Mit offenen Armen in die Sackgasse

von Ulli Jentsch und Eike Sanders

Magazin »der rechte rand« Ausgabe 175 - November / Dezember 2018

#Fundamentalismus

Der christlich-fundamentalistische »Marsch für das Leben« zog auch 2018 durch Berlin. Deutlich wurde, dass die größte Veranstaltung der »Lebensschutz«-Bewegung in der Krise steckt – personell und inhaltlich fehlen Impulse und die Zahl der Teilnehmenden nimmt ab. Das sollte aber die Kritik an ihr nicht verflachen. Zumal Positionen der »Lebensschutz«-Bewegung anknüpfungsfähig für Personen aus rechten und extrem rechten Kreisen sind.

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Mechthild Löhr und Alexandra Maria Linder auf der Bühne am 22. September 2018 in Berlin
© Apabiz

Der Berliner »Marsch für das Leben« mit 3.500 (2018) bis 5.000 (2016) Teilnehmenden ist immer noch das zentrale, spektrenübergreifende Event der »Lebensschutz«-Bewegung. Im Gegensatz zu anderen »1000-Kreuze-Märschen«, »Mahnwachen« für die »ungeborenen getöteten Kinder« oder sogenannten »Vigilien für das Leben« präsentiert sich der Berliner Marsch besonders professionell, freundlich und breitenwirksam. Hier laufen KatholikInnen und ProtestantInnen nebeneinander mit weißen Holzkreuzen und Bildern von lachenden Kindern und glücklichen Eltern oder positiven Slogans wie »echte Väter stehen zu ihrem Kind«. Sie betrachten mal skeptisch, mal leicht verängstigt Berlin und die queeren GegendemonstrantInnen und unterhalten sich leise. Es sind ältere Frauen und Männer, einige Nonnen, einige Priester, viele Familien, nicht wenige Jugendgruppen – darunter auch reine Jungsgruppen, die aus dem Internat entsprungen sein könnten, und gemischtgeschlechtliche Jugendgruppen, bei denen die jungen Frauen ihre knielangen Röcke mit Markenschuhen kombinieren. Kein Vergleich zu Münster, wo zuletzt im März die knapp über 100 Teilnehmenden, deren Altersdurchschnitt über dem in Berlin zu liegen scheint, kontinuierlich singend und betend hinter Marienbildern herliefen und bis vor kurz vor dem Ende auf der Strecke auf die Knie fielen. In Salzburg (Österreich) werfen die Teilnehmenden unter der Nennung eines fiktiven – offensichtlich christlich-deutschen – Namens eines »ungeborenen Kindes« und Glockengeläut Rosen in die Salzach. Im sächsischen Annaberg-Buchholz ist der Marsch nicht katholisch-fundamentalistisch, sondern evangelikal geprägt, befindet sich das Erzgebirge doch im sogenannten Bible Belt, wo seit der »Wiedervereinigung« die bibeltreuen Gemeinden enormen Zulauf haben.
In Berlin ist nun eine Abnahme der Teilnehmendenzahlen um fast ein Drittel auch bei den fragwürdigen Zahlen des organisierenden »Bundesverbands Lebensrecht« (BVL), der von 5.500 Teilnehmenden spricht, amtlich. Der Schwund war zu erwarten und ist auch mit der die kirchlichen Gemeinden spaltenden Frage »Wie hältst du es mit der AfD?« zu begründen, die – neben der Überbetonung der (vermeintlich gewaltvollen) Gegenproteste – in Zeiten von PEGIDA und Chemnitz demobilisierend wirkt. Die »Sorge, in einen Topf mit ‹Rechten› geworfen zu werden« erkannte selbst BVL-Vorsitzende Alexandra Maria Linder als Grund, dem Marsch fern zu bleiben. Und tatsächlich haben dieses Jahr die queer-feministischen Gegenproteste zusammen mit Reclaim Club Culture schon am Vorabend rund Tausend TeilnehmerInnen trotz Regens auf die Straße gebracht und demonstrierten und sangen auch am Samstag mit mehreren Hundert Menschen an verschiedenen Punkten gegen die AbtreibungsgegnerInnen. Die vom Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung veranstaltete Demonstration konnte 1.500 Menschen mobilisieren, die sich später den Blockadeversuchen anschlossen. Auch in anderen Städten sind selbst bei kleinen Aktionen der »Lebensschutz«-Bewegung feministische Gegenproteste selbstverständlich geworden.

