Die Angriffe. Die Ermittlungen. Das Urteil.

von Stephanie Heide
Magazin »der rechte rand« Ausgabe 177 - März / April 2019

#Aryans

Selten agieren gewalttätige Neonazis so enthemmt in der Öffentlichkeit wie es die »Aryans« am 1. Mai 2017 in Halle taten. In einer koordinierten Aktion veranstalteten sie einen regelrechten Jagd-Exzess auf tatsächliche und vermeintliche politische GegnerInnen. Und selten haben Neonazis dann so dreist gelogen und so unverschämt versucht, sich als Opfer darzustellen, wie Anfang des Jahres vor dem Landgericht Halle. Hier mussten sich zwei »Aryans«-Mitglieder für die Angriffe verantworten.

Antifa Magazin der rechte rand
1. Mai 2017 in Halle – ganz rechts auf dem Bild ist Carsten Müller © Stephanie Heide

Am 1. Mai 2017 sollte in Halle (Sachsen-Anhalt) eine überregionale Neonazi-Demonstration stattfinden, doch für die 500 Neonazis wurde der Tag politisch ein »volles Desaster«, wie die Veranstalter nachher eingestehen mussten. Aufgrund der Gegenproteste war es unwahrscheinlich, dass sie auf ihrer Route weit kommen würden. Die meisten TeilnehmerInnen gelangten noch nicht einmal zum offiziellen Sammelplatz, da sie sich weigerten, sich einer polizeilichen Vorkontrolle zu unterziehen. Aus gutem Grund, wie unter anderem die Betreiber des extrem rechten YouTube-Kanals »FSN TV« im Anschluss öffentlich machten. Hatten sie doch »ohne Ende Pyrotechnik, Böller und verbotene Gegenstände dabei.« Letztlich wurde die Versammlung aufgelöst, ohne dass sie auch nur einen Meter weit gekommen waren. Gelegenheiten, die besagten Gegenstände einzusetzen, fanden die Neonazis im Anschluss.

Auftritt der Aryans
Unter den TeilnehmerInnen fiel die etwa 20-köpfige Gruppe der »Aryans« bereits durch ihre identische Bekleidung auf: Sie trugen Pullover mit der plakativen Aufschrift »Aryans – Support your Race«. Bereits direkt nach Beendigung der Neonazi-Versammlung am Bahnhof suchten sie die Konfrontation mit GegendemonstrantInnen, indem sie »Ohne Polizei wärt ihr alle tot« skandierten und einzelne Personen über den Platz jagten. Es war aber erst der Auftakt zu einer gewalttätigen Hetzjagd quer durch Halle. Eine Stunde später schrieb Martina Heinz in einer WhatsApp-Gruppe: »Zecken verdroschen. Autoscheibe von Thomas eingeworfen. Demo erfolgreich.« Die 42-Jährige befand sich zu diesem Zeitpunkt gemeinsam mit ihrem Freund Carsten Müller (40) und weiteren »Aryans«-Mitgliedern auf dem Rückweg nach Hessen.

Angriff Halle-Ost
Was zwischenzeitlich geschah, schilderte ein Geschädigter vor Gericht, der auch als Nebenkläger auftrat: Nach den Gegenprotesten fuhr er mit dem Fahrrad durch Halle-Ost und bemerkte von weitem zwei dunkle Pkw und die Gruppe der »Aryans«. Als er auf zwei andere Fahrradfahrer traf, fuhren die Autos an ihnen vorbei und er hörte jemanden rufen: »Da ist einer!« Bei der anschließenden Flucht verfolgte ihn einer der beiden Pkw – es handelte sich um den Siebensitzer von Carsten Müller aus Linsengericht im Main-Kinzig-Kreis. Aus dem Auto heraus wurde der Fahrradfahrer mit Steinen beworfen und konnte Müllers Freundin Heinz als Werferin gut erkennen. Einer der Steine verletzte ihn am Knie, bevor er entkommen konnte. Auch der andere Fahrradfahrer schilderte die Situation: Auf dem Weg nach Hause begegnete er mit einem Bekannten mehreren Jugendlichen, die warnten, dass »Nazis im Viertel Leute jagen« würden. Dann sah er die Fahrzeuge und hörte Rufe wie »Da sitzt die Sau!«. Ein Feuerwerkskörper flog, begleitet vom Ausruf: »Jetzt geht’s los, ihr Dreckszecken.« Anschließend wurden sie von den Fahrzeugen verfolgt, wobei Steine und Feuerwerkskörper geworfen wurden und die PKW versuchten, ihnen den Weg abzuschneiden. Auf der Flucht zurück zum Bahnhof sah er, wie noch mehr Menschen mit Steinen und Feuerwerkskörpern attackiert wurden. Diesmal warf einer der Angegriffenen einen Stein zurück und traf damit die Heckscheibe des PKWs, der dem 38-jährigen Thomas S. aus dem Kreis Aschaffenburg in Bayern gehörte.

