Ambivalentes Verhältnis – Neoliberalismus und extreme Rechte

von Gerd Wiegel
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 195 - März / April 2022

#Konkurrenz

Der in den 1980er Jahren begonnene Aufstieg des neoliberalen Kapitalismusmodells ist Begleitumstand und Bedingung für die sich seit 1990 modernisierende extreme Rechte. Dabei ist deren Verhältnis durchaus zwiespältig und doch von Erfolg gekrönt.

Thatcherismus und Reaganomics gelten als Ausgangspunkt des gegenwärtigen neoliberal geprägten Wirtschaftssystems. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher und US-Präsident Ronald Reagan waren entscheidende Treiber*innen bei der Ablösung des traditionellen, sogenannten fordistischen Kapitalismus durch seine neue Spielart. Marktradikalismus, Zerschlagung gewerkschaftlicher Gegenmacht, radikale Individualisierung und der Abbau sozialer Sicherungssysteme sind nur einige Effekte davon.

 

Margaret Thatcher

 

Paralleler Aufstieg

Mit den zunehmenden Wahlerfolgen und der teilweisen Modernisierung von Parteien der extremen Rechten seit dieser Zeit in Europa stellte sich immer mehr die Frage des Verhältnisses dieser Formationen zum Neoliberalismus. Der »Front National« in Frankreich und die »Freiheitliche Partei Österreichs« (FPÖ) waren die ersten dieser Parteien neuen Typs, die Erfolge einfuhren. Vor allem die FPÖ machte sich in den 1990er Jahren einige Elemente zu eigen. Denn die Erfolgsspur dieses Teils der extremen Rechten nahm nicht zufällig ihren Ausgang in der Hochphase des postfordistischen Wandels der Gesellschaft. Vielmehr gab und gibt es zahlreiche ideologische Schnittmengen, die schon 1997 von Herbert Schui, Ralf Ptak und anderen in dem Buch »Wollt ihr den totalen Markt?« unter die Lupe genommen wurden: Ideologien der Ungleichheit, Chauvinismus und Demokratiebeschränkung beziehungsweise -feindschaft.

Die Autor*innen unterschieden damals zwischen einer alten und einer modernen Rechten. Während Erstere in Form von Parteien wie der NPD oder damals noch »Deutsche Volksunion« (DVU) am traditionellen völkischen Antikapitalismus festhielten, fanden sich bei Letzteren programmatische Anleihen beim Neoliberalismus. Gerade die FPÖ, die italienische »Lega Nord« und der »Vlaams Belang« aus Belgien nahmen positiven Bezug auf den marktradikalen Kapitalismus. Doch mit den zunehmenden sozialen Verwerfungen, die durch neoliberale Politik in den europäischen Ländern auftraten, wurde das Verhältnis dieser Rechten zum Neoliberalismus ambivalenter. Das Austarieren zwischen hyperindividuellen und kollektivistischen Politikansätzen lässt sich auch bei der »Alternative für Deutschland« (AfD) nachzeichnen.

Individualistische und völkische Standortfrage

Eine Partei wie die AfD tritt heute verbal einerseits gegen Freihandel, internationale Global Player des Kapitals und Abbau sozialer Sicherungen für Deutsche auf. Andererseits fordert sie parallel dazu Steuererleichterungen für Reiche, die Durchsetzung des deutschen Exportmodells zulasten europäischer Nachbarn und Einsparungen im Sozialhaushalt. Das mag widersprüchlich klingen, doch hat es sich bei Wahlen als populistisches Erfolgsmodell der modernisierten radikalen Rechten erwiesen, keine konsistente Wirtschafts- und Sozialpolitik zu vertreten. Stattdessen werden mit teils gegensätzlichen Positionen ganz unterschiedliche gesellschaftliche Schichten angesprochen.

Völkische und nationalistische Positionen von rechts korrespondieren dabei mit dem Marktparadigma. Die sozialdarwinistische Vorstellung, die stärksten Individuen müssten sich im ständigen Konkurrenzkampf auf dem Markt behaupten, wird von der Rechten mit einer völkischen Komponente ergänzt, bei der nationale und ethnische Zugehörigkeit als Standortvorteile gelten, die gegen Mitbewerber in der internationalen Konkurrenz eingesetzt werden sollen.

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»Rohe Bürgerlichkeit«

Die Abwertung und Ausgrenzung von als abweichend oder schwach wahrgenommenen Gruppen und Individuen ist ein weiteres verbindendes Element. Während der Neoliberalismus diese Ausgrenzung über den Markt definiert – wer nicht erfolgreich ist, habe selbst Schuld –, bedient sich die extreme Rechte aus ihrem traditionellen Ideologiereservoir. Ausschlüsse nimmt sie dabei entlang an Ethnie, Geschlecht und Sexualität vor. Was der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer als »rohe Bürgerlichkeit« beschrieben hat – eine mitleidlose, auf unbedingte Konkurrenz und eigenen Vorteil bedachte Weltsicht –, ist kennzeichnend für die neoliberale und extrem rechte Ausprägung dieses Weltbilds.

Corona-Proteste als Schmelztiegel

In einem aktuellen Beitrag auf den Seiten von »Sozial.Geschichte« beschreibt der italienische Sozialwissenschaftler Sergio Bologna die internationale Bewegung der »Impfverweigerer« als Ausdruck eines radikalen Individualismus, den er als Folge neoliberaler Politik und des Internetkapitalismus der Gegenwart sieht. Für Bologna handelt es sich objektiv um eine rechte, vor allem sozialdarwinistische Bewegung. Diese aktuelle Verquickung in der Coronakrise ist die nächste praktische und ideologische Aktualisierung des Verhältnisses dieser beiden politischen Strömungen.