Staatlich geförderte Neonazigewalt
von Lionel C. Bendtner
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 185 - Juli / August 2020
#Thüringen
Die Gewalt von Neonazis in Thüringen kommt nicht von ungefähr. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass Täter*innen nur selten mit Konsequenzen rechnen müssen – mit fatalen Folgen.
Innerhalb von zwei Wochen ereigneten sich in der thüringischen Landeshauptstadt Erfurt zwei brutale Neonaziüberfälle. Mitte Juli griff eine 20-köpfige Gruppe am Hirschgarten in der Innenstadt junger Erwachsene wie aus dem Nichts an und verletzte mehrere Menschen zum Teil schwer. Medienberichte über eine »Massenschlägerei«, die sich lediglich auf die Darstellung der Polizei stützen, machten schnell die Runde. Die Polizei berichtete in ihrer Pressemitteilung von einem »Aufeinandertreffen alkoholisierter Gruppen« und sprach lediglich von »mehreren körperlichen Auseinandersetzungen«, obwohl drei Zivilpolizisten den Übergriff beobachteten, einschritten und selbst leicht verletzt wurden. Erst als die Betroffenen sich in sozialen Medien zu Wort meldeten und äußerten, sie könnten Neonazis und rechte Kampfsportler als Täter identifizieren, begann die Darstellung der Polizei zu bröckeln.
Rassistischer Übergriff vor Neonazizentrum
Nur zwei Wochen später erfolgte ein weiterer Übergriff. Diesmal im Stadtteil Herrenberg im äußersten Südosten Erfurts, der für Neonaziumtriebe schon früher teils überregional Bekanntheit erlangte. In der Nacht zum 1. August 2020 wurden vor einer Immobilie der rechten Szene drei Migranten brutal angegriffen. Einer von ihnen befand sich zwischenzeitlich in einem kritischen Zustand. Infolge des rassistischen Übergriffs nahm die Polizei zwölf Tatverdächtige fest, die am nächsten Tag wieder auf freien Fuß kamen. Mit der Begründung, es bestünde keine Wiederholungs-, Flucht- oder Verdunkelungsgefahr wurden keine Haftbefehle erlassen.
Bei den Tätern soll es sich um Neonazis des in »Neue Stärke e.V.« umbenannten Vereins »Volksgemeinschaft« handeln, die 2015 einen Stützpunkt auf dem Herrenberg etablierten, der unter anderem von den rechten Splitterparteien »Die Rechte« und »Der Dritte Weg« genutzt wurde. Im Gegensatz zum Überfall am Hirschgarten geht die Polizei bei diesem Überfall von einem »fremdenfeindlichen Motiv« aus. Damit wird die Stoßrichtung der Einordnung durch die Ermittlungsbehörden diesmal klarer. Jedoch wurde die Tat nicht verübt, weil die Betroffenen vermeintlich »fremd« waren, sondern weil die Neonazis aus rassistischer Motivation heraus handelten. »Die Fehlbezeichnung des rassistischen Motivs beim Übergriff am Herrenberg als ‘fremdenfeindlich‘ reproduziert zum anderen das Narrativ der Täter, dass es sich bei den Betroffenen um ‘Fremde’ handele, die dabei in eine rassistische Kategorie eingeordnet werden.« So Theresa Lauß von der Mobilen Opferberatungsstelle EZRA.
Antifa rief zur Solidarität auf
Nur elf Stunden nach dem zweiten Überfall versammelten sich am 1. August 450 Personen am Hirschgarten zu einer Demonstration unter dem Motto »Solidarität mit den betroffenen rechter Gewalt – Die Taten beim Namen nennen! Faschistische Angriffe aufdecken und aufklären!«. Vorwiegend junge Menschen aus linken und antifaschistischen Zusammenhängen folgten dem Aufruf, während sich andere zivilgesellschaftliche Gruppen zurück hielten. In den Redebeiträgen wurde deutlich, dass das Problem sich keineswegs auf Erfurt beschränkt.
Immer wieder
Die beiden brutalen Überfälle in Erfurt sind nicht isoliert zu betrachten. Sie sind Bestandteil rechter Kontinuität, die aufgrund fehlender staatlicher Motivation begünstigt wird, die Taten entsprechend einzuordnen und die Täter*innen zur Rechenschaft zu ziehen. Im Februar 2014 überfielen mehr als ein Dutzend Neonazis eine feiernde Kirmesgesellschaft in Ballstädt und verletzten einige Menschen schwer. Im Mai 2017 verurteilte das Landgericht Erfurt neun Männer und eine Frau zu mehrjährigen Haftstrafen, bevor der Bundesgerichtshof in Karlsruhe das Urteil im Juli dieses Jahres wegen gravierender Formfehler aufhob. Der neue Prozess wurde mittlerweile auf das kommende Jahr verschoben, die Täter*innen sind somit seit über sechseinhalb Jahren straffrei. »Die Verfahrensdauer wirkt sich immer auch auf die Strafe aus. Das heißt wir können bei der erneuten Verhandlung nicht mehr mit den Strafen rechnen, die beim ersten Mal ausgeurteilt worden sind«, so Kristin Pietrzyk, Anwältin der Nebenklage im Ballstädtprozess.
