Dauerbrenner Rudolf Heß

von Barbara Manthe
Magazin "der rechte rand" Ausgabe 169 - November 2017

»Freiheit für Rudolf Heß«: Seit dem Ende der 1960er Jahre fand diese Forderung in der Bundesrepublik breiten politischen Zuspruch. Die extreme Rechte schloss sich gern an.

Magazin der rechte rand Ausgabe 169

CSUler Alfred Seidl © Archiv »der rechte rand«

»Häftling Nummer sieben«, der »Letzte von Spandau«, der »einsamste und teuerste Gefangene der Welt«: Rudolf Heß, Stellvertreter Hitlers, wurde bereits zu Lebzeiten zum Opfer und zum Märtyrer gemacht. Er war 46 Jahre lang Häftling der Alliierten, 40 davon verbrachte er in ihrem Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau. In den 1960er und 1970er Jahren bemühte sich ein breites politisches Spektrum um seine Freilassung – woran die extreme Rechte zumeist unwidersprochen anknüpfen konnte.

Heß in britischer Gefangenschaft
Am Abend des 11. Mai 1941 wurde Winston Churchill, Staatsmann und britischer Premierminister, die Nachricht überbracht, der hochrangige Nazifunktionär Rudolf Heß befände sich seit dem Vortag auf britischem Boden. Der reagierte gänzlich unbeeindruckt: »Also, Heß oder nicht Heß, ich sehe mir jetzt die Marx Brothers an«, so berichteten Beobachter. Churchill gab der Filmkomödie den Vorzug und befasste sich erst am Folgetag mit dem merkwürdigen Vorfall. Mitten im Zweiten Weltkrieg, am 10. Mai 1941, war Heß – offizieller Titel: »Stellvertreter des Führers« – vermutlich ohne das Wissen Hitlers nach Schottland geflogen, um mit der britischen Regierung über eine Allianz zu verhandeln. Mit diesem Bündnis, das gegen die Sowjetunion gerichtet war, wollte Heß zugleich erreichen, dass Großbritannien die Überlegenheit des Deutschen Reichs anerkannte.
Anstatt auf dieses Ansinnen einzugehen, ließ Churchill Heß in Haft nehmen, aus der er bis zu seinem Selbstmord im Jahr 1987 nicht mehr entlassen werden sollte. 1946 verurteilte das Internationale Militärtribunal (IMT) in Nürnberg den ehemaligen Hitler-Stellvertreter wegen Verbrechens gegen den Frieden zu lebenslanger Haft. Sein Verteidiger war ein junger Jurist namens Alfred Seidl, späterer Innenminister in Bayern und nach Recherchen des Historikers Hubert Seliger der »radikalste« der Anwälte im Nürnberger Prozess.
Heß wurde, gemeinsam mit anderen in Nürnberg verurteilten nationalsozialistischen Funktionären, im Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau inhaftiert; nachdem am 1. Oktober 1966 seine beiden letzten Mithäftlinge Albert Speer und Baldur von Schirach entlassen worden waren, verblieb Heß dort als der »Letzte von Spandau«, wie ihn »Die Zeit« einmal betitelte.

Eine Massenbewegung für Heß
In dieser Zeit begann in der Bundesrepublik Deutschland ein Streben nach der Freilassung von Rudolf Heß, dem sich Menschen aus allen politischen Lagern anschlossen. Im Frühjahr 1967 gründete sich die »Hilfsgemeinschaft Freiheit für Rudolf Heß e. V.«, der schon im Jahr der Gründung rund 1450 Mitglieder angehörten. Die Organisation initiierte eine Unterschriftenkampagne, die prominente ZeitgenossInnen wie der Pastor und Widerstandskämpfer Martin Niemöller, der Schriftsteller Golo Mann und der britische Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen, Sir Hartley Shawcross unterstützten, ebenso wie PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen. 1974 verkündete die Hilfsgemeinschaft, 200.000 Unterschriften gesammelt zu haben; das positive Medienecho und die Breite der UnterstützerInnenkreise belegen, dass in den 1960er und 1970er Jahren die Freilassung des Spandauer Häftlings viele bewegte.
Angesichts der zu jener Zeit bereits vorhandenen und durchaus diskutierten Erkenntnis, dass zahllose nationalsozialistische TäterInnen in der Bundesrepublik nach lächerlich kurzen Haftstrafen entlassen wurden – wenn sie denn überhaupt vor Gericht kamen – mag diese massenhafte Parteinahme für Heß aus heutiger Sicht verwundern. Er hatte schließlich als NS-Funktionär und Vertrauter Hitlers an hoher Position gestanden und in Nürnberg betont: »Ich bereue nichts«. Viele Opfer des NS-Regimes wiederum warteten immer noch – nicht selten vergeblich – auf Anerkennung und Entschädigung. Manche von ihnen, wie etwa Homosexuelle oder sogenannte »Asoziale«, waren noch in der Bundesrepublik verfolgt worden, andere, etwa Wehrmachtsdeserteure, als Verräter gebrandmarkt. Wer sich in der Bundesrepublik für ihre Interessen einsetzte, blieb wie der Jurist Fritz Bauer ein Einzelkämpfer. Die Anerkennung der Opfer war ein mühseliger und von harten Kämpfen geprägter gesellschaftlicher Prozess; eine Massenbewegung wie für Heß formierte sich für sie nicht.