ABO
Das Antifa Magazin

alle zwei Monate
nach Hause
oder ins Büro.

Angriff Holzplatz
Wie die Angriffe weitergingen, schilderten weitere 14 ZeugInnen vor Gericht: Sie gehörten zu einer Gruppe von mehreren Dutzend Personen, die am 1. Mai eine Wanderung unternahmen. Entlang ihrer Route befand sich ein dezentral gelegener Infopunkt von »Halle gegen Rechts«, an dem sich etwa fünf Personen aufhielten. Hier, drei Kilometer vom Bahnhof entfernt, kam die Gruppe gerade vorbei, als plötzlich die beiden Pkw auftauchten und zwei Böller in Richtung des Infostandes und der Wandergruppe geworfen wurden. Alle Zeugen und Zeuginnen beschrieben die Böller später als »lauter als normale Böller«, sogenannte »Polen-« oder »China-Böller«. Mit Hilfe von Fotos eines Journalisten konnten die Angreifer und ihre Fahrzeuge schnell identifiziert werden. Ein Teilnehmer der Mai-Wanderung berichtete dem Gericht, wie er die Explosionen und lautes Gegröle gehört und wenig später die beiden Autos bemerkt hatte. Er sah, wie aus ihnen heraus Steine und kleine Jägermeister-Flaschen flogen und Reizgas versprüht wurde. Seine Freundin wurde durch Reizgas verletzt, er selbst wurde am Kopf getroffen und blutete. Dann stoppten die Autos und eine Person stürmte auf ihn zu. Er versuchte sich zu wehren, doch der Angreifer schlug ihn mehrfach mit einem dicken Stück Starkstrom-Kabel. Dank der Fotos konnte der Schläger schnell als der nun angeklagte Müller identifiziert werden. Er wurde als Rädelsführer beschrieben, der die anderen zum Aussteigen und Mitmachen antrieb. Sein Opfer plagten noch wochenlang Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen, zudem hat er noch immer Angst vor diesem Gefühl, »auf einmal schutzlos« zu sein. Auch seine Freundin hat seitdem mitunter Unsicherheits- und Panikgefühle. Neben dem Paar gab es mindestens vier weitere Verletzte. Die Nazis flohen, nachdem eine Gruppe auftauchte und die Gegenstände zurück auf die Angreifer schleuderte.

Ermittlungen
Bei den Ermittlungen stellte sich heraus, dass die Angreifer aus dem Main-Kinzig-Kreis und Aschaffenburg der dortigen Polizei bestens bekannt waren. 14 Tage nach der Tat wurden Müllers Wohnung und Auto durchsucht, anwesend war auch Martina Heinz. Es wurden unter anderem Festplatten und fünf Mobiltelefone beschlagnahmt. Zwei der Telefone gehörten nicht Müller, sondern seiner Freundin und deren Tochter. In Müllers Auto wurde neben zahlreichen Flaschen auch das Stück Starkstromkabel gefunden, mit dem er in Halle zugeschlagen hatte. In seiner Wohnung wurden verbotene Waffen, Sprengstoff und »Polen-Böller« gefunden. Auch die politische Gesinnung von Müller sei nicht zu übersehen gewesen. »Vorsichtig gesagt, man hat gemerkt, dass das Interesse am Nationalsozialismus sehr groß ist«, fasste einer der Polizeibeamten angesichts der einschlägigen Devotionalien zusammen.

