Im Namen des Volkes

von Merle Stöver
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 197 - Juli | August 2022

#KonformistischeRevolte

Antifa Magazin der rechte rand
In Rostock stehen sechs Stelen, die an das Pogrom erinnern sollen und an die Verantwortung unterschiedlicher Akteure wie Medien, hier bei der Ostsee-Zeitung. © Mark Mühlhaus / attenzione

Dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen ging eine monatelange Hetzjagd gegen Asylsuchende voraus. In Leserbriefen und Zeitungsartikeln beklagten Anwohner*innen die Zustände auf der Wiese vor der »Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber« (ZAst), die meist nicht auf das politische Versagen, sondern auf ein essenzielles So-Sein der dort Ausharrenden zurückgeführt wurden, und drohten damit, die Sache selbst »in die Hand zu nehmen«, wenn »die Politik« nicht für Ordnung sorge.
Kommunal- und Landespolitiker*innen wiederum schoben die Verantwortung für das politische Versagen sowohl vor als auch nach dem Pogrom der jeweils höheren Ebene zu: Oberbürgermeister Klaus Kilimann betonte gegenüber der Ostsee-Zeitung (OZ), dass er dem Innenminister Lothar Kupfer Druck gemacht habe. Dieser wiederum erläuterte, dass er »höhere Gewalt: die Bonner Asylgesetzgebung« als Ursache des Pogroms ausmache. Denn diese, so sagte Kupfer, mache »den ungewollten, ungezügelten und unbeherrschbaren Asylbewerberstrom möglich.« (Norddeutsche Neueste Nachrichten, 26.08.1992) Einerseits stellten sich Politiker*innen in Stadt und Land als empathische Versteher*innen der Lichtenhäger*innen dar, andererseits betonten sie ihre Ohnmacht gegenüber der Regierung in Bonn. Noch am Abend vor dem Pogrom sagte der Rostocker Innensenator Peter Magdanz, dass er hoffe, »daß die Herren in Bonn bald aus ihrer Sommerpause aufwachen.« (OZ, 21.08.1992) Doch auch zahlreiche Bundespolitiker*innen beteuerten, dass ihnen die Hände gebunden und sie dem Asylgesetz ohnmächtig unterworfen seien. Nur eine Änderung des Grundgesetzes könne zu diesem Zeitpunkt noch helfen, um dem Chaos wieder Herr zu werden und die Ordnung wiederherzustellen.
Genau hier gilt es, hellhörig zu werden. Ausgerechnet in der Anwendung des geltenden Asylrechts soll demzufolge die Ursache für das Fehlen einer staatlichen Ordnung liegen: Das geltende Recht treibe den Staat förmlich in den Notstand und schade der eigenen Bevölkerung. Wenn nun also Leserbrief-Autor*innen und Lichtenhäger Anwohner*innen von der Politik forderten, die Ordnung wiederherzustellen, dann bezog sich dies meist auf die Abschaffung oder zumindest Verschärfung des Asylrechts und darauf, dass die Politik im Sinne der eigenen Bevölkerung handeln solle.

Konformismus der Rebellierenden
Die Deutlichkeit, mit der selbst Vertreter*innen des Staates dessen angebliche Schwäche zur Schau trugen, schienen die Angreifer*innen als Aufforderung zu verstehen, selbst tätig zu werden. Die Brandsätze, die sie im August 1992 auf die ZAst und das benachbarte Wohnheim vietnamesischer Vertragsarbeiter*innen warfen, galten einerseits dem angeblich gesetzlosen Verhalten der Asylbewerber*innen und andererseits der vermeintlich untätigen Politik und dem Gesetz, dem das »Volk« ohnmächtig unterworfen sei. Ein Anwohner aus Lichtenhagen beschwerte sich im Juni 1992, dass die Zustände rund um die Einrichtung eine »Auswirkung der nicht zu Ende gedachten Asylantenpolitik [sei]. Es stinkt hier im Sinne des Wortes zum Himmel.« (NNN, 26.06.1992) Das Bild des Zum-Himmel-Stinkens ist eindeutig: In der Situation, wie sie im Frühjahr und Sommer 1992 vor der ZAst entstand, erkannte dieser Anwohner also den vermeintlichen Verrat der Politik am »Volk«.
Doch anstatt etwa vor das Rathaus oder den Landtag zu ziehen und dort beispielsweise für eine bessere Unterbringung der Asylbewerber*innen zu protestieren, waren im August 1992 mehrere tausend Menschen bereit, Seite an Seite mit Neonazis vor die ZAst zu ziehen und den Tod von Asylbewerber*innen und vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen zumindest in Kauf zu nehmen. Dieser Umstand gibt nicht nur Auskunft über die dem Rassismus und Antiziganismus inhärente Gewaltbereitschaft, sondern ebenso über den Konformismus der Angreifenden.

