Gegen Aufklärung und Gleichheit

von Ernst Kovahl
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 195 - März / April 2022

#Herrschen

Was ist reaktionäre Politik und welche Bedeutung hat diese Denk-Tradition heute in der deutschen Rechten?

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© Mark Mühlhaus | attenzione

Schlips, Sakko mit Karos, brauner V-Kragen-Pullover und Einstecktuch: Der Schauspieler der Reihe »Klassiker des Herrenwitzes« in der »Harald Schmidt Show« war für seine Rolle passend eingekleidet worden. Das Image des bürgerlichen Spießers mit gehobenem Einkommen und reaktionärem Weltbild. Der »gepflegte Herrenwitz« oder das Verhöhnen und Lächerlichmachen von prominenten Frauen in der Politik oder Wirtschaft anhand von körperlichen Merkmalen, scheinbaren Kompetenzmängeln oder vermeintlich unangebrachter Kleidung ist heute wahrscheinlich eine der verbreitetsten Formen, wie sich reaktionäre Vorstellungen artikulieren – und das gleich in doppelter Hinsicht: Zum einen haben in diesem Weltbild Frauen höchstens in Ausnahmefällen als eigenständige und einflussreiche Personen etwas in der gehobenen Gesellschaft und in führenden Positionen verloren, genau so wenig übrigens wie Arbeiter*innen oder Nicht-Akademiker*innen. Das Recht zum Herrschen und Führen hat nur eine Elite. Demokratie – also die Herrschaft der Masse – ist für Reaktionäre nur der Ausnahmezustand von einer naturgegeben Ordnung. Zum anderen wird die Abwertung des gesellschaftlich Unerwünschten durch vermeintliche Witze selbst als eine Form des Widerstands gegen die heutige Gesellschaft verstanden – also als eine Reaktion auf Modernisierung.

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Oben und unten
Reaktionäre Politik, das ist – erst einmal begrifflich eng gedacht – die Ablehnung von Modernisierung und progressiven Veränderungen der Gesellschaft. Leitend für diese Vorstellung ist, dass vermeintlich immerwährende Werte die Welt leiten.
Für Reaktionäre ist die heutige Welt unverständlich und auf absehbare Zeit sowie auf demokratischem Weg nicht zu verändern. Ihr Unverständnis auf den Punkt gebracht: Es könne doch nicht gesellschaftliche Realität sein, was die Natur, die Tradition oder der Glaube nicht vorgesehen haben. »Das Konservative, das Rechte, das Reaktionäre, das Unzeitgemäße, das Widerständige, das Immergültige muß gestärkt werden – in der AfD genauso wie gesamtgesellschaftlich«, schrieb Götz Kubitschek 2014 auf dem Blog seiner Zeitschrift »Sezession«. Den Begriff des »Reaktionären« reihte er wie selbstverständlich ein zwischen dem Konservatismus und der Rechten. Jahrzehntelang stellte er für die radikale Rechte keinen Bezugspunkt dar. Vielmehr nutzten ihn »Nationalrevolutionäre« in den 1970er Jahren sogar als Abgrenzung gegenüber der NPD, der eine reaktionäre Politik vorgeworfen wurde; gemeint waren rechtes Spießbürgertum und biedere Formen der Politik. Seit einigen Jahren ist der Begriff in der »Neuen Rechten« dagegen wieder en vogue. Es sei der Widerstand gegen das Moderne und der in der heutigen Gesellschaft zurückgezogen gelebte Widerstand gegen die Errungenschaften, die sich aus den Ideen der französischen Revolution ergeben haben: Die Idee der Aufklärung, der Solidarität, Freiheit und Gleichheit. Heino Bosselmann, ein Dauerautor der »Sezession«, brachte diese Haltung 2014 auf den Punkt: »Es ist das Vorrecht des Reaktionärs, sich innerlich widerwärtigen Zeitläufen zu verweigern, auch wenn er in dieser Haltung immer skurriler und absurder wirkt.« Reaktionäre Haltung heute, das sei die Sezession von der modernen Welt.

Im Kern richtet sich reaktionäre Politik gegen die Errungenschaften und Ziele der Französischen Revolution von 1789. Es ist die Gegen-Revolution gegen »Liberté, Égalité, Fraternité« (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit). Hier wurzelt der Begriff, unter dem später Adel, Kleriker und bürgerliche Monarchisten zusammengefasst wurden, die sich gegen die radikalen Vertreter der Revolution, die Jakobiner, stellten und ein Zurück zur alten Herrschaft wollten. Das deutsche Bürgertum stand schon damals der Durchsetzung der Ziele der Revolution ablehnend gegenüber. Während bürgerliche Rechte und eine Emanzipation gegenüber Klerus und Fürsten aufgegriffen wurden, wurde die Ausweitung auf breitere Schichten bekämpft. Später, zum Scheitern der deutschen Revolution 1848/49, schrieb der Dichter Heinrich Heine, sie sei auf »Dummheit, Feigheit und politische Mittelmäßigkeit ihrer intellektuellen Wortführer« zurückzuführen. Es sei nicht gelungen, die politischen Forderungen mit den »sozialen Anliegen der Massen des Kleinbürgertums, der Bauern, Handwerker und Arbeiter zu verknüpfen«, wie es in Frankreich den Jakobinern gelungen sei. Das Bürgertum – zumindest Teile davon – war also in Deutschland in einer reaktionären Rolle, die eine tatsächliche Entwicklung im Sinne der französischen Revolution verhinderte.