Der Ermittlungsführer der Polizei sagte aus, dass sie die beschlagnahmten Handys zur Auswertung bekamen, um sie nach Daten zu durchsuchen, die eventuelle Pläne und Absprachen offenlegen könnten. Man habe zunächst die Telefone von Heinz sowie ihrer Tochter ausgewertet und bei Heinz passende Protokolle gefunden. Müllers Handys seien dann nicht mehr relevant gewesen, weil bei ihm »die Kommunikation die gleiche, nur andersrum« wäre. Die zuständige Staatsanwältin meinte, er müsse sich die Arbeit nicht machen, da man im Prinzip alles habe, was man brauche. Bei der Auswertung von Heinz‘ Telefon fiel unter anderem auf, dass sie in Nachrichten gern mit »Heil Hitler« grüßte. Auch die zufriedene Nachricht, die sie auf der Rückfahrt geschrieben hatte, wurde gefunden. Deutlich pikanter ist jedoch einer ihrer Chats Anfang 2016. Dort fragte sie einen Bekannten bei der hessischen Polizei nach Informationen aus dem internen Polizeisystem über ihren Freund Müller. Diese erhielt sie ebenso wie zu einer weiteren Person. Der Beamte arbeitet mittlerweile in Niedersachsen und ist wegen Geheimnisverrats angeklagt.

Durchsuchungen bei den bekannt gewordenen Mittätern gab es im Laufe des Verfahrens nicht. Weder beim Halter des zweiten Fahrzeugs, Thomas S., der auch für die Kommunikation zwischen den Autos zuständig gewesen sein soll, noch bei Emanuel B. (26), wie S. aus dem Kreis Aschaffenburg, oder bei Andrew K. (23) aus Offenbach. Gegen alle drei wurde zeitweise als Beschuldigte ermittelt. Auch sie saßen während der Angriffe in den Fahrzeugen und waren erkennbar als »Aryans« in Halle gewesen. Im Prozess traten sie, wie die Neonazis Fabian R. (23) aus Offenbach und Dario C. (29) aus Schönebeck in Sachsen-Anhalt lediglich als Zeugen auf. Die zuständige Staatsanwältin klagte die Angriffe zunächst als »typisches Alltagsgeschäft« vor dem Amtsgericht Halle an, dessen Strafrahmen ausreichend sei. Die »Süddeutsche Zeitung« zitierte sie folgendermaßen: »Die von den Angeklagten gezeigte Aggressivität geht nicht über das hinaus, was bedauerlicherweise im Umfeld sogenannter politischer Veranstaltungen üblich ist.« Ihre Meinung zu den gefundenen Waffen und Devotionalien: »Die Ausgestaltung der eigenen vier Wände, sofern keine Außenwirkung eintritt, ist in der Bundesrepublik Deutschland jedem überlassen (…). Über Geschmack muss man bekanntlich nicht streiten.« Erst auf Initiative der Nebenklage wurde das Verfahren an das übergeordnete Landgericht verwiesen.

Prozess und Urteile
Am Landgericht Halle war man sich der politischen Tragweite der Taten wesentlich stärker bewusst. Das machte die Kammer mit ihren Urteilen und im Strafmaß deutlich. Auch der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft betonte, er werte die gefährlichen Überfälle als verabredete politische Angriffe. Und es stand außer Frage, dass sich alle Beteiligten zweifelsfrei gemeinschaftlich schuldig gemacht hatten, auch wenn nur Müller und Heinz angeklagt wurden.

Carsten Müller wurde wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt, Martina Heinz erhielt eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Wochen auf Bewährung. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Beide waren schon früher wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz und wegen verbotener Grußformeln nach § 86a des Strafgesetzbuches verurteilt worden. Für die Funde in seiner Wohnung wurde Müller wegen des Verstoßes gegen das Waffen- und das Sprengstoffgesetz verurteilt. Ein Teil dieser Strafen wurde in die nun gebildeten Gesamtstrafen einbezogen. Darüber hinaus gibt es ein Urteil vom Oktober 2018 gegen Müller wegen schwerer räuberischer Erpressung sowie länger zurückliegende Urteile wegen Diebstahls. Die Nebenklage kündigte weitere Verfahren an. Zum einen gegen alle fünf Neonazi-Zeugen für deren »durchgängige und dreiste, wahrheitswidrige Aussagen«. Zum zweiten können nun alle bekannt gewordenen Mitfahrer für die gemeinschaftlich begangenen Taten belangt werden. Das betrifft neben den fünf Zeugen auch noch Sven von K., Patrick R. und einen weiteren im Prozess als Mitfahrer benannten Mann.