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Anzeige in der FAZ © Archiv »der rechte rand«

Vergangenheitspolitische Interessenspolitik
Der Fall Heß ist beispielhaft dafür, wie in der Bundesrepublik vergangenheitspolitische Interessenspolitik betrieben wurde. Bei der Forderung nach seiner Freilassung ging es um mehr als um humanitäre Gründe, auch wenn die Vorstellung eines in Einzelhaft sitzenden, alternden Häftlings sicherlich manche Gemüter gerührt haben mochte. Heß konnte als Argument gegen die Legitimität des IMT in Nürnberg ins Spiel gebracht werden, dessen Urteilssprüche als »Siegerjustiz« verhandelt wurden. Ferner wurde in Frage gestellt, ob das NS-Regime vor 1941 – als Heß nach Großbritannien flog – verbrecherisch gewesen und Heß daher schuldig sei. Schließlich befand er sich zu dem Zeitpunkt, als die Deutschen die jüdische Bevölkerung Europas nicht mehr nur mit Massakern und Massenerschießungen, sondern in den Vernichtungslagern systematisch ermordeten, bereits in britischer Gefangenschaft. Letztlich spielte auch der Kalte Krieg eine Rolle, war doch die Sowjetunion die alliierte Macht, die sich einer Freilassung von Heß widersetzte; Bundesregierung und Opposition konnten ebenso wie die bundesdeutsche und die internationale Öffentlichkeit den Fall nutzen, um gegen die UdSSR zu argumentieren.

Integrationsfigur der extremen Rechten
Für die extreme Rechte war der Spandauer Häftling eine Integrationsfigur; die Forderung nach seiner Freilassung war ein fester Bestandteil der revisionistischen Agenda von Alt- und Neonazis in der Bundesrepublik. Der Inhaftierte galt als Beleg für die Friedensabsichten des Dritten Reichs; er wurde als »Friedensflieger« verklärt.
Besonders Gerhard Frey, Herausgeber der »National-Zeitung« und 1971 Begründer der »Deutschen Volksunion« (DVU), nahm sich des Themas an. Er war Unterzeichner der Petition der »Hilfsgemeinschaft« und konnte sich ausgezeichneter Kontakte ins rechts-konservative UnterstützerInnenlager erfreuen: Mit Heß-Verteidiger und CSU-Politiker Alfred Seidl, 1977/78 bayerischer Innenminister, pflegte Frey eine jahrzehntelange Zusammenarbeit.
Flugblätter, Demonstrationen, Schmierereien, Aufkleber: Politische Aktionen für die Freilassung des Gefangenen waren in der bundesdeutschen extrem rechten Szene äußerst populär; Rudolf Heß war über Jahrzehnte hinweg ein Dauerbrenner. So agitierte beispielsweise der Rechtsterrorist Manfred Roeder mehrfach für dessen Freilassung, etwa als er am 26. April 1974 anlässlich des 80. Geburtstags von Heß mit seiner »Deutschen Bürgerinitiative« einen Aufmarsch nach Berlin-Spandau organisierte. Zeitgleich zu Roeders Demonstration überklebten Neonazis in Südhessen Straßenschilder, um sie in »Rudolf-Heß-Straße« umzubenennen.

