Das Experimentierfeld für den Aufstand
von Ida Campe & Tim Mönch
Magazin "der rechte rand" Ausgabe 173 - Juli / August 2018 - OnlineOnly
#Chemnitz
An zwei aufeinanderfolgenden Tagen kam es in Chemnitz zu neonazistischen Ausschreitungen. Am Sonntag und am Montag reiste innerhalb kürzester Zeit eine vierstellige TeilnehmerInnenzahl an. Die erfolgreiche Mobilisierung zeigt, wie schnell durch den Einsatz von Social Media und unbestätigten Gerüchten ein hasserfüllter Mob zusammengetrommelt werden kann.
Schon kurz nachdem am Sonntagvormittag des 26. August 2018 bekannt wurde, dass in der vergangenen Nacht ein 35-Jähriger Mann in Chemnitz erstochen worden war, veröffentlichte die rechte Hooligangruppe »Kaotic Chemnitz« einen Aufruf auf ihrer Facebookseite. Alle Fans und SympathisantInnen des Fussballvereins »Chemnitzer FC« sollten sich um 16.30 Uhr in der Chemnitzer Innenstadt treffen, um zu zeigen, wer in der Stadt »das Sagen« habe. Die Hooligangruppe existiert seit zehn Jahren und ist der nationalistische Nachwuchs der »NS Boys«, einer bis heute aktiven neonazistischen Fangruppe des »Chemnitzer FC«. Zwischen den Gruppen gibt es personelle Überschneidungen, genauso wie in andere rechte Strukturen der Stadt. Aufgrund verschiedener Vergehen ist die Gruppe seit 2012 mit einem Erscheinungsverbot in Stadien bei Heim- und Auswärtsspielen belegt.
Dass der Aufruf auf die Solidarität in der Fußballszene setzte, führte letztlich dazu, dass am Sonntagnachmittag zunächst etwa. 400 Personen an das Karl-Marx-Monument kamen. Während die Polizei noch mit Teilnehmern über die nichtangemeldete Versammlung diskutierte, setzte sich die Gruppe, die meisten davon aus Chemnitz und Umgebung, unvermittelt in Bewegung. Angeführt von den Hooligans der »Kaotics« sowie Patrick Gentsch, einem zugereisten NPD-Kader aus
Meerane, zog der Mob durch die Innenstadt. Auf Versuche der Polizei, den Aufmarsch zu stoppen, änderte die Gruppe wiederholt die Richtung und durchbrach mehrere Polizeiketten. Die Gruppe wuchs schnell auf bis zu 1000 TeilnehmerInnen an, als noch anwesende BersucherInnen des gerade erst abgebrochenen Stadtfestes dazustießen. Immer wieder wurde auf Kommando der Anführer die Strecke geändert und es kam zu Bedrohungen und Übergriffen entlang des Weges. Auf der Chemnitzer Bahnhofstraße fand eine regelrechte Hetzjagd auf MigrantInnen statt, bei der diese geschlagen und getreten und Augenzeugenberichten zufolge von den Neonazis in den offenen Straßenverkehr getrieben wurden. Nach etwa einer Stunde kam der unkontrollierte Mob wieder an seinen Startpunkt zurück und erneut gingen TeilnehmerInnen gezielt auf MigrantInnen im angrenzenden Stadthallenpark los. Nach den letzten Übergriffen verstreute sich der Großteil der AngreiferInnen in der Innenstadt, nur eine Gruppe von etwa 150 Hooligans blieb am Karl-Marx-Kopf stehen und beglückwünschte sich zur gelungenen Machtdemonstration. Am Abend wurde der Aufruf wieder von der eigenen Facebookseite gelöscht, wohl aus Angst vor Repression.
