Mehr als Familienstreit

von Bernard Schmid
Magazin "der rechte rand" Ausgabe 166 - Mai 2017

Der Erfolg hat viele Väter – und Mütter –, die Niederlage ist ein Waisenkind: Diese Binsenweisheit prägt oftmals die Diskussion nach verlorenen Wahlen. Das gilt für viele unterschiedliche Parteien. Auch der französische »Front National« macht dabei keine Ausnahme.

 

Magazin der rechte rand Ausgabe 166

Kongress „Europa der Nationen und der Freiheit“ Frauke Petry zusammen mit Marine Le Pen © Roland Geisheimer

 

Die Nachricht löste ein mittleres »politisches Erdbeben« bei der politischen Rechten in Frankreich aus: Marion Maréchal-Le Pen, die 27-jährige Juristin und Abgeordnete des »Front National« (FN) in der Nationalversammlung während der letzten fünf Jahre, will im Juni dieses Jahres nicht erneut zu den Wahlen kandidieren. Dies kündigte sie am 10. Mai in einem Interview mit der im Raum Avignon – ihrem Wahlkreis – erscheinenden Lokalzeitung »Vaucluse Matin« an. Zugleich will sie ihre derzeitigen politischen Ämter, insbesondere im Regionalparlament in Marseille, niederlegen.
Die bisher jüngste Abgeordnete der französischen Nationalversammlung erklärte, sie wolle sich »vorläufig« aus der aktiven Politik zurückziehen. Wahrscheinlich wolle sie zunächst Erfahrungen in der Privatwirtschaft sammeln, zudem wolle sie ihrer dreijährigen Tochter mehr Zeit widmen. Allerdings fügte sie hinzu: »Vielleicht komme ich wieder.«
Diese Verlautbarung wird von vielen BeobachterInnen als falscher Rückzug aus dem politischen Leben gewertet. Zwar fasste Marion Maréchal-Le Pen ihren Beschluss nicht spontan infolge der Niederlage ihrer Parteivorsitzenden und Tante Marine Le Pen bei der Präsidentschaftsstichwahl am 7. Mai. Vielmehr hatte sie ihren Schritt intern bereits im November 2016 als wahrscheinlich angekündigt, unter anderem auch vor dem Hintergrund von Dauerkonflikten mit Marine Le Pen.

Tante und Nichte
Der Rückzug kommt dennoch zu einem Zeitpunkt, zu dem der ideologische Linienstreit bei der extrem rechten Partei infolge der Wahlniederlage erneut mit voller Wucht aufbricht. Er kann dementsprechend als Versuch, durch ein Alarmzeichen auf diesen Linienstreit Einfluss zu nehmen, gewertet werden. Oder auch, je nach Sichtweise, als Schwächung eines Flügels innerhalb des innerparteilichen Spektrums, als dessen profilierte Vertreterin die Ultrakatholikin gilt. Ihr Großvater, der in wenigen Wochen 89-jährige Jean-Marie Le Pen – dessen Positionen Marion Maréchal-Le Pen näher stand als die derzeitige Parteivorsitzende – sprach in einer ersten Reaktion auf das Durchsickern der Rückzugspläne am Abend des 9. Mai von einer »Desertion«. Und falls es für diese keine »gewichtigen Gründe« gebe, müsse er einen solchen Schritt als unverzeihlich betrachten. Andere werten die Ankündigung hingegen eher als taktisches Manöver.

Ausbaufähige Ergebnisse
Marine Le Pen erhielt in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl 33,9 Prozent der Stimmen. Das war weniger als erwartet und ist vor allem auf ihr miserables Abschneiden bei der Fernsehdebatte mit ihrem Gegenkandidaten Emmanuel Macron am 3. Mai zurückzuführen. Dabei bewies Le Pen vor allem in wirtschaftlichen Fragen eine beinahe erstaunliche Inkompetenz, nachdem der FN jahrelang auf »Professionalisierung« und »Intellektualisierung« gesetzt hatte.
Dennoch schnitt Marine Le Pen, die insgesamt knapp elf Millionen Stimmen, und damit einen neuen historischen Rekord für den FN, einfuhr, in einigen Landstrichen und sozialen Gruppen bedenklich hoch ab. 56 Prozent der IndustriearbeiterInnen, sofern sie überhaupt zur Wahl gingen, wählten Marine Le Pen. In 45 von 577 Wahlkreisen und in zwei von knapp einhundert französischen Départements oder Bezirken – Aisne und Pas-de-Calais – erhielt sie eine absolute Stimmenmehrheit. Beide liegen im von der industriellen Krise gebeutelten Nordosten Frankreichs. In weiteren 66 Wahlkreisen lag Marine Le Pen über 45 Prozent. Auf diese insgesamt 111 Stimmbezirke von 577 will der FN sich nun bei den im Juni anstehenden Parlamentswahlen konzentrieren. Aufgrund des geltenden Mehrheitswahlrechts dürfte der »Front National« nur dort realistische Chancen haben, einige KandidatInnen durchzubringen. Doch spätestens, wenn diese Wahlen vorüber sind, wird der Richtungsstreit voll aufbrechen – bis dahin wird der Flügelkampf noch zurückgestellt, um den Erfolg nicht zu gefährden.

