Thesen zum Urteil

von Björn Elberling
Magazin "der rechte rand" Ausgabe 173 - Juli / August 2018 - OnlineOnly

#KeinSchlusstrich

Am Mittwoch, 11. Juli 2018 sprach das Oberlandesgericht München sein Urteil im ersten Verfahren zum »Nationalsozialistischen Untergrund«. Ein Versuch einer ersten Einschätzung.

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NSU Komplex auflösen. Kundgebung in München.

Das Urteil liegt ganz auf Schlussstrich-Linie
Als Ergebnis der juristischen Auseinandersetzung um den NSU-Komplex ist das Urteil ein Rückschlag. Das gilt zum einen wegen des weitgehenden Freispruchs des langjährigen engsten Vertrauten des NSU-Kerntrios, André Eminger und wegen der Aufhebung des Haftbefehls gegen ihn unter Beifall seiner angereisten Neonazi-Kameraden. Dieser Teilfreispruch ist nicht etwa ein Sieg des Rechtsstaats, der zu beklatschen wäre, wie dies einige in der Presse tun. Denn die Begründung des Teilfreispruchs ist auch juristisch falsch, ignoriert sie doch große Teile der Erkenntnisse aus der Hauptverhandlung und stützt sich ausgerechnet auf die windigen Geschichten von Beate Zschäpe, der das Gericht sonst zu Recht kein Wort glaubt.

Fritz Burschel hat sich mit diesem Teil des Urteils intensiv beschäftigt.

            »»»   Vorzugsbehandlung für einen Terrorhelfer

Für die weitere Aufarbeitung des NSU-Komplexes noch viel drastischer ist aber, dass das Gericht, wie die Bundesanwaltschaft, die Trio-These vertritt und damit der Erzählung, mit dem Urteil sei die Causa NSU aufgearbeitet, Vorschub zu leisten versucht: Der NSU habe sich schon 1998 weitgehend von seinen alten Vertrauten abgeschottet – behaupten die RichterInnen entgegen der Aussagen vieler ZeugInnen, die einen engen Kontakt der Chemnitzer Szene zu den »Untergetauchten« schilderten. Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos hätten allein die Ausspähungen möglicher Tatopfer vorgenommen, schildert das Gericht ausführlich – was nicht nur für seinen Urteilsspruch völlig überflüssig ist, sondern auch mit der Lage der Tatorte und den Inhalten der Ausspähnotizen kaum in Einklang zu bringen ist, wie die Nebenklagevertreterin Seda Basay-Yildiz in ihrem Plädoyer ausführlich dargestellt hat.

                    »»»   „Es muss weiter ermittelt werden“

Auch der Polizei stellt das Gericht einen Persilschein aus: Hinweise auf den Aufenthaltsort der »Untergetauchten« oder auf deren mögliche Beteiligung an den Taten habe es nicht gegeben, behauptet es – wiederum im kompletten Gegensatz zu den Erkenntnissen aus der Hauptverhandlung und der zeitgleich einberufenen diversen Untersuchungsausschüsse. Da ist es fast ein Segen, dass das Gericht zur Rolle des Verfassungsschutzes in der Urteilsbegründung schlicht gar nichts ausgeführt hat.

Der Kampf um die Deutungshoheit geht weiter
Das Gericht hat sich also als Staats-Schutz-Senat im Wortsinne betätigt – kein Wunder, dass viele Überlebende des NSU-Terrors sein Urteil als schweren Schlag empfinden. So hat etwa Familie Yozgat mitgeteilt, dass sie das Urteil nicht akzeptieren werde, und Elif Kubasik hat dem Gericht einen ironischen Dank ausrichten lassen unter anderem für die milden Urteile gegen André Eminger und Ralf Wohlleben:

»Das ist eine Ermutigung
der Naziszene, mit der ich mich
fast jeden Tag in Dortmund
auseinandersetzen muss.«

