Skandalprozess zum Hitlerputsch

von Manfred Weißbecker
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 204 September | Oktober 2023

Der 1924 in München geführte Prozess gegen die Anführer des Hitler-Ludendorff-Putsches von 1923 war ein folgenreicher Justizskandal. Zum I Teil: Putsch aus »vaterländischem Geist«

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Adolf Hitler mit den Mitangeklagten am 26. März 1924 vor Beginn der Verhandlung mit den Verteidigern von links nach rechts in Uniform: Dr. Friedrich Weber, Oberstleutnant Hermann Kriebel, General Erich Ludendorff, Adolf Hitler, Walter Luetgebrune, SA-Führer Ernst Röhm, SA-Führer Wilhelm Brückner, Heinz Pernet, Dr. Wilhelm Frick (in zivil), Ernst Pöhner und der spätere Gauleiter Adolf Wagner. @ Bundesarchiv

Niemand wollte es in München am Ende gewesen sein. Alle aus Bayerns politischer und militärischer Führung, die intensiv und fast bis zum letzten Moment den Putsch vom 8. und 9. November 1923 gegen die Weimarer Republik vorbereitet hatten, begannen nach dessen Scheitern, die Verantwortung von sich abzuweisen. Schon damals hieß es, wie später in der Bundesrepublik: Der Hitler war’s! Aber sie irrten sich, denn es ließ sich kein Deckel auf die Ereignisse legen. Zu groß war der Schaden, den sie angerichtet hatten, zu groß das Interesse demokratischer Kräfte an Aufklärung. Viele wollten wissen, wie tief das »Triumvirat« aus dem Generalstaatskommissar Gustav von Kahr, dem Chef der Reichswehr in Bayern Otto Hermann und dem Polizeichef Hans Ritter von Seißer in die Vorbereitung des Putsches verstrickt gewesen war. Natürlich kam auch keiner um die Frage herum, ob die Umsturzpläne aufgegeben oder in veränderter Weise fortgeführt werden sollten. Denn vom Ziel der Beseitigung der »Weimarer Verhältnisse« wollte keiner Abstand nehmen. Es ging nun darum, den Schaden zu begrenzen und nach einem neuen Miteinander aller Republikfeinde zu suchen. Zu ersetzen galt es die bisherige Losung »Auf nach Berlin« durch »im Bunde mit Berlin«. Man orientierte sich nun an den Plänen des Reichswehrchefs Hans von Seeckt zur Schaffung eines über Parlament und Regierung stehenden »Direktoriums«.

Schützenhilfe der Justiz
Der am 26. Februar 1924 eröffnete Prozess gegen Adolf Hitler und weitere neun Angeklagte – darunter Erich Ludendorff, Wilhelm Frick, Hermann Kriebel, Ernst Röhm und Ernst Pöhner – fand nicht vor dem Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik beim Reichsgericht in Leipzig statt, wo er hingehört hätte, sondern vor dem Volksgericht für den Landgerichtsbezirk München I. Die bayerische Regierung hatte sich erfolgreich dem zögerlichen Handeln des Reichs widersetzt, unter anderem mit dem Argument, der Leipziger Gerichtshof sei ja »zum Teil mit Sozialdemokraten besetzt«. Dort wäre es ihr kaum so leicht gefallen, die eigenen Pläne vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Zweifellos schien es günstiger, alle Verantwortung auf die National­sozialisten zu schieben, diese aber als achtbare, weil national gesinnte Leute zu behandeln und sie mit geringen Strafen davonkommen zu lassen.
Wer erwartet haben sollte, die Hochverräter würden gemäß Artikel 13 des Reichsgesetzes zum Schutz der Republik bestraft, sah sich eines Besseren belehrt, als am 1. April 1924 das Urteil verkündet wurde: Ludendorff wurde freigesprochen, Hitler und die anderen Angeklagten mit lächerlich geringen Haftstrafen bedacht, die sie »ehrenhaft« unter günstigen Bedingungen auf einer Festung absitzen sollten. Der Prozess verlief in einer republikfeindlichen Atmosphäre und entsprechend den Vorstellungen der bayerischen »Ordnungszellen«-Politiker. Den Angeklagten wurde zwar ein hochverräterisches Unternehmen vorgeworfen, doch über die Ursachen des Putsches und seine konservativ-nationalistischen Hintergründe fiel kaum ein Wort. Bewusst sollte das Mitwirken von Kahr, Lossow und Seißer aus den Verhandlungen herausgehalten werden. Lediglich in jenen Sitzungen, von denen die Öffentlichkeit ausgeschlossen war, kam zur Sprache, welche Vereinbarungen vor dem 8. und 9. November 1923 zwischen den Regierenden, Reichswehr, Polizei und »Kampfbund« getroffen worden waren. Selbst die Anklageschrift vermied alle Aussagen, die Aufschluss über die umfassende und langfristige Vorbereitung des Putsches hätte geben können. Im Prozess verband Staatsanwalt Ludwig Stenglein die Anklage mit einer regelrechten Laudatio auf den Putschistenführer und mit beschönigenden Aussagen zu den Vorgängen im Münchner Bürgerbräukeller.

