»Emmerde le Front«

von Bernard Schmid


Magazin "der rechte rand" Ausgabe 169 - November 2017

»La jeu-nesse em-mer-de le Fro-ont natio-nal, la jeu-nesse em-mer-de«: Dieser rhythmische Slogan, gesungen oder skandiert, untermalte zahlreiche Demonstrationen in den 1990er Jahren. »Die Jugend scheißt den Front National zu« (»La jeunesse emmerde le Front national«), so lautete ursprünglich ein Songtitel der Punkband Bérurier Noir im Jahr 1989. Er war damals in Teilen der Jugend ausgesprochen populär. Im darauffolgenden Jahrzehnt machte die französische KP-Jugend einen veritablen Kampagnenslogan daraus.
So frech und eindeutig, und vor allem mit einer viele Jahre andauernden Breitenwirkung, tritt die Kulturszene in Frankreich heutzutage nicht mehr gegenüber der extremen Rechten in Erscheinung. Zwar steht nach wie vor ein übergroßer Teil der Kulturschaffenden ihrer wichtigsten Partei, dem »Front National« (FN), ablehnend bis feindselig gegenüber. Das im Frühjahr 2017 erstmals ein Kulturprominenter – in Gestalt des Theaterschauspielers und -regisseurs Franck de Lapersonne – im Wahlkampf als Unterstützer der Präsidentschaftskandidatin des FN, Marine Le Pen, auftrat, ändert daran wenig. Nach dem Austritt des früheren Sonderberaters von Marine Le Pen, Florian Philippot, am 21. September 2017 aus dem FN und schloss de Lapersonne sich Philippots neuer Partei »Les Patriotes« an.

Magazin von antifaschistInnen der rechte rand Ausgabe 169

Massenprotest war gestern
Jedoch finden derzeit keine Riesenkonzerte mit hämmerndem Rhythmus mehr statt, die explizit oder implizit dem Kampf gegen den FN gewidmet sind. Auch auf der Straße hat die Massenmobilisierung gegen den »Front National« spürbar abgenommen. Gut sichtbar ist das im Vergleich der Proteste im Frühjahr 2017 gegen Marine Le Pen als Stichwahlkandidatin um die französische Präsidentschaft mit den Demonstrationen im ­April und Mai 2002, nachdem deren Vater Jean-Marie Le Pen erstmals in diese Stichwahl einziehen konnte. Am 1. Mai 2017 etwa demonstrierten vielleicht 40.000 Menschen in Paris für gewerkschaftliche Forderungen und gegen den FN – auf den Tag genau fünfzehn Jahre zuvor waren am Maifeiertag 2002 dagegen 700.000 Menschen in der Hauptstadt und zwei Millionen in ganz Frankreich auf der Straße gewesen. Insofern bietet der Straßenprotest auch nicht mehr in gleicher Weise eine Bühne für kulturelle Ausdrucksformen zum Thema, beispielsweise in Gestalt von Songtexten und Liedmelodien.
Mit einigem Echo – allerdings eher in politisch und sozial ohnehin engagierten Kreisen – halten sich dagegen antifaschistische Buchsalons. Diese hat es bereits in den 1990er Jahren gegeben, in jüngerer Zeit gab es erfolgreiche Veranstaltungen beispielsweise in Paris im April 2016 und in Montreuil bei Paris im April 2017.
Da trifft es sich gut, dass in den letzten Jahren die kulturellen Mittel der Auseinandersetzung mit dem »Front National« erheblich variationsreicher geworden sind. In Form von Graphic Novels und Filmen sowie Romanen hat die Auseinandersetzung mit der Bedrohung von Rechts breitere Kreise erreicht. Auch solche, die nicht ohnehin bei Demonstrationen oder engagierten Konzernen anzutreffen sind.