Relativierungen, »Zeugnisse« und Jugendlichkeit
Personell und strategisch ist die »Lebensschutz«-Bewegung in die Defensive geraten. Während sie noch 2016 offensiv den »Kulturkampf« ausrief, wurden dieses Jahr akute Themen wie der § 219a und der Praena-Test nur en passant gestreift. Geradezu beschwichtigend wirkte vor allem die Rede der Vorsitzenden der »Christdemokraten für das Leben« (CDL), Mechthild Löhr: »Oft sieht es so aus, als ob, und das sagen ja auch unsere Kritiker hier bei den Gegendemonstrationen, unser Bekenntnis zum Leben des Kindes ein Anschlag auf die Rechte der Frau ist. Nein! Wir kennen zwei Lebensrechte (…). Die Gesetzeslage in Deutschland ist eigentlich so, dass wir auch keine Strafverschärfung brauchen, sondern was wir brauchen ist eine bessere Aufklärungspolitik, bessere Hilfe, um viel mehr Kinder zu retten.« Der Applaus war nur verhalten, wird aus den sonstigen Publikationen der »Lebensschutz«-Bewegung doch sehr deutlich, dass sie sich eigentlich ein Totalverbot von Schwangerschaftsabbrüchen wünscht.
Daneben zeigten viele Reden eine Rückbesinnung auf den bewährten Fokus auf Betroffenheitsberichte. Zunächst erzählte, moderiert von der BVL-Vorsitzenden Linder und dem Generalsekretär der evangelikalen »Deutschen Evangelischen Allianz«, Hartmut Steeb, die für die »Aktion Lebensrecht für Alle« (ALfA) tätige Referentin und Beraterin Sandra Sinder aus Düsseldorf von ihrer Arbeit. Danach erläuterte die Küsterin Elisabeth Rugaju aus Köln beziehungsweise Uganda ihre Entscheidung, auch das dritte Kind zu bekommen, schließlich standen ein Pianist aus Israel und dessen Frau auf der Bühne, um »Zeugnis abzulegen«: Seine Mutter war erst 16, als sie ihn bekam und seine vorherige Freundin trieb ohne sein Wissen ab. Hier inszenierte sich ein Mann als Betroffener von Abtreibungen, was in den aus den USA kommenden Diskurs von der kollektiven Traumatisierung durch Abtreibungen und den auch hier verbreiteten Väterrechtsdiskurs passt.
Der zweite Schwerpunkt lag auf der immer leicht bemüht wirkenden Inszenierung der Jugend als neue Pro-Life-Generation. Cornelia Kaminski (CDU Hessen, CDL und ALfA), Linder und Steeb holten zwischenzeitlich sechs Jugendliche auf die Bühne. Es sprach auch Bethany Janzen, regionale Koordinatorin der »Students for Life of America«, die nach eigenen Aussagen der österreichischen »Jugend für das Leben« helfen will, die »pro-life generation in Europe« aufzubauen. Erstmalig predigte, neben dem Berliner Weihbischof Matthias Heinrich, ein evangelischer Bischof auf dem Abschlussgottesdienst: Der Greifswalder Hans-Jürgen Abromeit stellte die ungewollte Schwangerschaft als »eine Nagelprobe auf die Solidarität der Gesellschaft« dar. Man müsse, so Abromeit, nur genügend füreinander einstehen. In der heilen Welt dieses Kirchenmannes kommt moralischer Druck, gerade von der Kirche und der »Lebensschutz«-Bewegung gern als »Gewissensentscheidung« individualisiert, offenbar so wenig vor wie die freie Entscheidung gegen ein Austragen der Schwangerschaft.

