Grenzen verschwimmen

Paul Wellsow Interview mit Oliver Rautenberg
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 189 - März / April 2021

#Interview

Über die Verbreitung der Anthroposophie im Alltag und schwindende Grenzen zur radikalen Rechten sprach Paul Wellsow für »der rechte rand« mit Oliver Rautenberg. Auf seinem »anthroposophie.blog« berichtet der freie Journalist über »Wirres aus der Welt der Anthroposophie«.

Antifa Magazin der rechte rand
Oliver Rautenberg

drr: Anthroposophische Einrichtungen bieten ein Rundum-Sorglos-Paket: Die Kinder gehen in die Waldorf-Schule, das Gemüse kommt von demeter und das Geld liegt bei der GLS-Bank. Welche Verbreitung hat die Anthroposophie heute?
Oliver Rautenberg: Man kann sein gesamtes Leben in diesem Kosmos zubringen. Die Anthroposophie ist verbreitet und wirkt in die Gesellschaft. Oft macht sie es zu Recht, weil viele Ziele aus den Praxisfeldern nachvollziehbar sind: Wir wollen alle besseres Essen, wir wollen alle bessere Schulen ohne Druck, eine sanfte Medizin oder ein ethisches Bankwesen. Da kommt man schnell an die Anthroposophie, die zum Beispiel im Bio-Sektor Vorreiterin und Marktführerin ist. Die Schwierigkeit ist aber, dass man nicht nur die Vorteile, sondern das Gesamtpaket inklusive der Esoterik einkauft.

In welchen Schichten der Gesellschaft ist die Anthroposophie verbreitet?
Es ist ein Klischee, dass die Anthroposophie aus einem links-grünen Spektrum kommt. Dafür gibt es zwar auch Gründe, so war zum Beispiel eine Gründungsströmung der Grünen die Anthroposophie. Inzwischen zieht sie sich aber durch alle Gesellschaftsschichten und politische Spektren. Wer schickt heute seine Kinder zur Waldorf-Schule? Das sind nicht nur Grüne, es waren auch Helmut Kohl oder Gerhard Schröder. Besonders Akademikerinnen und Akademiker fühlen sich angezogen. Und eher wohlhabendere Menschen tendieren dazu, sich hochwertiges Bio-Essen oder eine Privatschule zu leisten. Das sieht man auch bei den »Querdenkern«: Da sind viele dabei, die einen wohlhabenden oder akademischen Background haben, die sich eher für links-grün halten, aber in ihren Handlungen und Entscheidungen für künftig zu wählende Parteien nach rechts tendieren. Weniger verbreitet ist die Anthroposophie in den unteren Schichten der Gesellschaft.

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Waldorf-Eltern oder Käufer*innen von demeter-Produkten argumentieren gerne, die esoterische und teils rassistische Ideologie vom Gründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, spiele im Alltag keine Rolle. Geht das überhaupt: Waldorf ohne Steiner oder demeter ohne Anthroposophie?
Ich halte das nicht für denkbar. Ich finde es naiv von Waldorf-Eltern zu glauben, dass die Anthroposophie und ihr religiöser oder auch sektenhafter Charakter in der Schule keine Rolle spielen würden. Es kann keine Steiner-Schule ohne Steiner geben, weil diese Reformpädagogik in ihren Kernelementen seit 100 Jahren unverändert geblieben ist und ein starker Bezug zum Schulgründer festzustellen ist. Der Lehrplan für die Waldorf-Schulen in Österreich steht zum Beispiel frei im Netz. Da kommen Dinge wie Seelenbilde-Kräfte oder Äther- und Astralleibe vor, da wird 200 Mal Steiner zitiert. Da geht es um Anthroposophie, auch wenn sie kein Schulfach ist. Wichtig ist mir zu betonen, dass die Praxisfelder – zum Beispiel Medizin, Schule oder Landwirtschaft – mit Steiners Rassismus nichts mehr zu tun haben. Die Waldorf-Schule ist keine rassistische Schule. Aber es fehlt die grundsätzliche Distanzierung vom Rassismus des Schulgründers. Und wenn es Ansätze der Distanzierung gibt, dann wird die Ideologie Steiners oft als »zeittypisch« verklärt oder es wird behauptet, er werde nur vereinnahmt und habe das alles nicht so gemeint. Es wird relativiert, dass es die rassistischen Aussagen nur in homoöpathischen Dosen in Steiners Werk gebe. Ich sehe die Gefahr durch die Anthroposophie in der Praxis heute nicht so sehr in den rassistischen Einstellungen, sondern in dem Trend dieser Gemeinde, Evidenz- und Wissenschaftsbasiertes abzulehnen. Zum Beispiel ist man skeptisch gegen »Schul«-Medizin oder gegen Impfungen. Aber es werden auf der anderen Seite Dinge wie Homöopathie oder anthroposophische Medizin, Esoterik oder Astrologie akzeptiert. Da sehe ich die Gefahr, dass Menschen aus rationalem Denken aussteigen.