Rechtsterroristische Planungen
Auch die rechtsterroristische Szene der BRD nahm sich des Falls an: Verschiedene Gruppen planten die gewaltsame Befreiung des Häftlings aus Spandau. So wollte eine rechtsterroristische Gruppe um den Neonazi Michael Kühnen, die 1979 vor dem Oberlandesgericht Celle angeklagt war, den Gefangenen befreien. Allerdings gingen die Pläne nicht über vage Vorstellungen hinaus, wie das Gericht befand. Etwas konkreter wurde eine Gruppe um den umtriebigen Rechtsterroristen Odfried Hepp, die sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1979 im Schwarzwald zusammengefunden hatte: Sie plante eine Geiselnahme, um Heß freizupressen; einige Mitglieder waren zu diesem Zweck bereits nach Berlin gefahren, um das alliierte Gefängnis zu besichtigen. Im Schloss Ermreuth, dem Wohnsitz von Karl-Heinz Hoffmann (»Wehrsportgruppe Hoffmann«), fand die Polizei im Jahr 1981 Aufzeichnungen über das Militärgefängnis Berlin-Spandau sowie Fotografien, die das Wachpersonal bei der Ablösung zeigten. Anfang der 1980er Jahre schließlich plante Hepp erneut, diesmal mit den Rechtsterroristen Peter Naumann und Walther Kexel, eine Befreiung von Heß mit einem Bombenanschlag.
Die diversen Pläne rechtsterroristischer Gruppen, Rudolf Heß gewaltsam zu befreien, erreichten freilich nie das Stadium der Umsetzung. Es scheint, dass es innerhalb der rechtsterroristischen Szene vielmehr zum guten politischen Ton gehörte, die Befreiung des Häftlings zu diskutieren und zu planen. Ein Indiz für diese Annahme ist die Aktion einer Gruppe um den 59-jährigen Heinrich E. in Schleswig-Holstein, die, als sie 1978 durch einen Einbruchdiebstahl unverhofft an Manöverunterlagen der britischen Armee gekommen war, als Gegenleistung für die Rückgabe der Dokumente die Freiheit für Rudolf Heß forderte. Die Täter hätten, so das Bundesjustizministerium, »mit den gestohlenen Unterlagen zunächst nichts anzufangen gewußt und seien schließlich auf die Idee gekommen, die Freilassung von Rudolf Hess zu erpressen«.

Konsequenzen der Heß-Solidarität
Mit dem Suizid von Heß am 17. August 1987 rissen die politischen Aktionen nicht ab; nun wurde, unter anderem von Alfred Seidl und Heß´ Sohn Wolf Rüdiger das Gerücht verbreitet, der britische Geheimdienst habe den Strafgefangenen ermordet. Die neonazistische Szene konnte mit ihrem Narrativ des »Märtyrers« nahtlos weiterarbeiten und organisierte über Jahre hinweg die Rudolf-Heß-Gedenkmärsche, mit denen sie große Mobilisierungserfolge feierte (s. drr Nr. 168). Nach dem Tod von Heß löste sich die Hilfsgemeinschaft auf; als Nachfolgerin gründete sich die »Rudolf Heß Gesellschaft e. V.«, die nun deutliche Affinitäten zum extrem rechten Lager zeigte; unter anderem nahm sie an den neonazistischen Demonstrationen teil.
Der Fall Heß zeigt, wie sich seit den 1960er Jahren gesamtgesellschaftliche Diskurse mit extrem rechten Forderungen verbinden konnten. An die Vergangenheitspolitik insbesondere des rechts-konservativen Lagers konnte die extreme Rechte nahtlos anknüpfen, wobei, wie der Fall Seidl/Frey verdeutlicht, auch persönliche Kontakte bestanden. Die rechtsterroristische Szene wiederum orientierte sich an den Themen, die in der ex­tremen Rechten populär waren; Rudolf Heß griff sie dabei gerne auf, bot das alliierte Militärgefängnis doch ein konkretes Anschlagsziel. Schließlich wird offensichtlich, dass die erfolgreichen neonazistischen Mobilisierungen zum Heß-Todestag nicht dem luftleeren Raum entsprangen, sondern eine Folge der Kampagnen der vorangegangenen Jahrzehnte waren.

 

30 Jahre Hess-Märsche