NSU – Zehn Jahre danach

von Svenja Kux
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 192 - September | Oktober 2021

#Bilanz

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Antifaschistischer Protest 2015 in Berlin gegen den NSU-Skandal in Hessen und die Verwicklungen von Verfassungsschutz und Innenminister Bouffier. © Christian Ditsch

Der Schock saß tief und Lösungen mussten her: Tag für Tag kamen im November 2011 neue Details über die rechtsterroristische Gruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) ans Licht, die allesamt geeignet waren, die Sicherheitsbehörden, die Bundesregierung, kurzum: den Staat, zu kompromittieren. Es dauerte nicht lange, bis Politiker*innen Vorschläge und Forderungen präsentierten. Schon damals als hilflose Geste wertete man die Beteuerung von Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), mit »aller Kraft« solche Gewalttaten künftig verhindern zu wollen; immerhin wollte er auch eine Neonazi-Datei. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) stellte den Einsatz von V-Leuten in der extrem rechten Szene grundsätzlich infrage und wollte zugunsten einer Zentralisierung des Verfassungsschutzes Landesbehörden auflösen. Grünen-Fraktionsvorsitzende Renate Künast forderte gar, einen Großteil des Personals bei den VS-Behörden auszutauschen.
Und Bundeskanzlerin Angela Merkel versprach in ihrer vielzitierten Rede bei der Gedenkfeier für die Opfer des NSU im Februar 2012: »Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.« Das Wort Rassismus fiel nur ein einziges Mal. 

Verfassungsschutz: Gestärkt aus der Krise

Knapp zehn Jahre später, im Bundestagswahlkampf 2021, hat die CDU ein politisches Problem: Es heißt Hans-Georg Maaßen, Parteimitglied mit Affinitäten nach Rechtsaußen und zwischen August 2012 und November 2018 Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV). Selbst die kühnsten Pessimist*innen unter den Verfassungsschutzkritiker*innen hätten im November 2011 wohl nicht vorausgesagt, dass die Aufklärung der Rolle des BfV im NSU-Komplex von einem später so deutlich bekennenden Rechten verantwortet werden würde. Maaßen war nicht nur Chef der vom BfV zu leistenden Aufklärung, sondern zugleich Chef-Aufklärungsverhinderer. Das Bundesamt war während des gesamten NSU-Aufarbeitungsprozesses aufgefordert, Informationen und Wissen über die 13 NSU-Jahre und das im November 2011 erfolgte Aktenschreddern zu liefern – aber es lieferte oftmals nicht, weigerte sich, mauerte, blockierte. 

Der Verfassungsschutz wurde übrigens reformiert, doch nicht so umfassend, wie es im November 2011 gefordert worden war. Einige Behördenleiter*innen räumten ihren Posten, unter ihnen BfV-Präsident Heinz Fromm, Maaßens Vorgänger. Manche, so etwa die Leiterin des Berliner Verfassungsschutzes, Claudia Schmid, stolperten nicht über das jahrelange Nichtwissen und Nichtgewussthaben­wollen in Sachen NSU, sondern über das Bekanntwerden rechts­widriger Aktenvernichtungen danach. Wer jenseits der Leitungsebene in den Verfassungsschutzämtern wofür zuständig gewesen war, bleibt freilich bis heute Verschlusssache. 2015 stimmte der Bundestag für eine Reform des Verfassungsschutzes, die die Rolle des BfV stärkte, ihm mehr Kompetenzen zusprach. Der V-Personen-Einsatz blieb intransparent, ebenso die Möglichkeiten der parlamenta­rischen Kon­trolle. Man kann festhalten: Trotz aller Skandale um den Verfassungsschutz, die er in seiner Geschichte erlebt hat, blieb die Institution resilient, sie konnte sich allen Krisen, allen Einschränkungsversuchen zum Trotz, stets aufs Trockene retten.

Polizei: Unter Druck

Anders sah es diesmal bei der Polizei aus. Die Erkenntnis, dass die erfolglosen Ermittlungen der »Soko Bosporus« vor allem darauf abzielten, den Mordopfern des NSU kriminelle Verstrickungen nachzuweisen, rückte die Polizei in die öffentliche Kritik. Die Kritik hatte nicht nur die fruchtlosen Ermittlungen im Neonazimilieu zum Ziel, sondern sie berührte viel tieferliegende gesellschaftliche Schieflagen. Die Debatte offenbarte, dass viele Menschen, die von Rassismus und Antisemitismus betroffen sind, kein Vertrauen in die Institution Polizei haben können, denn sie ist auch eine Institution, in der Strukturen und Netzwerke von und für extrem rechte Beamt*innen existieren. Das Gefühl der Bedrohung, die rechte Vernetzungen in der Polizei erzeugen, ist existenziell, es stellt das Versprechen des Staates, Schutzgarant für alle zu sein, grundsätzlich infrage.