Wie führt man eine kritische Debatte mit Anthroposoph*innen, wenn deren Überzeugungen auf Irrationalismus basieren?
Ich verfolge das Thema seit 10 Jahren und habe früher viel diskutiert. Wenn ich heute erkenne, dass mein Gegenüber ein streng gläubiger Anthroposoph ist, mache ich das nicht mehr, denn Glauben kann man nicht aus den Köpfen rausdiskutieren. Ich toleriere den Glauben. Aber wenn das die Grundlage für Pädagogik oder Medizin ist, dann hört die Toleranz auf. Nur wissen viele Nutzerinnen und Nutzer nichts über die Hintergründe. Sie wissen nicht, dass es bei der Waldorf-Pädagogik auch um Reinkarnation und Karma geht, dass es bei anthroposophischer Medizin auch darum geht, die Aura des Menschen zu heilen oder dass der demeter-Bauer alchemistische Rituale macht und Astrologie zu betreiben hat. Es ist in Ordnung, bewusst zu sagen, ich nehme die demeter-Esoterik in Kauf, weil ich zum Beispiel gute Tierhaltung will. Aber schwierig ist es, wenn man zum Beispiel aus esoterischen Gründen eine Impfung ablehnt.

Welche Reaktionen erhältst Du auf Deinen Blog?
Viele sind froh über den Blog, weil es zu wenig Informationen zum Thema gibt und ich dort gut belegte Fakten veröffentliche. Doch die Anthroposophen und Gläubigen sparen nicht mit Kritik. Die empfinden es als unerhörte Dreistigkeit, ihren Glauben zu kritisieren. Als Nicht-Eingeweihter, der die spirituelle Philosophie nicht verstehen kann, sei man gar nicht fähig, Kritik zu üben. Es gibt böse Briefe und Anzeigen gegen mich, Unterlassungsforderungen bis hin zu handfesten Drohungen gegen Leib und Leben. Doch bisher hat mir das aber nicht zum Nachteil gereicht.

Bei den Querdenken-Demonstrationen laufen heute Anthroposoph*innen neben Neonazis und rechte Lehrer*innen arbeiten an Waldorf-Schulen. Sind das nur Einzelfälle oder gibt es eine systematische Nähe?
Ich halte weite Teile der Anthroposophie oder der Waldorf-Bewegung nicht für rechts oder rassistisch – auch wenn man sich vom Rassismus Steiners nicht distanzieren kann. Trotzdem ist man offen für rechte Meinungen oder vom Mainstream abweichende Meinungen. Das geht bis dahin, wie ein »Querdenker« und Stuttgarter Waldorf-Funktionär offen sagt, dass viele die Rechtsextremen bei den Demos nicht stören. Die Esoterik und die Rechte eint eine ideologische Klammer, vor allem der Verschwörungsmythos, dass eine kleine Gruppe die Geschicke der Welt leitet. Das ist schnell der Einstieg in rechte und antisemitische Denkmuster. Die Vorstellung, dass eine kleine Elite im Hintergrund die Fäden zieht und dass das, was wir erleben, nur ein Schauspiel und nicht echt ist, dann sind das Merkmale von Verschwörungsmythen, die auch zum Kern der Anthroposophie gehören. Dieses verschwörungsmythische Mindset ist anschlussfähig an die radikale Rechte, die mit den gleichen Argumenten auf die Straße geht. Die Grenzen zwischen harmlosen Alternativgläubigen und gefährlichen Scharfmachern verschwimmen. Eigentlich ist da keine Grenze mehr existent.

»»» Anthroposophie.blog

Anthroposophische Einrichtungen – Schulen oder Wohnheime – werden mit immensen Summen staatlich mitfinanziert. Warum gibt es darüber keine öffentliche Debatte?
Die Gefahr ist, dass anthroposophische Einrichtungen weitgehend gefördert werden, ohne auch gefordert zu werden. Waldorf-Schulen werden im Schnitt zu 72 Prozent aus staatlichen Mitteln finanziert, regional sogar bis zu 90 Prozent. Wenn man sich überlegt, dass diese Pädagogik im Kern auf Hellseherei basiert, dass Karma und Reinkarnation sowie die Entwicklung von Äther- und Astralleiben der Kinder eine Rolle spielen und die Klasse als esoterische Schicksalsgemeinschaft geführt wird, dann birgt das Gefahren. Laut den Schulgesetzen müssen die Unterrichtsinhalte und Lernmethoden gleichwertig zum staatlichen Unterricht sein – das sehe ich aber nicht. Auch die wissenschaftliche Ausbildung der Lehrkräfte darf nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen – aber auch das ist nicht der Fall. Man sollte genau hinschauen, was Inhalte und Methoden an Waldorf-Schulen sind und die Förderung daran koppeln. Ein Beispiel: In einem Lehrerseminar der Waldorf-Schulen Bremen und Niedersachsen sollte ein Hellseher den Lehrerinnen und Lehrern beibringen, wie man den Äther- und Astralleib der Kinder erkennen könne. Ich habe beim Kultusministerium nachgefragt, ob das diese gleichwertigen Lehrmethoden und Ausbildungen seien. Das Ministerium hat darauf bestanden, dass die Waldorf-Schulen als Ersatzschulen nach eigener Fasson Unterricht und Lehrerbildung gestalten können. Also zahlen wir auch Hellseher-Seminare auf Staatskosten.

Vielen Dank für das Interview!