»La présidente«
Ein gelungenes Beispiel dafür sind die mittlerweile drei Comicbände des Autors François Durpaire und des Zeichners Farid Boudjellal. Boudjellal wurde bereits in den 1980er Jahre durch seine Serie »Juden und Araber« in Frankreich bekannt. Gemeinsam mit Durpaire hat er eine Graphic Novel unter dem Titel »La présidente« (»Die Präsidentin«; s. drr Nr. 165) veröffentlicht. Die drei aufeinander aufbauenden Bände erschienen 2015, 2016 und 2017. Ihr Gegenstand ist die Frage: Was wäre, wenn wirklich…? Also falls der »Front National« wirklich die Wahl, die damals noch bevorstand, gewinnen würde? »Die Präsidentin«, man ahnt es bereits, ist dabei Marine Le Pen in den Wochen, Monaten und Jahren nach einem fiktiven Wahlsieg im Mai 2017. Tatsächlich erscheint die Fiktion dabei, wie etwa die KP-nahe Intellektuellenzeitschrift »Regards« dazu meinte, als das am besten geeignete Mittel, um dieser Frage nachzugehen – also zu erörtern, was »danach« passieren könnte. Denn das Ereignis selbst war nicht eingetreten, und mangels Erfahrung mit einer realen Machtbeteiligung des »Front National« mussten die Antworten auf eine solche Fragestellung spekulativ ausfallen.
Im ersten Band beschreiben die beiden Verfasser die ersten Weichenstellungen nach einer Wahl Marine Le Pens zum Staatsoberhaupt. Frankreich tritt aus der Euro-Zone aus und führt den »neuen Franc« als Währung ein. Infolge einer Volksabstimmung mit plebiszitären Zügen – die neue Regierung wird mehrere davon durchführen – wird das Verfassungsgericht abgeschafft. Florian Philippot, er war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch in der Partei, wird zum Parlamentspräsidenten ernannt, doch durch eine mysteriöse Gruppe entführt. In der Folgezeit stellt sich heraus, dass die Kidnapper einer extrem rechten Gruppe angehören und eine erhebliche Radikalisierung der Regierungspolitik, die ihnen zu zögerlich erscheint, anstreben. Infolge von Geheimverhandlungen werden die »Identitären« in die Regierung und in den Beraterstab der Präsidentin aufgenommen.
Im zweiten Band kann die Verschärfung der Regierungspolitik beobachtet werden: Marine Le Pen droht, bei der nächsten anstehenden Wahl im Frühjahr 2022 zu scheitern. In den Umfragen führt der aus der Migra­tionsbevölkerung stammende, zugleich eher sozialliberal-»moderat« auftretende Gegenkandidat Mohammed Labbès, der die in Trümmern liegende sozialdemokratische Partei übernehmen konnte. Doch nach einem djihadistischen Attentat im katholischen Wallfahrtsort Lourdes mit mehreren Hundert Toten nutzt die FN-Regierung alle Vollmachten aus, die ihnen die Notstandsgesetzgebung bietet – dabei versäumen die Autoren auch nicht, mehrfach darauf hinzuweisen, dass es die sozialdemokratische Regierung war, die 2015 diese Gesetzgebung in Kraft gesetzt und damit Grundlagen für den autoritären Drive geschaffen hat. In der Erzählung läuft die Entwicklung dergestalt weiter, dass Labbès wegen angeblicher Terrorkontakte und Landesverrats inhaftiert wird. Marine Le Pen gewinnt die Wahl, tritt jedoch nach kurzer Zeit zugunsten ihrer Nichte Marion-Maréchal Le Pen ab, die einen härteren innenpolitischen Kurs fährt und zugleich eine stärker kapitalfreundliche Orientierung fordert. Im dritten Band gewinnen dann die zivilgesellschaftlichen Widerstandskräfte. Ein Bündnis aus dem heutigen Präsidenten Emmanuel Macron und der ehemaligen Justizministerin Christiane Taubira – sie trat unter François Hollande aus Protest gegen die Ausrufung des Ausnahmezustands Anfang 2016 zurück – tritt gegen den FN an und gewinnt die darauf folgenden Wahlen.
Viele Elemente, die die Verfasser anführen, stützen sich auf bei Erscheinen ihrer Bände reale Elemente: das Verhältnis zwischen dem FN und den »Identitären« als ‹Pressure group›, innerparteiliche Konflikte – unter anderem zwischen Marine Le Pen und Marion Maréchal-Le Pen – auch wenn sich Letztere seit dem 9./10. Mai 2017 für unbestimmte Zeit aus der aktiven Politik zurückgezogen hat, oder auch die Existenz eines repressiven juristischen Arsenals in staatlichen Händen. An anderen Punkten hingegen hat die reale Entwicklung sich nicht an die Zukunftsvision der Verfasser gehalten: Frauke Petry, die frühere Bundesvorsitzende der »Alternative für Deutschland« gewinnt da die Wahl in Deutschland. Und andererseits, der FN verlor wiederum die Wahlen in Frankreich im Frühjahr 2017 deutlicher als erwartet. Umgekehrt ist es bemerkenswert, wie an einigen Punkten der wirkliche Verlauf die Zukunftserwartung von Boudjellal und Durpaire eingeholt, ja übertroffen hat. Und dies erscheint beklemmend. So verliert ein gewisser Donald Trump im – vor der US-Präsidentenwahl erschienenen – Band 2 die Wahl in den USA im November 2016, allerdings um die Wahl 2020 dann zu gewinnen. Bei Durpaire und Boudjellal schließt er daraufhin dann eine Allianz mit Frankreichs Präsidentin Marion Maréchal-Le Pen und Russlands Wladimir Putin. In Wirklichkeit gewann Trump bekanntlich schon früher, als es Boudjellal und Durpaire an dieser Stelle zu erwarten schienen. Schlussendlich lagen die beiden aber jedenfalls mit ihrer Einschätzung, dass Emmanuel Macron den FN an der Urne besiegen könne, richtig. Dies erfolgte in dem Fall wiederum früher, als durch die Verfasser dargestellt.

