Ehrliche Herzen

von Andreas Speit
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 201 - März | April 2023

#Manifest

In der Öffentlichkeit löst der Krieg in der Ukraine die Krise durch die Pandemie ab. Die Diskussionen führen zu Disputen. Fronten verhärten sich, Fraktionen weichen auf. Wer vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine spricht oder von amerikanischen NATO-Ausdehnungen in russische Einflusssphären, scheint sich positioniert zu haben. In der Sorge um die Auswirkungen des Kriegs und seiner Ausdehnung werden auch sorglos Grenzen überschritten. »Die Friedensbewegung ist zurück«, freut sich Diether Dehm. Der ehemalige Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke ruft in der aktuellen »Compact« gleich zur Querfront auf. In dem extrem-rechten Magazin um Jürgen Elsässer formuliert der frühere Musikproduzent die Option auf seine Weise. »Im wesentlichen Falle, / Da brauchen wir uns alle / Auf diesem Erdenballe, / Damit er nicht zerknalle. / Schiebt alle Streitigkeiten / Für eine Weil’ beiseiten, / Und lasst uns drüber streiten / Dereinst in Friedenszeiten. / Oli, oli, ola, wir sind miteinander da…«, zitiert der einstige Sprecher von »Künstler für den Frieden« gegen die US-Atom-Raketen aus einem Song von Dieter Süverkrüp.

Antifa Magazin der rechte rand
Pro Russland Kundgebung mit wenigen Teilnehmer*innen in Hannover © Mark Mühlhaus / attenzione

Mit Elsässer dürfte Dehm nicht alleine die Parole »Ami go home« teilen. Schon 2014 standen die beiden Männer bei den »Friedensmahnwachen« wegen des Ukraine-Konfliktes auf der Straße. Auch da wussten sie über die wahren Hintergründe Bescheid, die nicht zuließen, Russland einfach als Angreifer auszumachen – getreu der Logik, dass nicht immer der Angreifende eines Landes der Aggressor sein muss. Diese Logik spiegelt sich plakativ bei »Compact« wider. Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), Ursula von der Leyen (CDU) und Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) prangen in Tarnbundeswehruniformen auf dem Cover. »Die Kriegshexen – bis alles in Scherben liegt«, so der Titel. Keine Frage – alle drei Frauen werben für Waffen für die Ukraine. Keine Antwort dürfte in diesem Krieg jedoch sein: »Frieden schaffen ohne Waffen.« »Schwerter zu Pflugscharen« nicht minder. Die Realität ist, dass ein Aggressor im Geist des 19. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert erst einmal aggressiv abgewehrt werden musste. Zeitsprünge und Zeitenwende können nicht durch Zurückhaltung und Zuschauen überstanden werden.

Die Kundgebung
Das »Manifest für Frieden« von der Politikerin Sahra Wagenknecht und der Publizistin Alice Schwarzer wie auch die Kundgebung »Aufstehen für den Frieden« in Berlin bieten für die Ukraine keine Antwort. Knapp 650.000 Menschen haben das niederschwellige Angebot angenommen und das Manifest bis Ende Februar unterzeichnet, in dem vor einer Eskalation des Ukraine-Kriegs gewarnt und Kompromisse »auf beiden Seiten« eingefordert werden. Auf der Bühne bekräftigte die Politikerin der Linken am 25. Februar den Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine und mahnte Friedensverhandlungen mit Russland an. »Das furchtbare Leid und das Sterben in der Ukraine« müsse beendet und »Russland ein Verhandlungsangebot« unterbreitet werden, »statt einen endlosen Abnutzungskrieg mit immer neuen Waffen zu munitionieren«. Es gelte, das Risiko einer Ausweitung des Krieges zu bannen, so Wagenknecht. Am Brandenburger Tor bekräftigte die Publizistin Schwarzer die Argumentation der Politikerin.

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Einen starken Applaus der – ja wie vielen – Teilnehmenden mit blauer Fahne, weißer Taube, Regenbogenfahnen und Plakaten mit »Frieden« und durchgestrichenen Panzern lösten die deutlichen Reden aus. Das Orga-Team spricht von 50.000 Friedensbemühten, die Polizei von 13.000. In der von ihr gegründeten Zeitschrift Emma wirft Schwarzer anderen Medien das Verbreiten von Fake-News vor. »Die dreiste Manipulation der Medien übersteigt inzwischen das Vorstellbare!«, schreibt sie. Tage später wird in Gesprächen mit Teilnehmenden bei einer Veranstaltung zum Thema »Reichs- und Querdenkenden-Bewegung – eine neue Mischszene« nicht minder von Manipulation der Zahlen gesprochen. »Ich war da, wir waren 50.000«, bestätigen sich gegenseitig seit Jahren links und antifaschistisch Engagierte nach der Diskussion.

Der Gestus
Sowohl das Manifest als auch die Demonstrationsaufrufe zogen keine Grenzen nach rechts. Der Erstunterzeichner Erich Vad, Brigadegeneral a. D., hatte keine Berührungsängste mit dem »Institut für Staatspolitik« und dessen Spektrum. Auch die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) störte sich nicht an der Verbindung. Vad blieb bis 2013 militärischer Berater im Kanzlerinamt. Aus dem Milieu der AfD und »Compact« erfolgte weitere Unterstützung – weniger wegen Schwarzer, mehr wegen Wagenknecht. Einer, der sie schon als Kanzlerin empfahl, war mit einer Entourage bei der Demonstration: Elsässer. Viele aus dem extrem rechten Spektrum nahmen teil, zum Beispiel der holocaustleugnende Influencer Nikolai Nerling. Diesen Zuspruch ignoriert Schwarzer. Wagenknecht hatte vor dem Termin nur angemerkt, dass alle Menschen willkommen seien, nur einschlägige Fahnen nicht. Oskar Lafontaine formulierte wenige Tage vorher eine nicht minder offene Einladung: »Jeder, der reinen Herzens für Frieden ist, ist eingeladen.« Das Pathos des früheren SPD-Bundesministers und einstigen Bundesvorsitzenden von Die Linke könnte eine literarische Anspielung sein. Der »Kleine Prinz« in dem gleichnamigen Werk von Antoine de Saint-Exupéry empfahl, mit dem Herzen zu sehen. »Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar«, so der Prinz in der märchenhaften Erzählung des französischen Kriegspiloten.

