Reaktionäre unterm Radar

von Jan Rettig
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 195 - März / April 2022

#EuropaParlament

Reaktionäre Realpolitik hat in der technokratischen Welt des Europäischen Parlaments (EP) scheinbar nicht wirklich Platz. Aber das Parlament bietet auch Bühne und Raum für gesellschaftliche Rückwärtsorientierungen, diskursiv wie strategisch. Das sei hier einmal kurz an dem gar nicht so unbedeutenden und doch eher unbekannten Joachim Kuhs von der »Alternative für Deutschland« (AfD), Mitglied der extrem rechten Fraktion »Identity and Democracy« (ID), gezeigt.

 

Screenshot der Internetseite von Joachim Kuhs mit Selbstdarstellung als Denker.
© derrechterand Archiv

 

Graue Maus?

Kuhs, Jahrgang 1956, Rechtspfleger und Rechnungsprüfer, AfD-Mitglied der ersten Stunde, seitdem auch bei den »Christen in der AfD« aktiv, dort seit 2017 Vorsitzender, 2019 in den Gemeinderat von Baden-Baden und ins Europäische Parlament gewählt. Er stimmte zwar 2020 als Teil des AfD-Bundesvorstands zusammen mit seinen europäischen Parlamentskolleg*innen Silvia Limmer und Jörg Meuthen für die Aufhebung der Parteimitgliedschaft von Andreas Kalbitz – ein Herzensprojekt des damaligen Parteivorsitzenden. Dessen Rück- und Austritt Ende Januar 2022 handelte Kuhs dann aber kurz und knackig in einem Facebook-Post ab, der in einem trotzig-pflichtbewussten »Ich bleibe!« gipfelt und ansonsten keinerlei Positionierung zur Sache enthält. Ganz passend zu seiner Arbeitsweise in seiner christlichen Mission, er wolle »[s]eine Botschaft verkünden, bleibe aber gerne unter der öffentlichen Aufmerksamkeitsschwelle«. Und das gelingt ihm selbst in seiner Funktion als gewählter Repräsentant in einem der größten, bürokratischsten, aber auch transparentesten Parlamente der Welt. Dort ist er zwar entsprechend seinen beruflichen Kenntnissen in der Hauptsache im Haushalts- und im Haushaltskontrollausschuss tätig, findet aber trotzdem Zeit, sich zu diversen anderen Themen zu äußern: Von der weltweit verbreiteten Christenverfolgung bis zu falschen Corona-Maßnahmen, von der aktuellen Inflationsgefahr bis zum Gender-Fanatismus bedient er viele rechte Topoi, niemals Aufsehen erregend polarisierend, aber immer ideologisch eindeutig. Parteinahmen für Ungarn und Polen, gegen die EU, China, Muslim*innen, Abtreibungen, Migrationspakte und das Asylwesen. Die meisten seiner Positionen finden sich in Parlamentsreden, hin und wieder ist er aber auch Gesprächspartner in einer Art AfD-eigenem Internet-Talkshowformat oder erstellt eigene Videobeiträge.


Wurzeln, Wurzeln, Wurzeln

Anlässlich des diesjährigen Gedenktages für die Opfer des Holocausts veröffentlichte Kuhs eine kurze, pastorale Geschichte über Verfolgung im Nationalsozialismus und vor allem über Widerstand. Für den seien nämlich »Wurzeln, geistige Wurzeln, charakterliche Wurzeln« die zentrale Voraussetzung. Die Grundlagen für das normative, bei Kuhs allerdings objektlose »Nie wieder!« kämen »aus der Erziehung in Elternhaus und Schule, aus der Jugendbewegung, der Liebe zur Heimat und zum Vaterland, aus dem kulturellen Erbe an Musik, Literatur und Geschichtsbewusstsein. Und (…) vor allem aus einem lebendigen, gelebten Glauben.« Dieser Sozial- und Wertkonservatismus knüpft inhaltlich wie sprachlich sicher nicht zufällig an völkische Ideologien des 19. Jahrhunderts an, erscheint aber wegen des postfaschistischen geläuterten »Nie wieder« unverdächtig. Ebenso mögen Kuhs häufige pro-jüdische und pro-israelische Beiträge irritieren, letztlich finden sich diese aber in einem europäisch-abendländischen, »christlich-jüdischen Erbe«, und damit wiederum identitär-essentialistisch eingeordnet. Das ist ideologische Reaktion.

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… und ein bisschen Ausblick

Ein eher strategischer Beitrag zur Stärkung reaktionärer Realität ist ein von Kuhs an David Engels beauftragtes Gutachten. Engels, Historiker Alter Geschichte in Belgien und Polen, gelegentlich Autor für die »Junge Freiheit«, Vorsitzender der »Oswald Spengler Society« und dort sowie in gemeinsamer Herausgeberschaft eines Sammelbandes verbunden mit Max Otte. Der Auftrag nun an Engels lautete, die »strategischen Grundlagen einer engeren Zusammenarbeit zwischen der ID- und EKR-Fraktion im Europäischen Parlament unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse zwischen AfD und PiS« herauszuarbeiten. Die polnische Regierungspartei »Prawo i Sprawiedliwo??« (PiS) macht sich seit fast sieben Jahren relativ erfolgreich daran, Staat und Gesellschaft Polens nach ihren autoritären, katholisch-fundamentalistischen Prinzipien, kurz: reaktionär, umzubauen. Engels Ergebnisse, was die Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowohl zwischen und innerhalb der Fraktionsverbünde als auch zwischen beiden genannten Einzelparteien angeht, stellen keine Neuigkeiten dar und sind von kritischer wie affirmativer Seite hinlänglich benannt worden. Interessant überhaupt ist der akademisierte Versuch einer Vermittlung zwischen der deutschen und polnischen Rechten, historisch ein bekanntermaßen belastetes Verhältnis. Das Gutachten endet mit praktischen Verständigungs- und Vernetzungsvorschlägen, die vor allem in den sich ändernden politischen, sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen zukünftiges Kooperationspotential ausmachen. Dass nun gerade die AfD nicht Teil der letzten rechten Gipfel in Madrid und Warschau war, schmälert Beitrag und Bedeutung dieser ideologischen Sondierungsarbeit aber nicht. Zumal die zwischen PiS und AfD weit auseinander liegenden Positionen zu Russland zum Beispiel gerade eine Lösungsperspektive haben, weil die AfD ganz aktuell, eben angesichts einer veränderten Weltlage, genötigt war, sich gegen die russische Aggression in der Ukraine auszusprechen.