Propaganda im Gericht
Die Angeklagten erhielten reichlich das Wort zu ihrer Rechtfertigung. Ein Journalist beschrieb die Atmosphäre des Verfahrens, dessen Verlauf und Abschluss so gänzlich anders aussahen als das gegen die Revolutionäre vom Mai 1919, mit Worten, die Erstaunen und Entsetzen spüren lassen: »Ein Gerichtshof, der den ‹Herren Angeklagten› immer wieder Gelegenheit gibt, stundenlange Propagandareden ‹zum Fenster hinaus› zu halten; ein Beisitzer, der nach Hitlers erster Rede (ich hab’s mit eigenen Ohren gehört!) erklärt: ‹Doch ein kolossaler Kerl, dieser Hitler!›; ein Vorsitzender, der duldet, dass von der höchsten Spitze des Reiches als von ‹Seiner Hoheit, Herrn Fritz Ebert› gesprochen wird (Hitler) und dass man die Reichsregierung eine ‹Verbrecherbande› nennt (Kriebel); ein Generalstaatsanwalt, der in einer Sitzungspause einem der Angeklagten vertraulich auf die Schulter schlägt: ‹Na, mein lieber Pöhner› … – gehört all das nicht in den makabren Münchener Bilderbogen vom großen politischen Karneval, der mit einem fürchterlichen Erwachen am Aschermittwoch endet?!«
Das Urteil vom 1. April 1924 erschien vielen Zeitgenoss*innen als unglaubwürdig und verfassungswidrig. Kritiker*innen verwiesen darauf, dass das Gericht in den Jahren zuvor 20 Todesurteile gefällt hatte – gegen Linke. In Bestrafung einerseits und Milde des Urteils andererseits spiegelte sich die machtpolitische Konsequenz der angeblich unpolitischen Justiz: Die Richter kamen nicht umhin, deutlich zu machen, dass der Putsch zur falschen Zeit, mit falschen Mitteln und mit falschen Verbündeten versucht worden war. »Straferschwerend«, so hieß es in der Urteilsbegründung, sei die Tatsache, dass durch das Unternehmen »die Gefahr eines Bürgerkriegs heraufbeschworen, schwere Störungen des wirtschaftlichen Lebens des gesamten Volkes und vermutlich auch außenpolitische Verwicklungen« herbeigeführt worden wären.