Internationaler Zirkel
Die radikale Rechte – gerade auch im Umfeld der Vordenker des Faschismus – griff den Begriff der Reaktion spätestens in den 1930er Jahren wieder positiv auf. So schrieb der in der radikalen Rechten einflussreiche italienische Philosoph Julius Evola damals: »Nach unserer Überzeugung ist eine wahre Reaktion gegen den liberalistischen Verfall nur auf der Grundlage der traditionellen Grundsätze von Hierarchie, Aristokratie und Königtum möglich.« Und dennoch fand der Begriff später nicht zentral Eingang in beispielsweise das Kompendium »Die Konservative Revolution in Deutschland 1918 – 1932«, das rückwirkend aus den antidemokratischen Denkern der Zwischenkriegszeit im Umfeld des erstarkenden Faschismus eine scheinbar kohärente Denkschule konstruierte. Auch in zentralen Werken von beispielsweise Karlheinz Weißmann (»Alles was recht(s) ist. Ideen, Köpfe und Perspektiven der politischen Rechten«, 2000) oder in Caspar von Schrenk-Notzings in der Rechten verbreiteten »Lexikon des Konservatismus« (1996) findet der Begriff keine herausgehobene Verwendung.

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Buch über das “Institut für Staatspolitik” und die Faschist*innen des 21. Jahrhunderts erschien 2020 und ist im Buchhandel erhältlich.

Über den kolumbianischen Philosophen und in Abgeschiedenheit wirkenden Privatgelehrten Nicolás Gomez Dávilla (1913–1994) fand eine explizit reaktionäre Denkschule wieder stärker Eingang in die radikale Rechte in Deutschland, vor allem die »Neue Rechte«. Sein Begriff des Reaktionären unterschied sich vom Konservatismus oder Faschismus, es zielte auf das Ewige: »Der Reaktionär ist nicht der nostalgische Träumer abgeschaffter Vergangenheiten, sondern der Jäger heiliger Schatten auf den ewigen Hügeln.« Über den österreichischen »Karolinger Verlag« kamen seine Schriften schließlich in deutscher Übersetzung Anfang der 1990er Jahre verstärkt in die Debatten der Rechten hierzulande. Eine Revolte gegen die Moderne war Kern seines reaktionären Denkens und die Ablehnung von Aufklärung. Der rationalen Wissenschaft stellte er das scheinbar auf Dauer Gegebene und die vermeintlich ewigen Werte gegenüber. Dávilla wurde durch weitere Arbeiten, unter anderem von dem rechten Literaturwissenschaftler Till Kinzel, in der Rechten bekannt. Sein Buch »Nicolás Gómez Dávila. Parteigänger verlorener Sachen« erschien 2003 bei »Antaios«, dem Verlag von Götz Kubitschek, und 2015 in einer Neuauflage beim katholischen »Lepanto Verlag«.

Reaktionäre Ideologie grenzt sich zum Faschismus mindestens dadurch ab, dass für die Legitimation der Herrschaft die Massen nicht nur nicht benötigt, sondern vielmehr gar nicht erwünscht sind. Und Herrschaft könne auch nicht an Emporkömmlinge delegiert werden, sondern bedürfe »natürlicher« – ewiger – Legitimation. Gegenüber dem Konservatismus besteht eine Differenz in der harschen Ablehnung von Kompromissen und der Verständigung mit anderen Teilen der Gesellschaft in einem formal-demokratischen Verfahren und der Negation ihrer Prinzipien. Eine aus Sicht von Reaktionären legitime Herrschaft kann und darf nicht durch demokratische Wahlen beendet werden – sie ist mit allen Mitteln zu verteidigen. Konservative akzeptieren die Abwahl – sowohl in der Praxis als auch im Grundsatz, selbst wenn es andere Beispiele gibt. Reaktionär, das ist der unbeschränkte Wille zur Herrschaft, sobald sie durch ewige Werte legitimiert wäre.

Reaktionäre Politik versteht sich aber grundsätzlich in einer Position der Defensive. Gegen die Gleichheit, gegen die Aufklärung, gegen die Emanzipation. Gegen eine Entwicklung der Welt, die sich scheinbar kontinuierlich – wenn auch mit Rückschlägen – in Richtung Moderne und fortschrittlicher Werte entwickelt. Dem Reaktionär bleibt nur der Rückzug. Damit entfaltet reaktionäres Denken natürlich Wirkmächtigkeit als eine Kraft, das Rad der Geschichte hin und wieder ein klein wenig zurückzudrehen oder progressive Entwicklungen auszubremsen. Reaktionäres Denken kann sich – in Konsequenz gedacht – weder im Konservatismus, der sich im bürgerlich-demokratischen Staat an der Mitgestaltung beteiligt, ansiedeln, noch kann es an dem vermeintlich an den Massen orientierten und sich selbst als revolutionär verstehenden Faschismus andocken. Reaktionäres Denken ist elitär und solitär und bleibt im Defensiven verhaftet – damit ist in der heutigen Bundesrepublik kaum Attraktivität über einen engen Kreis von Intellektuellen der radikalen Rechten zu gewinnen.