Schon bevor die Gruppe der Hooligans am Sonntag durch Chemnitz zog, wurde im Netz ein Aufruf der extrem rechten Partei »Pro Chemnitz« zu einer Kundgebung am darauffolgenden Tag verbreitet. Man wolle »die Zustände« nicht mehr hinnehmen und ein Zeichen setzen, hieß es in dem Aufruf auf Facebook, der bis zum Beginn der Kundgebung über 2000 mal geteilt worden war. Unter anderem kündigten bekannte Kader der »Nationaldemokratischen Partei Deutschland« (NPD) wie Sebastian Schmitdke, Patrick Wieschke oder Tommy Frenck ihr Kommen an und forderten ihre Gefolgschaft auf, es ihnen gleich zu tun. Außerdem wurde die Veranstaltung von Seiten der Neonazi-Partei »Der III. Weg« und führenden Köpfen der faschistischen »Identitären Bewegung« (IB) verbreitet.
Dem Aufruf der Lokalpartei »Pro Chemnitz«, die mit drei Sitzen im Stadtrat vertreten ist und die in der Vergangenheit schon rassistische Proteste gegen Geflüchtetenunterkünfte organisiert hatte, folgten bis zu 8000 TeilnehmerInnen. Darunter Mitglieder der NPD, ihrer Jugendorganisation »Junge Nationaldemokraten« (JN), »Der III. Weg«, der IB und rechte Hooligans verschiedener Vereine. Zudem erschienen Kameradschaften, Neonazis ohne festen Anschluss und Kader, die normalerweise im Hintergrund agieren, wie die Organisatoren des Chemnitzer Rechtsrocklabels »PC-Records« Henrik Lasch und Yves Rahmel. Dieser Querschnitt der rechten Szene vermischte sich mit rechten BürgerInnen und Mitgliedern extrem rechter Heimatvereine wie der »Heimattreuen Niederdorf« oder »Unsere Heimat – Unsere Zukunft e.V.« unter Führung des Ex-NSC Kaders Maik Arnold, die beide aus dem Chemnitzer Umland stammen. Die Vereine haben personelle und ideologische Überschneidungen ins neonazistische Spektrum. Auch aus dem restlichen Bundesgebiet reisten Neonazis nach Chemnitz, wie der Thüringer David Köckert (Die Republikaner) oder Mitglieder der Partei »Die Rechte« aus Dortmund.
Die Mobilisierung von »Pro Chemnitz« funktionierte unter anderem deshalb so gut, weil das bereits emotional aufgeladene Thema eines getöteten Menschen mit Falschmeldungen weiter angefüttert wurde. Neben der unbestätigten und später von der Polizei dementierten Meldung eines zweiten Verstorbenen wurde auch die Meldung verbreitet, dass es vor der Messerstecherei einen Übergriff auf eine Frau gegeben habe und das spätere Opfer interveniert habe, obwohl die Polizei auch dies dementierte und darum bat, derartige Spekulationen zu unterlassen.
Durch die weitere Anheizung des Themas wurde der Aufruf innerhalb weniger Stunden zahlreich verbreitet. Tausende Facebook-Seiten, die täglich Meldungen zu vermeintlicher Gewalt durch Ausländer oder andere rassistische Inhalte verbreiten, teilten den Aufruf und waren so für die immense Reichweite verantwortlich. Auch Mitglieder der Alternative für Deutschland (AfD) wie beispielesweise der Brandenburger AfD-Chef Andreas Kalbitz riefen zur Teilnahme am Aufmarsch auf.
Was sich am Montag während den Ausschreitungen in Chemnitz zeigte, war der Schulterschluss extrem rechter Gruppen aus ganz Deutschland – und damit ein Novum. Sollten diese Gruppen es schaffen, tatsächlich mehr als einmal ihre ideologischen Streitigkeiten zu vergessen, besteht die Möglichkeit einer gefährlichen rechten Sammelbewegung, die aus den Ereignissen der zwei Tage in Chemnitz mit noch größerem Selbstbewusstsein hervorgeht.
Ihr Ziel ist ein Kontrollverlust und der Zusammenbruch der staatlichen Ordnung. In der Hoffnung auf eine Aufstandssituation erträumen sich in Chemnitz Neonazis und vermeintliche RechtspopulistInnen gemeinsam den Zusammenbruch der Demokratie.