Die Brille der Äquidistanz vernebelt den Blick

Von Max Heim


Magazin »der rechte rand« Ausgabe 175 - November / Dezember 2018

#Extremismustheorie

Alle Formen des Extremismus gleichermaßen abzulehnen und äquidistant zu forschen, ist der Anspruch der Extremismus-«Theorie«. Die Unzulänglichkeit dieses Ansatzes ist schon lange bekannt. Die mangelhafte Auseinandersetzung mit dem Rechtsruck der letzten Jahre zeugt vom Versagen der Extremismusforschung.

Magazin der rechte rand

Extremismustheorien für 98 €
Screenshot – Jahrbuch Extremismus & Demokratie (E & D) © Archiv #derrechterand

Jahrbuch 2018:

Mit Beiträgen u. a. von
Uwe Backes, Wilfried von Bredow, Hubertus Buchstein, Alexander Gallus, Sebastian Gräfe, Florian Hartleb, Eckhard Jesse, Gerd Koenen, Jürgen P. Lang, Michail Logvinov, Tom Mannewitz, Isabelle-Christine Panreck, Clemens Pleul, Tom Thieme, Gerhard Wettig und Barbara Zehnpfennig.

 

Der Rechtsruck in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) ist seit mehreren Jahren voll im Gange: in den Parlamenten, in den Köpfen und auf der Straße. In der sozialwissenschaftlichen »Rechtsextremismusforschung« werden diese Entwicklungen breit erforscht. Dieser Forschungszweig gewinnt seine Definitionen und Ergebnisse durch eine Auseinandersetzung mit sozialen Phänomenen und versteht »Rechtsextremismus« als Zusammenspiel verschiedener Ideologieelemente. Hierdurch war schon seit langem das hohe Potential extrem rechter Einstellungen bekannt, das sich erst in den letzten Jahren parteipolitisch formierte.

Davon zu unterscheiden ist der Ansatz der »Extremismusforschung«, der die politische Landschaft in Demokratie und Extremismus unterteilt. Als ExtremistIn gilt, wer die Grundlagen demokratischer Verfassungsstaaten missachtet. Das »Postulat der Äquidistanz« besagt, die Unterformen »Rechtsextremismus«, »Linksextremismus« und »Islamismus« gleichermaßen unter die Lupe zu nehmen. Zentrales Publikationsorgan dieses Ansatzes ist das »Jahrbuch Extremismus & Demokratie«, herausgegeben von Uwe Backes, Alexander Gallus und Eckhard Jesse. Ein Blick in die Ausgaben der letzten Jahre soll zeigen, inwieweit dort dem Anspruch entsprochen wird, Gefahren für die Demokratie zu erkennen und zu analysieren.

Die AfD in den »Jahrbüchern«
Erstmals Erwähnung findet die »Alternative für Deutschland« (AfD) im »Jahrbuch 2014«, in dem die Entwicklungen des Vorjahres beschrieben werden. Alexander Gallus dokumentiert Auszüge aus dem Programm zur Bundestagswahl 2013 und gibt verschiedene Einschätzungen über die politische Einordnung der AfD wieder. Mit einer eigenen Analyse oder gar einer Beurteilung nach den Kriterien der Extremismusforschung hält er sich zurück. Ein Jahr später findet die Partei, trotz mehrerer Wahlerfolge, keine gesonderte Beachtung im »Jahrbuch«.

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Meuthen kommt wenig überraschend zu dem Schluss, die AfD sei »grundgesetztreu und rechtsstaatverliebt«
© Roland Geisheimer / attenzione