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Lichtenhagen – Rostock – Jahrestag der Pogrome


Denn einerseits trachteten die Angreifenden danach, gegen den Staat, der nicht im Interesse des »Volkes« handele, aufzubegehren. Dem stand andererseits das gleichzeitige Bedürfnis gegenüber, sich den Autoritäten zu unterwerfen und damit zu dem ersehnten Kollektiv der Deutschen zu gehören. In der konformistischen Revolte erfahren diese beiden ambivalenten Bedürfnisse Befriedigung – die Rebellion geschieht herrschaftskonform: Die Aggressionen, die eigentlich den Autoritäten gelten, werden mit deren Einverständnis gegen Schwächere gerichtet. Dieses Einverständnis muss dabei keineswegs in Form eines direkten Befehls gegeben werden, es genügt die Antizipation der Zustimmung, die angesichts der »Das Boot ist voll«-Rhetorik gegeben war.
Die konformistische Revolte verfolgt also keineswegs das Ziel, die Politiker*innen anzugreifen oder grundsätzlich in Frage zu stellen, sondern vielmehr, sie zum Handeln zu zwingen. So ist auch eine Frau zu verstehen, die am Tag nach den Ausschreitungen in der OZ zitiert wurde: »Aber wenn die Herren Politiker jetzt endlich aufwachen und jeder – ob in Bonn, Schwerin oder Rostock – endlich seine verdammten Pflichten entdeckt, die ihm die Wähler auferlegt haben, hat das alles vielleicht einen Sinn gehabt.« (OZ, 26.08.1992)

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Antiziganismus als Basis
Im Fokus der sich zuspitzenden Situation standen von Beginn an die ankommenden rumänischen Asylbewerber*innen. Bereits seit Monaten wurden diese in Zeitungsberichten, Äußerungen von Politiker*innen und in Gerüchten der Anwohner*innen kollektiv zu »Zigeunern« gemacht: Ihnen wurden Eigenschaften zugeschrieben, die sie zu einer gefährlichen Negativfolie der Vorstellung eines deutschen »Volkes« machten. Angeblich würden sie illegal und massenhaft über die Grenzen kommen, betteln, stehlen, verwüsten und zerstören. Diesen antiziganistischen Zuschreibungen, die die Berichterstattung sowie die politische Debatte dominierten, widersprach in der Dominanzgesellschaft niemand. Antiziganismus zeichnet sich durch eine kaum gebrochene Kontinuität in der deutschen Gesellschaft aus. Vor allem weil der nationalsozialistische Völkermord an den Rom*nja und Sinti*zze in den 1990er Jahren noch nahezu keine Aufarbeitung erfahren hatte, waren antiziganistische Ressentiments nicht tabuiert, sondern leicht abrufbar. In dem Angriff auf die rumänischen Asylbewerber*innen glaubten die Autoritären also, sich der Zustimmung der Herrschenden sicher sein zu können.
Erst während des Pogroms gerieten auch die vietnamesischen Nachbar*innen in das Fadenkreuz der Angreifer*innen: Gerät die Masse erst einmal in Bewegung, benötigt sie keinerlei Befehl oder Einverständnis mehr. Und so war jegliche zuvor betonte angebliche Differenzierung hinfällig: Im Pogrom gab es nun nur noch Deutsche und Ausländer*innen.

Nach dem Pogrom
Den Forderungen der Angreifer*innen von Lichtenhagen sowie der Verfasser*innen zahlreicher Kommentare in den Lokalzeitungen wurde schließlich von der bundesdeutschen Politik nachgegeben: Auf ihrem Parteitag im November 1992 gab die SPD ihre grundsätzliche Blockade gegen Asylrechtsverschärfungen auf. Der für eine Grundgesetzänderung notwendigen Zweidrittelmehrheit stand nichts mehr im Wege. Am 6. Dezember 1992 einigten sich Union, FDP und SPD schließlich auf den Asylkompromiss. Die Neufassung des Artikels 16a des Grundgesetzes bot kaum noch legale Möglichkeiten, nach Deutschland zu kommen und Asyl zu beantragen. Mit dem Asylkompromiss wurde neben »sicheren Herkunftsländern« ebenso die »Drittstaatenregelung« beschlossen: Ein Asylantrag konnte so nur noch im ersten betretenen EU-Land gestellt werden, so dass eine Einreise nach Deutschland auf dem Landweg nahezu unmöglich wurde. Mit dem Beschluss über die umfassenden Verschärfungen war die vermeintliche Ordnung, die von den Autoritären über Monate beschworen wurde, wiederhergestellt.


Spätestens 2015, als »besorgte Bürger« bundesweit vor Geflüchtetenunterkünfte zogen, den Menschen »Wir sind das Volk!« entgegenbrüllten und Medien wie Der Spiegel nahezu dieselben Titelbilder wie 1992 hervorkramten, wurde die Erinnerung an Lichtenhagen wieder wach. Wie schon der Mob vor der ZASt 1992 forderten sie die Schließung von Unterkünften in Wohngebieten sowie Asylrechtsverschärfungen. Mit der Verharmlosung, sie als »besorgte Bürger« zu bezeichnen, ihnen zuhören und sie ernst nehmen zu wollen, wurde der Gesellschaft ein Bärendienst erwiesen. Denn offensichtlich dürfen Rechte in Deutschland brandschatzen und morden, das »Volk« sind sie dennoch – oder vielleicht gerade deswegen.