog, sondern die politische Praxis des Kriegskommunismus, Russland mit Methoden der Gewalt und der autoritären Formierung binnen weniger Jahre zu industrialisieren. Dort glaubte Niekisch im Anschluss an andere Protagonisten der »Konservativen Revolution« mehr als nur einen Verbündeten Deutschlands zu erkennen. Um seine geopolitische Souveränität im Blick auf den Versailler Vertrag wieder herzustellen, favorisierte Niekisch ein Bündnis mit Russland gegen die Westmächte. Wie andere extrem rechte Strömungen der Weimarer Republik stellten Niekisch und sein »Widerstand« für die Nazis eine Konkurrenz dar, die es auszuschalten galt. Im Gegensatz zu anderen Zeitschriften konnte der »Widerstand« bis 1934 erscheinen und die Nazis in Grenzen kritisieren. In der Literatur heißt es dazu, dies habe Niekisch seinen Verbindungen in die Reichswehr-Führung zu verdanken gehabt, die ihre schützende Hand über ihn und seine Zeitschrift gehalten habe. Nach dem Verbot des »Widerstand« bestehen die gleichnamigen Kreise fort. Niekisch sondiert in den Folgejahren Gemeinsamkeiten mit Gegnern des Nationalsozialismus, trifft sich konspirativ mit dem nationalbolschewistischen Karl Otto Paetel in Paris, und dem vormaligen Herausgeber der nationalrevolutionären Zeitschrift »Gegner«, dem späteren Schlüsselakteur der Widerstandsgruppe, die die Gestapo unter dem Namen »Rote Kapelle« führt, Harro Schulze-Boysen. Im März 1937 wird Niekisch von der Gestapo verhaftet, und im Jahr 1939 wegen Hochverrat und illegaler Parteitätigkeit im Kontext der »Widerstand«-Kreise zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt. Zu deren Verbüßung wird er ins Zuchthaus Brandenburg/Görden überstellt, in dem die kommunistischen Antifaschisten Robert Havemann und Erich Honecker ebenfalls eine von den Nazis verhängte Haftstrafe verbüßen.

In der Haft erleidet er schwere körperliche Misshandlungen, setzt seine theoretische Arbeit im Gefängnis jedoch fort. Bei seiner Befreiung durch die Rote Armee 1945 ist er fast völlig erblindet. Nach dem Krieg wird er Mitglied der SED, nimmt einen Ruf auf eine Professur für Imperialismus-Forschung an der Humboldt Universität in Ostberlin an, und ist Gründungsmitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN). Seinen Wohnsitz hat Niekisch jedoch in Wilmersdorf, in West-Berlin. Ernüchtert von der Politik der SED nach dem Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 zieht er sich aus der DDR-Öffentlichkeit zurück, tritt 1955 aus der SED aus und verlässt Anfang der 1960er Jahre die DDR. In West-Berlin kämpft er um seine Anerkennung als Opfer der Nazidiktatur. Seine Anträge auf Entschädigung werden abgelehnt. Erst 1966, ein Jahr vor seinem Tod, erhält Niekisch eine Zahlung für seine in Brandenburg/Görden erlittenen Haftschäden.

Rezeption und Erbe
Ernst Niekischs retrospektive Wirkung in der historisch interessierten Öffentlichkeit heute ist gewiss in erster Linie mit seinem Buch »Hitler, ein deutsches Verhängnis« verknüpft. Es wurde später als antifaschistisch motivierte, frühzeitige und hellsichtige Warnung vor den Nazis interpretiert. In der Tat warnte Niekisch in seinem Buch vor der Hitler-Bewegung und den Mechanismen ihrer Machtausübung. Doch die Lektüre des Buches und seiner Texte im »Widerstand«, welche die Machtübernahme kommentierten, verdeutlichen: Niekisch ist die nationalsozialistische Bewegung zu legalistisch, nicht ausreichend autoritär und radikal. Er kritisiert den Nationalsozialismus aus Sicht einer mit ihm konkurrierenden rechten Strömung. Zur verkürzten Deutung, Niekischs Schriften seien antifaschistisch, trug entscheidend die Arbeit des Grafikers und Mitherausgebers des »Widerstand«, A. Paul Weber, bei. Seine Arbeit für das Buch zeigt eine Menschenmasse, die unter dem Banner des Hakenkreuzes in ein Grab marschiert.

Die Kontinuität in Niekischs Denken und Aktivismus liegt wohl in seinen rabiat antiwestlichen, antiliberalen und antiparlamentarischen Affekten, die, je nach den Zeitumständen nach rechts und links hin anschlussfähig waren. Niekischs antiwestlicher Antiimperia­lismus machte ihn als Denker sowohl für die Neutralist*innen und Gegner*innen der Wiederbewaffnung der frühen Bundesrepublik interessant als auch für den Westberliner SDS, der in den frühen 1960er Jahren auf der Suche nach einer Fundierung seines Antiimperialismus war. Publizisten wie Sebastian Haffner und Wolfgang Venohr griffen einige von Niekischs Denkfiguren zum Thema Preußen auf und bewerteten diese positiv.
In der extremen Rechten sind es die Nationalrevolutionäre um Henning Eichberg und die Zeitschrift »Wir selbst« und die NPD-Jugendorganisation »Junge Nationaldemokraten«, die Niekisch für sich reklamieren. In der internationalen Diskussion ist Niekisch in den 1960er und 1970er Jahren ein Bezugspunkt für den antikolonialen Befreiungsnationalismus gewesen. Und nicht zuletzt war er eine Inspiration für den russischen Faschisten Alexander Dugin in dessen nationalbolschewistischer Phase. Anklang fanden Niekischs Thesen auch im »Nationaldemokratischen Hochschulbund« (NHB). Zu nennen ist hier Uwe Sauermann, dessen Dissertation über Niekisch Anfang der 1980er Jahre zu einem kleinen Revival des Nationalbolschewisten in der Szene führte. Andere neonazistische Organisationen bezogen sich in den vergangenen Jahrzehnten ebenfalls auf Niekisch und reklamierten sein politisches Erbe. Es dürfte jedoch nur eine kleine Minderheit seine Schriften wirklich gelesen haben. Dazu gehörte ohne Zweifel der im Februar 2023 verstorbene rechte Autor und ehemalige NPD-Vordenker Jürgen Schwab, der Niekisch in seinem Buch »Volksstaat statt Weltherrschaft« rezipierte.

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Ernst Niekischs Werk ist kein leicht zugänglicher Stoff. Seine theoretischen Begriffe oszillieren zwischen marxistischer und nationalistischer Rhetorik. Sie setzen eine klassische Bildung zur Antike und die Lektüre Carl Schmitts und Lenins voraus. Ernst Niekisch war zweifelsohne ein Gegner der NS-Herrschaft und deren Opfer, aber ganz gewiss kein Antifaschist in einem linken, emanzipatorischen Sinne. Sein Werk und sein Lebensweg dienen extrem rechten Strömungen bis heute als theoretischer Steinbruch, aus dem sie sich bedienen, wenn es gilt, rechte Zeitdiagnosen zu erstellen. Dass Ernst Niekisch im Hinblick auf sein Russland-Bild derzeit wieder rezipiert wird, überrascht nicht. Manche seiner Texte zur geopolitischen Lage Russlands lesen sich wie eine Deutungsvorlage für den russischen Imperialismus unter Putin.