Struktureller Rassismus in der Polizei, in der Bundesrepublik jahrzehntelang tabuisiert, kam als Thema an die Oberfläche. Diesmal nicht nur in Fachzeitschriften und linken Diskursen, sondern es handelte sich um eine breitere gesellschaftliche Entwicklung. Rassismus als etwas, das nicht nur »früher« oder in den USA passierte, sondern jetzt in Deutschland. Rassismus, der nicht nur vom Pöbelmob ausgeht, sondern auch von Polizist*innen: Für diese Positionen brauchte es die Stimmen der Angehörigen und Überlebenden des NSU-­Terrors. Vermutlich wäre die Diskussion über strukturellen Rassismus, die in anderen Ländern wie Großbritannien und den USA nicht erst seit Black Lives Matter, sondern schon viel länger geführt wird, irgendwann auf die eine oder andere Weise auch in Deutschland angekommen. Die Auseinandersetzung mit dem staatlichen Versagen während und nach dem NSU erzeugte jedoch einen politischen Druck, der von Öffentlichkeit, Mehrheitsgesellschaft und Politiker*innen mehr Selbstreflexion und Konsequenzen einforderte.

Medien und Forschung

Auch journalistisch hat der NSU ein beachtliches Echo hervorgerufen; vermutlich wurde noch nie so viel über Rechtsterrorismus recherchiert und geschrieben wie seit 2011. Allerdings erinnert die mediale Aufmerksamkeit der letzten zehn Jahre an die Berichterstattung der späten 1970er und frühen 1980er, in der »Neonazis« und »rechter Terror« immer eine Schlagzeile wert waren und man sich auch gern mal mit einem Bier zu Michael Kühnens Truppe an den Tresen setzte. Damals flaute die Aufmerksamkeit wenig später wieder ab; nun erleben wir eine nachhaltigere Berichterstattung über fast ein Jahrzehnt hinweg. Eine Generation von Journalist*innen hat sich mit langem Atem mit extrem rechter Gewalt beschäftigt und einen beachtlichen Output generiert.

Eine ähnliche Entwicklung gab es in der Forschung: Die Aufmerksamkeit von Wissenschaftler*innen für die extreme Rechte und extrem rechte Gewalt stieg, die Gründung der »Alternative für Deutschland« 2013 und die ab 2015 zunehmenden rassistischen Anschläge hielten die Themen auf der Tagesordnung. Tagungen werden organisiert, Sammelbände publiziert und vor allem in den Sozial- und Geisteswissenschaften herrscht die Meinung vor, man müsse sich der rechten Gewalt nun viel eingehender zuwenden. Diese Entwicklung hat Licht- und Schattenseiten: Es steht zu befürchten, dass mit nachlassendem politischem Druck das Interesse nach einigen Jahren abebben wird. Die Forschung zu Rassismus und Rechtsextremismus ist in der Regel auch nicht strukturell verankert, sondern von externen Geldern abhängig, deren Zufluss wieder versiegen kann. Andererseits zeigen die zahlreichen Studien und Analysen, die mittlerweile zum NSU erschienen sind, ein ernsthaftes Interesse, und gerade die jüngeren Forscher*innen, die sich mit dem Thema befassen, werden, ebenso wie die Journalist*innen, ihren Fußabdruck hinterlassen.

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Mainstream – aber nicht auf der Tagesordnung

Das Thema Rechtsterrorismus ist im Mainstream angekommen, aber nicht in der Politik. Abgesehen von wenigen Ausnahmen bringen Politiker*innen extrem rechte Gewalt immer nur dann auf ihre Agenda, wenn sie es müssen – wenn sie auf Anschläge reagieren oder Gedenkveranstaltungen besuchen. Im Bundestagswahlkampf 2021 war rechter Terror kaum Thema. Diese Haltung ist ein Spiegel dessen, wie wenig jene Bevölkerungsgruppen in der Politik repräsentiert sind, die zum Ziel des Rechtsterrorismus werden. Sie weist auch da­rauf hin, dass die Veränderungen nach zehn Jahren NSU nicht aus gesamtgesellschaftlichen Erschütterungen hervorgegangen sind, auch wenn inzwischen mehr mediale Öffentlichkeit für Rechtsterrorismus existiert. Es waren vielmehr Impulse aus Teilen der Gesellschaft heraus, die einen Wandel gebracht haben, gestärkt von internationalen Entwicklungen wie den Black Lives Matter-Protesten. Die Betroffenen extrem rechter Gewalt und ihre Unterstützer*innen haben sich nach dem NSU eigene Handlungsmacht und Gehör und damit eine neue Rolle verschafft. Erst sie zwangen die Gesellschaft genauer hinzuschauen.