Kulturkampf vs. Querfront
Zwei grundlegende Konzepte stehen sich dabei innerhalb der Partei gegenüber. Die eine besteht darin, sich als entschiedene Rechtspartei auf einer Links-Rechts-Achse zu verorten. Dies impliziert, »die Sozialisten« neben dem Islam und den EinwandererInnen als HauptgegnerInnen zu betrachten. Der Misserfolg der Regierungspolitik in der fünfjährigen Amtszeit von Präsident François Hollande illustriert demnach den Fehlschlag »linker Politik« generell, was wiederum auf ihren »utopischen« und zu sehr auf soziale Gleichheit ausgerichteten Charakter zurückzuführen sei. Zwar gehört ziemlich viel Fantasie dazu, Hollandes Politik seit 2012 mit dem Marxismus in Verbindung zu bringen, doch wird in dieser Sichtweise François Hollandes Scheitern als Ausdruck des Bankrotts der politischen Linken schlechthin dargestellt. Angriffspunkte dieser Linie im rechten Lager – zu welchem Marion Maréchal-Le Pen gehört – sind folglich vor allem die »Attacken der Linksregierung auf tradierte Werte«, wie durch die Zulassung der Ehe für homosexuelle Paare seit einem Gesetz vom 17. Mai 2013.
Die andere Linie jedoch verwirft das Links-Rechts-Schema generell und gibt an, als Repräsentantin einer fundamentalen Alternative sei die eigene Partei »weder links noch rechts, sondern national« und deswegen der übergreifenden Volksgemeinschaft verpflichtet. Dieses Motto war sinngemäß – »Ni droite ni gauche, français« (»Weder rechts noch links, französisch«) – im Jahr 1995 erstmals durch Teile des »Front National« übernommen worden. Eine Vorreiterrolle dabei spielte damals der Chef der Jugendorganisation FNJ, Samuel Maréchal. Dieser damalige Schwiegersohn von Jean-Marie Le Pen hat sich heute aus der Politik zurückgezogen und ist mittlerweile mit der Urenkelin des ehemaligen Präsidenten der Elfenbeinküste, Félix Houphoët-Boigny, verheirat. Doch damals war er einer der Vertreter einer »radikalen Linie«, die auf Äquidistanz zu Konservativen und Linken gleichermaßen besteht. Der Slogan war allerdings gleichlautend bereits in den 1930er und frühen 40er Jahren durch den »Parti Populaire Français« von Jacques Doriot, eine eng mit Nazideutschland zusammenarbeitende Partei, deren Chef ein ex-kommunistischer Renegat war und 1945 in Nazideutschland starb, verwendet worden.
Eine Grundidee hinter der »Weder rechts noch links«-Parole lautet, die wirkliche politische Frontlinie verlaufe nicht mehr zwischen den traditionellen Ideologien der so genannten Altparteien – die Gedankengebäude von gestern seien –, sondern zwischen NationalistInnen oder »Verteidigern der eingewurzelten Identitäten« einerseits und den »Globalisten« andererseits. Zu Letzteren lassen sich dann die Anhänger eines kapitalistischen Freihandelsregimes, die linken Internationalistinnen oder auch VerfechterInnen der Universalität der Menschenrechte hinzurechnen.
In abgemilderter Form, ohne die offensichtlich braunen Erklärungsmuster mitzuliefern, die in den 1990er Jahren beim FN noch explizit en vogue waren, hat Marine Le Pen diese Linie nach ihrer Übernahme des Parteivorsitzes 2011 verfolgt. Zur Anwendung dieser Linie, die an prominenter Stelle durch ihren Vizevorsitzenden Florian Philippot durchexerziert wird, zählt insbesondere die soziale Demagogie, da es WählerInnen der Linken anzuziehen gelte, die von Hollandes Bilanz enttäuscht seien. Zur Durchsetzung der eigenen sozialen Versprechungen wird wiederum der Austritt aus dem Euro – zwecks »Erlangung finanz- und wirtschaftspolitischer Souveränität« – durch diese Strömung als zentral betrachtet. Umgekehrt wird »moralischen« und gesellschaftspolitischen Fragen, etwa die Ablehnung der Homosexuellenehe betreffend, durch diesen Flügel eine deutlich niedrigere Priorität eingeräumt.
Die »Philippot-Linie«, die umso mehr mit dem Namen des jungen Vizevorsitzenden verknüpft wird, als dieser nach verlorener Wahl nun verstärkt unter Beschuss gerät, rückt nun ins Zentrum der Kritik. Die Vernachlässigung des reaktionären »Kulturkampfs« bei gleichzeitiger Betonung sozialer Themen wird als schwerer Fehler dargestellt. Ein anonym bleibender Regionalverordneter des FN verweist in »Le Monde« vom 10. Mai darauf, dass nur sieben Prozent der zwischen den beiden Durchgängen der Präsidentschaftswahl umworbenen WählerInnen des Linkskandidaten Jean-Luc Mélenchon, aber immerhin zwanzig Prozent derer des Konservativen François Fillon in der Stichwahl Le Pen gewählt hätten. Der Aufwand gegenüber Ersteren sei demzufolge weitgehend nicht erfolgreich gewesen.
Zudem verweisen die innerparteilichen KritikerInnen darauf hin, dass der Euro-Austritt vielen zwischen Konservativen und FN stehenden WechselwählerInnen nach wie vor Angst mache – KleinunternehmerInnen und RentnerInnen fürchten bei einer Währungsumstellung um ihre Ersparnisse. Dementsprechend müsse diese Forderung relativiert werden. Die VerfechterInnen einer stärkeren Annäherung an rechte Konservative sind ohnehin tendenziell bereit dazu, die EU- und Eurokritik hintanzustellen, und könnten auch mit einer Bezugnahme auf ein »weißes und christliches Abendland« innerhalb des EU-Rahmens mehr oder minder gut leben. Dies wird in einer Stellungnahme des extrem rechten Bürgermeisters von Béziers – Robert Ménard – vom 9. Mai erkennbar. Er verkündete, es gelte nicht immer den Fehler in Brüssel zu suchen, wenn es in Frankreich »an Autorität mangelt« und es »Einwanderungsprobleme« gebe. Nicht die EU sei an den – aus einer Sicht – gravierenden Fehlentwicklungen schuld, vielmehr sei »Frankreich groß genug, eigene Dummheiten zu machen«.