Zu weit hergeholt? Die Empfehlung des Prinzen geisterte unlängst durch eine andere politische Bewegung: Die der »Querdenker«. Diese Bewegung wollte Liebe verbreiten, mit dem Herzen sehen. Denn reale Fakten, wissenschaftliche Sichtweisen offenbarten nicht das wirkliche Wissen, die ganzheitliche Sicht. Sie blieb beim Vordergründigen, dem Materiellen, dem Rationalen. Dieser Impuls kommt in Deutschland auch aus der Romantik. Novalis dichtete 1800: »Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren sind Schlüssel aller Kreaturen, wenn die, so singen oder küssen, mehr als die Tiefgelehrten wissen, wenn sich die Welt ins freie Leben und in die Welt wird zurückbegeben, wenn dann sich wieder Licht und Schatten zu echter Klarheit werden gatten, und man in Märchen und Gedichten erkennt die wahren Weltgeschichten, dann fliegt vor Einem geheimen Wort das ganze verkehrte Wesen fort.«

In der Verzauberung der Welt können sich Spiritualität und Verschwörungsnarrative annähern. Die »Querdenker«-Bewegung ist von dieser »conspirituality« angetrieben und: Schon früh konnte in ihren Telegram-Kanälen auch die Hinwendung zu Wladimir Putin verfolgt werden.

Kritik der Kritik
In einer Studie zu Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft haben Elmar Brähler und Oliver Decker weit vor der Pandemie festgestellt, dass eine Verschwörungsmentalität in rechten und linken Milieus virulent ist – in unterschiedlicher Dichte. Die legitime Kritik an Lobbyismus in der Wirtschaft oder Vormachtstreben in der Geopolitik kann zu illegitimer Kritik verkümmern. Nein, Kapitalismus ist keine Verschwörung. Und nein, Imperialismus ist ebenso keine Verschwörung. Die Vorhaltung der »Querdenkenden«, Kritik als Verschwörung zu markieren, lenkt nur davon ab, dass diese Kritik zu Verschwörungen werden kann – durch Personalisierung und Pauschalisierung. Links und Rechts gelten da nicht mehr, sondern Schwarz und Weiß – und das schon sehr lange.

Dieser Dualismus bewegt die gesamte »Querdenken«- und teilweise die Friedensbewegung. Auf der Straße und in den sozialen Medien sind sie sich alle einig: Frieden kann nur gelingen, wenn die Ukraine Russland entgegenkommt. In dieser Position schwingen ein Antiamerikanismus und eine NATO-Kritik mit. Die Friedensbewegung diskutierte immer wieder, wie radikal diese Kritik pointiert werden müsste. Sie debattierte auch schon öfter darüber, dass, wenn es um den Frieden geht, sich Rechtsradikale einreihen könnten – das Anliegen sei zu groß, um so klein zu denken. Diese Ambivalenz spiegelte sich bei »Aufstehen für den Frieden« wider. Teilnehmende versuchten Elsässer und Co. aus der Demonstration zu drängen, andere trugen ein Plakat: »Mit AfD und Co. ist kein Frieden zu machen – Die Linke«.

Die internen Debatten finden sich allerdings kaum in der Öffentlichkeit. Die Proteste gegen die Pandemie wurden lange als diffus links gelesen, die Proteste für den Frieden werden ebenso links gelabelt. Diese Wahrnehmung ist auch den Positionierungen von Juli Zeh, ­Richard David Precht oder Harald Welzer mit geschuldet – werden die Genannten doch als links-liberal wahrgenommen.

Die Crux im linken Diskurs: Russland ist der derzeitige militärische Imperialist, nicht die USA. Diese Realität widerspricht einer linken Romantisierung der Sowjetunion. Der real existierende Sozialismus ist zu einem imperialistischen Kapitalismus mutiert. Der gegenwärtige Putinismus vereint eigentlich Unvereinbares: Linke und Rechte. Dass ein einstiger Linker zum Chef eines wichtigen extrem-rechten Magazins wurde, ist eine Ironie der Geschichte. Elsässers neues revolutionäres Subjekt, Nationale statt Proletariat, deutet an, dass er sich zu Recht heute als »Deutscher« bezeichnet. Noch lange bevor das Wort »woke« en vogue wurde, griff Elsässer die Idee von Diversität, Queerness und Gender an. Die Linke kümmere sich nicht mehr um die einfachen Leute, wusste er früh. Und Wagenknecht weiß das schon länger. Ihr Bashing der Bio-Bohemé, der political correctness und der Grünen als »die gefährlichste Partei« im Bundestag, gegen »offene Grenzen« bildeten früh den Resonanzraum für Applaus von ganz weit rechts. Nicht erst die Affinitäten in der Friedensposition laufen quer nach rechts.
Eine Grenze zog sie aber jüngst gerade gegen ihren Fan Dehm. »Wer Compact ein Interview gibt, hat nicht mehr alle Tassen im Schrank«, schrieb sie auf Twitter. Dieser Position von »Sahra« ist zuzustimmen, weniger ihrer Suggestion: Wer für Waffen ist, will keine Friedensverhandlungen.