Finde die AfD oder inhaltliche Kritik
Die derzeitige gesellschaftliche Präsenz feministischer Kämpfe wie die Forderung nach der Abschaffung des »Werbeverbot« genannten § 219a, der festgestellte Mangel an Abtreibungen vornehmenden ÄrztInnen und der Aufschwung einer sich radikalisierenden »Alternative für Deutschland« (AfD) hatten im Verlauf des Jahres eine kritische Auseinandersetzung mit der »Lebensschutz«-Bewegung in die öffentliche Wahrnehmung gerückt. Viele antizipierten eine steigende Präsenz von AfD-Prominenz. Doch offensichtlich war es selbst für Beatrix von Storch wichtiger, eine Veranstaltung in Weitnau (Allgäu) durchzuführen, Martin Hohmann (MdB) war zwar anwesend, doch bekannte Gesichter fehlten in den vorderen Reihen des Marsches. Nichtsdestotrotz sahen die Christen in der AfD sowohl vorab als auch in den Berichten danach den Marsch ungebrochen oder gar verstärkt als Identifikations- und Agitationsfeld.
Alexandra Linder hatte im Vorfeld betont, es sei das demokratische Recht aller am »Marsch für das Leben« teilzunehmen, »aus Kirchen oder Parteien, welcher Couleur auch immer«. Niemand aus dem OrganisatorInnen-Team machte Anstalten, sich des Problems der Anwesenheit von Ralf Löhnert anzunehmen. Auch in der Nachberichterstattung wird es von Seiten der Bewegung verschwiegen. Denn Löhnert ist nicht nur auf »Lebensschutz«-Märschen, sondern auch auf neonazistischen Heß-Gedenkdemonstrationen anzutreffen (vgl. Artikel zu Ralf Löhnert auf www.apabiz.de). Ein Blick in die Schweiz, wo zuletzt die offene Mobilisierung der extrem rechten »Partei national orientierter Schweizer« (PNOS) für Aufsehen gesorgt hatte, verdeutlicht, wie fragil eine Einladungspolitik ist, die sich nicht zwischen offenen Armen für alle und Abgrenzung nach Rechtsaußen entscheiden mag.

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Teilnehmer Ralf Löhnert (Mitte) beim Marsch-Gottesdienst
© Apabiz

Eine solche Aufmerksamkeit von der extremen Rechten bekam der Berliner Vorzeigemarsch bisher freilich nicht. Zwar liefen in den vergangenen Jahren Mitglieder von CDU und AfD nebeneinander an der Spitze des Marsches, dominiert haben letztere ihn jedoch nicht.
Beim Schweigemarsch für das Leben im sächsischen Erzgebirge unter der Leitung von Thomas Schneider ist das sicherlich anders: Schneider, langjähriger Landesvorsitzender der CDL und Mitbegründer der »Aktion Linkstrend stoppen«, verließ 2014 die Partei, um sich der AfD zuzuwenden, die er offensiv bewirbt – ohne jedoch bisher als Mitglied oder gar Funktionär hervorgetreten zu sein. Schneider schrieb auf seinem inzwischen nicht mehr existenten Facebook-Profil am 11. Februar 2016: »Ich werde, solange es keine Alternative gibt, die Alternative für Deutschland AfD wählen. Mir bleibt keine andere Wahl.« Auf seiner Homepage sind ein Großteil der geteilten Nachrichteninhalte Artikel aus der extrem rechten Wochenzeitung »Junge Freiheit« oder der evangelikalen Wochenzeitschrift »IdeaSpektrum«, vornehmlich zu Islam, »Gender« und AfD. Schneider arbeitet für ein evangelikales Konglomerat aus Medienvereinen, wie die AG Welt (»Arbeitsgemeinschaft Weltanschauungsfragen e. V.«), das seit Beginn 2018 die Kampagne und Online-Karte »Keine Moschee in meiner Stadt« betreibt.
Es sind diese inhaltlichen und personellen Schnittstellen und Kongruenzen, die der »Bundesverband Lebensrecht« unsichtbar halten will. Jedes Jahr hat er rigider durchgesetzt, dass fast ausschließlich die

Einheitsplakate und -schilder gezeigt werden dürfen.
So bleibt die Präsenz extrem rechter Personen nur für JournalistInnen und RechercheurInnen sichtbar und kann vom BVL und den Teilnehmenden ignoriert oder klein geredet werden. Wie von der Vorsitzenden Linder, die bei einem Interview mit JFDA (»Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e. V.«) am Rande des Marsches behauptete, die homo*feindlichen Positionen des BVL-Mitgliedsvereins »pro conscientia e. V.« seien »nicht unsere Baustelle«. Für die emanzipatorische Gegenseite hingegen gilt es in Erinnerung zu behalten, warum man den »Marsch für das Leben« politisch bekämpfen muss: Die »Lebensschutz«-Bewegung vertritt reaktionäre, christlich-fundamentalistische Positionen und ein Weltbild, das feministische und queer-politische Errungenschaften akut bedroht. Nicht die Präsenz einzelner AfD-PolitikerInnen ist somit das Problem, sondern die Agenda der Bewegung an sich.

Lahmende Lobby »Lebensschutz«-Bewegung

von Eike Sanders

 

Ein Streifzug durch die Medien der christlichen Rechten

von Ulli Jentsch und Eike Sanders

 

 

Antifaschistisches ´Magazin der rechte rand Ausgabe 170

Wir müssen reden:
Christen und die Rechte
© Roland Geisheimer / attenzione