Kritik und Machtspiele
Auch in anderen Reaktionen, die auf die Ankündigung von Marion Maréchal-Le Pens Rückzug hin erfolgten, deutet sich an, dass nunmehr bevorzugt die Euro-Austrittsforderung sowie einige soziale Diskurselemente unter Beschuss geraten könnten. Beispielsweise erklärte ein ungenannter »FN-Mandatsträger aus Südfrankreich«, den eine AFP-Meldung zitiert, er wolle nicht in der Partei bleiben, »um Forderungen wie die nach einem niedrigeren Rentenalter aufrecht zu erhalten oder die Idee eines Euro-Austritts innerhalb von acht Tagen zu verteidigen«. Umgekehrt reagierte Vizevorsitzender Philippot auf diese Offensive, indem er laut einer Information der Wirtschaftszeitschrift »Challenges« vom 11. Mai ankündigte, die Partei zu verlassen, sollte diese der Forderung nach Austritt aus dem Euro den Rücken kehren.
Zudem brachte Marine Le Pen bereits am Wahlabend einen weiteren Streitpunkt in die Debatte ein, als sie zu erkennen gab, dass sie nunmehr eine Umbenennung der Partei anstrebe, um in Teilen der Gesellschaft noch bestehenden Vorbehalten gegenüber ihrem historischen Erbe den Wind aus den Segeln zu nehmen. Diese Idee hatte Philippot jedoch bereits 2014 aufgebracht – und er ließ damals bereits einen potenziellen Namen beim Patentamt eintragen: »Les Patriotes«. Aufgrund massiver innerparteilicher Widerstände, die schnell mit Verrats- und Aufgabe-Vorwürfen einhergingen, wurde das Vorhaben vor dem Parteitag vom November jenes Jahres in Lyon sang- und klanglos zurückgezogen. Auch dieses Mal könnte sich verbrennen, wer dieses heiße Eisen anfasst. Jean-Marie Le Pen, dessen Finanzierungsstruktur COTELEC den Wahlkampf des FN mit sechs Millionen Euro unterstützte (wozu sie allerdings auch aufgrund ihrer Statuten juristisch verpflichtet war), wetterte am 9. Mai gegen diesen neuen Versuch eines »Verrats« an Grundlagen und Traditionen der Partei.