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Die Sprache der Urteile war eindeutig: Distanzierung von der erfolglosen Tat, nicht jedoch von den Tätern und erst recht nicht von deren Gesinnung und Zielen. Die »Hochverräter« sollten offensichtlich nicht völlig verprellt werden. Alles unterblieb, was der NSDAP entscheidend hätte schaden können, so auch die formalrechtlich erforderliche Ausweisung des aus Österreich stammenden und als staatenlos geltenden Hitlers, der an der Spitze des Putsches gestanden hatte. So unterschiedlich die Faschistenpartei, ihr Putsch und ihre Führer bewertet wurden – es bestand eine Art stillschweigende Übereinkunft: Die NSDAP hatte mit ihren gescheiterten Plänen einer zu errichtenden Diktatur und beschleunigter Kriegsvorbereitungen in den Hintergrund zu treten. Jedoch sollte sie keinem Verbot, keiner Auflösung und strikter Bekämpfung unterliegen. Jeder erfolgreiche Schlag gegen rechts wäre den ungeliebten demokratisch-republikanischen Kräften zugutegekommen. Daher ging das Interesse an den bestehenden rechtsradikalen Organisationen nicht verloren. Wer unter den Bedingungen der zeitweiligen und brüchigen Hochkonjunktur die politische Entwicklung nach rechts treiben wollte, dem schien jedes Mittel recht zu sein, auch jede antiparlamentarisch-terroristische Partei.
All dies personifizierte sich in Georg Neidhardt, der den Vorsitz im Gerichtshof einnahm und eine absonderliche Rolle spielte. Dass ihm Unfähigkeit vorzuwerfen war, erscheint als das Geringste unter den negativen Urteilen seiner Zeitgenoss*innen. Er war keineswegs zufällig damit betraut worden, diesen Prozess zu leiten, hatte er doch schon im Prozess um den Mord an Kurt Eisner den angeklagten Anton Graf Arco-Valley als »ehrenwert« bezeichnet. Der rechten Szene eng verbunden erwies er sich als regelrecht hörig gegenüber den Putschisten, wie der Historiker Otto Gritschneder in seiner Aufzählung aller Neidhardt anzulastenden Rechtsbeugungen und Rechtswidrigkeiten urteilt. Sorgfältig bemühte er sich, Kahr und seinesgleichen aus dem Prozess herauszuhalten, da es sonst eine »unerquickliche und das Staatsansehen schädigende Szene« hätte geben können. Den langen Tiraden Hitlers hörte er offensichtlich gern zu. Kein Wunder, dass er 1933 zum Präsidenten des Münchner Oberlandesgerichtes befördert wurde.

Demokratiefeinde im Aufwind
Wie günstig sich Prozess und Urteil für die Rechtsradikalen auswirkten, zeigte sich am 6. April 1924, als in Bayern ein neuer Landtag gewählt wurde. Ihr »Völkischer Block« nahm nach der Bayerischen Volkspartei und der SPD den dritten Rang ein und erhielt mehr als eine halbe Million Stimmen (17,1%) und 23 der 129 Sitze. In München erhielt er sogar von allen Parteien die meisten Stimmen. Das galt auch in anderen Teilen Deutschlands: Bei den Wahlen in Mecklenburg-Schwerin gewannen die »Völkischen« 13 und in Lübeck sechs Mandate. In Thüringen errangen sie mit einer »Liste der Vereinigten Völkischen« sieben Mandate, was sie Zünglein an der Waage werden ließ, als sich die bürgerlichen Parteien und die linken Parteien in nahezu gleicher Stärke gegenüberstanden. Hier schreckte der »Thüringer Ordnungsbund« nicht davor zurück, die völkisch-rassistischen Kräfte in seine Machtambitionen zu integrieren.

Als sich ein Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags mit den Ereignissen befasste und 1928 einen Bericht vorlegte, war zu beobachten, dass alles, was die Herrschenden in Bayern hätte belasten können, beschönigt wurde. Der Bericht fiel äußerst knapp aus und enthielt nicht einmal die kritischen Positionen des Sozialdemokraten Wilhelm Hoegner. Daraufhin veröffentlichte die SPD Teile von Hoegners Material unter dem Titel »Hitler und Kahr. Die bayerischen Napoleonsgrößen von 1923. Ein im Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags aufgedeckter Justizskandal«. Das Buch wertete auch jene Gerichtsakten zum Hitlerputsch aus, die damals noch vorhanden waren und nach 1933 vernichtet wurden. Sie belegten jenes antidemokratische und die NSDAP fördernde Verhalten, das nur als Kollaboration von Repräsentanten Bayerns mit der NSDAP bezeichnet werden kann. Es bot die Grundlage für eine Prozessfarce, die neben vielen anderen Verfahren zu den schlimmsten und folgenreichsten Erscheinungen deutscher Justiz gehört.