Demgegenüber ist der Kampf um die Deutungshoheit außerhalb des Gerichtssaals noch lange nicht verloren und wird der Schlussstrich zum Glück nicht zu ziehen sein. Zu deutlich waren die während des Verfahrens zu Tage getretenen Hinweise auf die Eingebundenheit des NSU in die größere Neonazi-Szene, zum institutionellen Rassismus in den Ermittlungsbehörden und zur Rolle des Verfassungsschutzes, beginnend mit der Finanzierung des »Thüringer Heimatschutzes« über V-Leute und endend mit der Beseitigung von Akten und der Sabotage der Aufklärung im Gericht.
Zu laut waren auch die Stimmen der Angehörigen, die nicht zuletzt in ergreifenden Plädoyers deutlich machten, dass es für sie eben nicht nur um die Verurteilung der wenigen Angeklagten, sondern um umfassende Aufklärung ging. Zumal diese Forderung unter der griffigen Parole »Kein Schlussstrich« von vielen solidarischen Menschen aufgegriffen wird, aktionistisch unter anderem mit Straßenumbenennungen im Vorfeld des Urteils, mit einer ganztägigen Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude, mit einer von NSU-Überlebenden angeführten Demonstration von etwa 6.000 Personen nach dem Urteil in München und mit vielen weiteren »Kein Schlussstrich«-Demonstrationen in vielen deutschen Städten.
Folglich fand sich – neben allem »Qualitätsjournalismus« zu »Was bedeutet lebenslang für Zschäpe?« – die Forderung »kein Schlussstrich« in der Berichterstattung aller Medien am Urteilstag prominent wieder; selbst Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sah sich gezwungen, zu verlautbaren, das Urteil könne »keinen Schlusspunkt« für das Thema bedeuten. Die Versuche etwa der Bundesanwaltschaft, im Sinne der Staatsräson das Thema NSU für erledigt und die Fragen der Überlebenden zum »Fliegengesurre« zu erklären, sind damit vorerst gescheitert – auch wenn das Gericht sich ihnen faktisch angeschlossen hat.
Es erscheint aber fraglich, ob das so bleiben wird, ob die berechtigten Forderungen der Überlebenden auch weiterhin im Interesse der Öffentlichkeit bleiben werden. Dies gilt umso mehr, als der NSU-Prozess genau in die Zeit des beängstigenden Rechtsrucks der Gesamtgesellschaft fällt – wie soll man sich darüber freuen, dass auch »Die Zeit« die Forderung »Kein Schlussstrich« verstanden hat, wenn dasselbe Blatt gleichzeitig »nur mal fragt«, ob man gekenterte Geflüchtete im Mittelmeer nicht vielleicht doch lieber ertrinken lassen sollte.

Antifa bleibt Handarbeit…
Die antifaschistische Bewegung – in all ihren Facetten – kann mit dem Urteil des Münchner Oberlandesgerichts das bestätigt sehen, was sie eigentlich schon lange weiß: Im Kampf gegen Neonazis kann man sich auf die Institutionen dieses Staates eben in aller Regel nicht verlassen. Die weitere Aufklärung des NSU-Komplexes, der Kampf gegen institutionellen Rassismus, der Kampf für die Auflösung des Verfassungsschutzes, ganz allgemein der Kampf gegen den unerträglichen Rechtsruck und die alltägliche rassistische Gewalt, muss eben weiterhin vor allem von Bewegung und Zivilgesellschaft, von engagierten JournalistInnen und PolitikerInnen geführt werden.
Insofern ist das wichtigste Ergebnis des NSU-Prozesses eben nicht das Urteil des Gerichts – sondern es sind die vielen Erkenntnisse aus dem Verfahren wie aus den Untersuchungsausschüssen, aus Recherche und investigativem Journalismus.

… und: Fasizme Karsi Omuz Omuza – Schulter an Schulter gegen den Faschismus!
Und es sind die ausdrucksvollen Demonstrationen der Solidarität mit Betroffenen rassistischer Gewalt, es ist das Hören auf die Stimmen der vom Rassismus Betroffenen.
Vor 2011 hatte auch die mehrheitlich weiße deutsche Antifa-Bewegung die Ceská-Morde nicht als das erkannt, was sie waren, war die türkeistämmige Community bei ihren Demonstrationen „Kein 10. Opfer“ im Jahr 2006 weitgehend allein gelassen worden. Diese Woche in München liefen Angehörige der Mordopfer und Überlebende des Anschlags auf die Kölner Keupstraße an der Spitze eines breiten Demozugs.
Die Antifa-Bewegung hat gelernt, dass die Perspektive der Betroffenen rassistischer Gewalt ein wichtiger Aspekt ihrer politischen Arbeit sein muss, dass die Betroffenen »die eigentlichen Experten in Sachen Rassismus« (Ibrahim Arslan, Überlebender des Brandanschlags von Mölln 1992) sind. Sie muss und wird diese Lehren auch in Zukunft beherzigen.

Björn Elberling ist Rechtsanwalt, Nebenklagevertreter im Verfahren sowie einer der Autoren des Blogs mit Berichten zum Prozess in deutscher, türkischer und englischer Sprache.

                                   »»»   Nebenklage NSU-Prozess

 

der rechte rand Magazin

Antonia von der Behrens (Hrsg.)
Kein Schlusswort
Nazi-Terror
Sicherheitsbehörden
Unterstützernetzwerk
Plädoyers im NSU-Prozess
328 Seiten | Hardcover | 2018 | EUR 19.80
ISBN 978-3-89965-792-0

Kein Schlusswort Die AutorInnen:
Elif und Gamze Kubasik, Muhammet Ayazgün sowie Arif S. sind Hinterbliebene bzw. Verletzte des NSU-Terrors.
Die AnwältInnen Antonia von der Behrens, Dr. Björn Elberling, Berthold Fresenius, Alexander Hoffmann, Carsten Ilius, Stephan Kuhn, Angelika Lex, Dr. Anna Luczak, Sebastian Scharmer und Dr. Peer Stolle sind bzw. waren Nebenklagever­treterInnen im NSU-Prozess.
Das Vorwort stammt von Wolfgang Kaleck, dem Generalsekretär des European Center for Consti­tutional and Human Rights..