In der Ausgabe von 2016 ist eine Debatte über die Beurteilung der AfD abgedruckt. Die Herausgeber ließen in vier Beiträgen diskutieren, wie die Partei demokratietheoretisch einzuschätzen sei, wie die innerparteilichen Strömungen zu gewichten seien und ob die Partei vom Verfassungsschutz beobachtet werden solle. Die Politikwissenschaftler Frank Decker, Thorsten Oppelland und Werner Patzelt sollten diese Fragen erörtern. Zudem wurden die Parteivorsitzenden der AfD, Frauke Petry und Jörg Meuthen, zu einem Beitrag eingeladen, mit dem Ziel, »das Selbstverständnis der Partei zu dokumentieren«, wie die Herausgeber schrieben. Petry und Meuthen kommen wenig überraschend zu dem Schluss, die AfD sei »grundgesetztreu und rechtsstaatverliebt«. Aber auch die drei Politikwissenschaftler sehen in der AfD keine extremistische Partei, die beobachtet werden müsse. Besonders deutlich wird die extremismustheoretische Argumentation in den Ausführungen von Patzelt. Zwar sieht er, dass »ein Großteil der AfD-Mitglieder und AfD-WählerInnen islamophobe und (übergeneralisierte) muslimfeindliche Positionen« vertritt und räumt auch ein, dass »Rechtspopulismus nicht selten mit Rassismus einher(gehe)«. In seiner Folgerung ist die AfD jedoch als demokratisch einzustufen: »Insgesamt gibt es keinen Grund die AfD als ‹außerhalb des demokratischen Spektrums’ befindlich einzuschätzen. (…) Von der NPD unterscheidet die AfD grundlegend, dass sie die politische Ordnung Deutschlands und dessen Grundwerte bejaht, also gerade innerhalb des Verfassungskonsenses eine andere Politik herbeiführen will (…). Es ist deshalb die AfD keine ‹Anti-System-Partei›, sondern ein Alternativangebot innerhalb des Systems.« Diesem Urteil widersprechen Decker und Oppelland trotz leicht abweichender Analysefokusse nicht.

Werner Patzelt © https://commons.wikimedia.or/wiki/File:Politikwissenschaftler_Werner_Josef_Patzelt.JPG
Alexander Böhm [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)], von Wikimedia Commons

Nach den Prämissen der Extremismusforschung ist diese Einschätzung nicht falsch. Denn da sich die AfD zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung (fdGO) bekennt und das Gros ihrer FunktionärInnen die staatliche Ordnung der BRD nicht offen in Frage stellt, kann sie nur schwerlich als extremistisch gelten. Nach dem Extremismusansatz gilt die Partei im Umkehrschluss als demokratisch und zwar solange sie ‹nur› rassistische, homophobe oder andere antiegalitäre Ideologien vertritt und dabei staatliche Institutionen und Funktionsweisen, geschützt durch die fdGO, nicht in Frage stellt. Bislang kann sich daher die AfD eines »Persilscheins« der Extremismusforschung sicher sein.

An dieser Einschätzung hat sich auch im »Jahrbuch 2017« nichts geändert. Trotz bemerkenswerter Wahlerfolge bei den Landtagswahlen 2016 und zunehmender Radikalisierung der Partei ist die AfD auf den fast 500 Seiten kein Gegenstand weiterer Analysen. Es bleibt abzuwarten, wie die jüngsten Ereignisse in Chemnitz von den entsprechenden WissenschaftlerInnen eingeordnet werden.

Rechte Gewalt in den »Jahrbüchern«
Ein sprunghafter Anstieg rechter Gewalt ist mit dem Jahr 2015 zu verzeichnen. Hier sind sich zumindest in der Tendenz die Sicherheitsbehörden mit zivilgesellschaftlichen BeobachterInnen einig. Im »Jahrbuch« 2016 und 2017 werden die Zahlen des BKA zwar wiedergegeben, aber nicht weiter kommentiert. Auch die Aushebung terroristischer Vereinigungen wie der »Oldschool Society« oder der »Gruppe Freital« werden nur erwähnt. Der Anschlag in München vom 22. Juli 2016, dem neun Menschen zum Opfer fielen, findet ebensowenig Erwähnung wie die vielen Toten im Mittelmeer, deren Tod auf eine fremdenfeindliche Migrationspolitik zurückzuführen ist. Es fällt schwer, die Analysen der Extremismusforschung zum Anstieg rechter Gewalt zu beurteilen, da sie schlichtweg fehlen.