Weitere Verfahren wie nach dem Überfall von Neonazis auf das Erfurter Autonome Jugendzentrum (AJZ) im Mai 2016 sind auch nach vier Jahren noch immer nicht vor Gericht eröffnet worden. Damals attackierten Neonazis aus der Gruppe »Kollektiv56« und ihrem Umfeld die AJZ-Besucher*innen mit Pfefferspray und Schlagstöcken. Das Verfahren zu einem weiteren Übergriff im Jahr 2017 am AJZ wurde trotz mehrerer Schwerverletzter eingestellt.
Rechte Ausschreitungen ohne nennenswerte Konsequenzen
Selbige Gruppe soll am 1. Mai 2017 auch maßgeblich an den Ausschreitungen in Apolda beteiligt gewesen sein, bei denen unter anderem die Fensterscheiben einer Versicherungsfiliale eingeworfen und Polizeiautos mit Flaschen und Pyrotechnik angegriffen wurden. Dies zeigt ein im Internet veröffentlichtes Video. Den Ausschreitungen ging ein gescheiterter Aufmarsch in Halle voran, zu dem das »Antikapitalistisches Kollektiv« (AKK) aufgerufen hatte. Die Behörden ermittelten im Nachgang gegen 102 Tatverdächtige wegen Landfriedensbruchs, von denen lediglich eine Person zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Bei den übrigen Verdächtigten wurde kein genügender Anlass zur Klageerhebung gesehen oder von einer Verfolgung abgesehen und die Ermittlungen somit eingestellt. Wegen Sachbeschädigung wurden lediglich zwei Neonazis zu einer Geldstrafe verurteilt – wegen des Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz gerade einmal 16 von 25 Tatverdächtigen. Ein Jahr später kam es in Apolda erneut zu Ausschreitungen. Im Oktober 2018 organisierten Neonazis aus dem Umfeld der »Ballstädt-Schläger« ein RechtsRockkonzert mit rund 700 Teilnehmer*innen in der Stadt. Als die Veranstaltung aufgelöst wurde, griffen zahlreiche Neonazis Polizeieinheiten an und verletzten acht Polizist*innen.
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Bewaffneter Angriff nach Verfolgungsjagd
Ebenfalls im Jahr 2018 wurden bei Fretterode im Eichsfeld zwei Journalisten brutal angegriffen. Die Fenster ihres Autos wurden zerstört, die Reifen zerstochen. Die Täter, die aus dem direkten Umfeld von Thorsten Heise stammen sollen, griffen die beiden Medienschaffenden mit Reizgas an. Mit einem Schraubenschlüssel wurde so heftig auf den Kopf eines Betroffenen eingeschlagen, dass er eine Schädelfraktur davontrug. Sein Kollege wurde mit einem Messer in den Oberschenkel gestochen und seiner Kameraausrüstung beraubt. Auch hier kam es bis heute noch nicht zu einer Anklageerhebung – einer der mutmaßlichen Täter konnte sich in die Schweiz absetzen.
Staatsversagen befördert Neonazigewalt
Das Agieren und die Kommunikationsstrategie von Polizei und Justiz sind ein Schlag ins Gesicht der Betroffenen. Einerseits werden Verfahren verschleppt oder gar eingestellt und anderseits machen Gerichte fatale Fehler, welche die Neonazis in ihrem Tun und Handeln bestärken. Zeitgleich zeigt die Polizei bei ihrer Öffentlichkeitsarbeit deutliche Defizite, indem sie Hintergründe der brutalen Taten verschweigt. Viel zu oft werden die Darstellungen der Ermittlungsbehörden von der Presse einfach unkritisch übernommen. All dies fungiert als Katalysator der Gewalt von Neonazi. Als Konsequenz schwindet das Vertrauen in den Staat, wie der Aufruf zur Demonstration am 1. August 2020 zeigt: »Wir stellen keine Forderungen an Polizei und Justiz, denn sie haben allzu oft gezeigt, dass sie versagen und auch mit Neonazis kooperieren.«