»Ils sont partout«
Auch in Filmen und Filmbeiträgen wurde der »Front National« in den letzten Jahren verarbeitet. Etwa in dem als Komödie aufbereiteten Film »Ils sont partout« (»Sie sind überall«), der im Sommer 2016 erschien und die Problematik des Antisemitismus mit den Mitteln des Humors bekämpfen, das Publikum über ihn zum Lachen bringen sollte. Unabhängig von der Frage, ob dieses Anliegen aufging – manche Medien wie die Kulturzeitschrift »Télérama« meinten: nein – weist er einige interessante Passagen auf.
In einer geht es um das Schicksal des fiktiven extrem rechten Politikers Boris Vankelen. Es ähnelt dem, das einem Abgeordneten der ungarischen antisemitischen »Jobbik«-Partei tatsächlich widerfuhr, dem eines Tages bekannt wurde, dass er jüdische Vorfahren hatte. Die Ehefrau des Filmprotagonisten, Eva, ist die Chefin einer fiktiven Partei: des »Mouvement national de France« (MNF). Nahezu alle Einzelheiten lassen diese als Wiedergängerin des real existierenden Front National erscheinen – welcher sich auch selbst als »mouvement national français« bezeichnet. Allerdings ist der fiktive MNF auf eine Weise plakativ antisemitisch, wie der echte FN es so niemals war, sondern stets nur im Subtext und in Anspielungen seines früheren Vorsitzenden Jean-Marie Le Pen. Eva ist, wie dessen Tochter Marine, die Erbin der innerparteilichen Macht qua familiärer Abstammung. Doch ihr Mann, Boris, erfährt bei der Beerdigung seiner Großmutter mütterlicherseits plötzlich, dass diese Jüdin war. Nach der Thora, schlussfolgert Vankelen, sei er deswegen aufgrund mütterlicher Abstammungslinie ebenfalls Jude.
Das Ende vom Lied ist allerdings, dass Boris Vankelen dieses Argument auch noch zum eigenen Vorteil einsetzt. Seine Frau, die bis dahin Spitzenkandidatin war, täuscht eine Krebserkrankung vor und tritt ihm die Kandidatur ab. Die Partei befindet sich bei 46 Prozent in den Umfragen und steuert auf einen Wahlsieg zu. In einer Fernsehshow wettert Vankelen zunächst über die jüdische Macht im Finanz- und Bankensektor. Darauf konfrontiert ihn die, anscheinend gut informierte, Moderatorin unerwartet mit der Existenz seiner jüdischen Vorfahrin. Doch Vankelen nutzt den Moment – nach kurzem aber sichtlichem Zögern –, um zu erklären, daran sehe man doch, dass seine Partei gar nicht antisemitisch sein könne, wie man ihr vorwerfe.

»Chez nous«/»Le bloc«
Ausschließlich der extremen Rechten gewidmet ist der Anfang 2017 erschienene Film »Chez nous« (»Das ist unser Land!«) des Regisseurs Lucas Belvaux. Im Januar des Jahres ereiferte sich der damalige FN-Politiker Florian Philippot deswegen in einem TV-Studio, weil mit dem Kinogang des Streifens einige Wochen vor den Wahlen – ab dem 22. Februar kam er in Säle – eine »parteiische« Beeinflussung des Publikums betrieben werde. Bei eben diesem Fernsehauftritt am 1. Januar musste Philippot allerdings zugeben, den Inhalt des Films nicht zu kennen.
Er beruht auf einem Buch, dem 2011 erschienenen Roman »Le bloc« von Jérôme Leroy. Schlüsselfiguren darin sind Vater und Tochter, Roland und Agnès Dorgelles, in denen relativ unschwer WiedergängerInnen von Jean-Marie und Marine Le Pen auszumachen sind. Laut dem Buchautor in einem Interview mit der Revue »La règle du jeu« bezog er sich mit der Namensgebung auf Roland Dorgères, den Chef einer agrarischen, faschistischen Vereinigung im Frankreich der Zwischenkriegszeit. Das Bild, das Leroy vom »Block« – alias »Front National« – zeichnet, ist tatsächlich ein wenig grobschlächtig und rustikal. Die extreme Rechte umfasst ein Bündnis von Anzugträgern und brutalen Schlägern, Letztere werden durch die Figur des ehemaligen Neonazi-Skinheads und Soldaten ‹Stanko› verkörpert. Den Anzugträger mimt ‹Antoine Maynard›, der publizistisch tätige Ehemann von Agnès Dorgelles. Die Stärke des Buches ist die atmosphärische Beschreibung der Milieus, denen die beiden Figuren entstammen. Die trostlosen und perspektivlosen alten Industriestandorte im Norden Frankreichs bei ‹Stanko›– das dandyhafte, gebildete, den faschistischen Traditionslinien verhaftete Milieu bei ‹Antoine Maynard›.
Die Schwerpunktverlagerung weg von der Straße, der Öffentlichkeit in die Welt der Popkultur kann auch als Zeichen zurückgehender Mobilisierungsfähigkeit antifaschistischer und zivilgesellschaftlicher Initiativen gewertet werden. Die Auseinandersetzung mit, die Kritik am FN bleibt über Film und Literatur präsent. Auch wenn die Filme 475.000 ZuschauerInnen in die Kinos lockten; was diese Art der Auseinandersetzung nicht bietet, ist die Sichtbarkeit. Ein lauter, wahrnehmbarer Widerspruch, auch als gemeinsames identitätsstiftendes Moment.