Aufweichung der eigenen Analysedogmen?
Trotz der eklatanten Lücken in den Analysen der Extremismusforschung deutet sich im »Jahrbuch 2017« eine positive Entwicklung an. Während in den vergangenen Ausgaben Ansätze der sozialwissenschaftlichen »Rechtsextremismusforschung« regelmäßig in Grund und Boden rezensiert wurden, fallen die Bewertungen im aktuellsten Band ungewöhnlich wohlwollend aus. So werden beispielsweise die Studie von Andreas Zick und Beate Küpper »Gespaltene Mitte – feindselige Zustände«, das Buch »Von Wutbürgern und Brandstiftern. AfD – PEGIDA – Gewaltnetze« von Hajo Funke oder das »Handbuch Rechtsextremismus« von Fabian Virchow, Martin Langebach und Alexander Häusler weitgehend positiv aufgenommen.

Auch der Artikel von drei AutorInnen des brandenburgischen Innenministeriums / Verfassungsschutzes über die Ideologie der »ReichsbürgerInnen« ist differenziert und kenntnisreich. Sie analysieren die Ideologie der »ReichsbürgerInnen«-Szene und arbeiten Elemente wie Autoritarismus, Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus heraus. Dabei greifen sie auf Arbeiten der sozialwissenschaftlichen »Rechtsextremismusforschung« zurück und verzichten weitgehend auf die Kategorisierung der Extremismusforschung. Vielleicht ist die vergleichsweise ausgeprägte Orientierung an der sozialwissenschaftlichen »Rechtsextremismusforschung« im gegenwärtigen Jahrbuch eine Ausnahme. Vielleicht aber merken die Herausgeber des »Jahrbuchs«, dass ihr Ansatz den gegenwärtigen Rechtsruck nicht adäquat erfassen kann. Doch auch wenn durch einen weiteren Einzug sozialwissenschaftlicher Erklärungsansätze fundierte Analysen zur extremen Rechten geschrieben würden, änderte dies am Grundproblem der Extremismusforschung wenig.

Extremismusforschung ist nicht reformierbar
Vor 35 Jahren schrieben Backes und Jesse ihren ersten gemeinsamen Aufsatz, in dem sie bereits forderten, »Rechts«- und »Linksextremismus« gleichermaßen abzulehnen. Auch im »Jahrbuch 2017« bemängeln sie eine geringe Aufmerksamkeit für »Linksextremismus«, da die öffentliche Wahrnehmung »nicht auf Äquidistanz basiert«. Dass eine Wahrnehmung durch die Brille der Äquidistanz systematisch den Blick auf die gesellschaftspolitische Realität vernebelt und zu falschen Schlüssen führt, beweist die Extremismusforschung seit ihrem ersten Tag. Die Täter der rassistischen Ausschreitungen in Rostock und Mölln Anfang der 1990er Jahre, beschrieben Backes und Jesse im Jahr 1994 als »eine Anzahl nicht-organisierter Kinder und Jugendlicher und 50 Beifallklatscher aus der Bevölkerung«. Dass die Öffentlichkeit so viel über rechte Gewalt spricht, liege daran, dass »Journalisten überwiegend links von der Mitte angesiedelt sind« – eine klassisch rechte Argumentation – und nicht etwa an den fast 200 Todesopfern seit 1990. Auch die Einordnung des »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) fiel Backes und Jesse merklich schwer. Im Jahr 2013 schrieben sie: »(…) so dass zu wünschen wäre, die NSU-Diskussion gäbe Anstöße für die Entwicklung neuer Forschungsprojekte. Diese sollten sich nicht auf einzelne Akteure konzentrieren, sondern der Gewaltdynamik stärkere Beachtung schenken, wie sie aus der Wechselwirkung und den Interaktionen extremistischer Szenen entsteht.« Warum aber eine rassistisch motivierte Mordserie, verübt von drei Neonazis an migrantischen Gewerbetreibenden, ein Forschungsprojekt zu Konfrontationsgewalt zwischen Linken und Rechten begründet, bleibt das Geheimnis dieser Professoren.

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Demonstration zur Urteilsverkündung im NSU Prozess in München

Schließlich ist zu resümieren: Eine Extremismus- beziehungsweise Demokratieforschung, welche die rechte Gewalt aufgrund ihres falschen Analyseansatzes systematisch relativiert und zum gegenwärtigen Rechtsruck nichts Substanzielles sagen kann oder möchte, ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.