Abflauendes Lauffeuer und Radikalisierung

von Lucius Teidelbaum, Lisa Krug, Sören Frerks und Robert Andreasch
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 196 - Mai | Juni 2022

#Corona

»Sachsen ist ohne Frage das Zentrum der Pandemie-Aufmärsche. Doch in anderen Regionen sind die Corona-Proteste ebenfalls ein Schmelztiegel von Verschwörungsgläubigen und AfD, Neonazis und mutmaßlichen Rechtsterrorist*innen.

Teilnehmer*innen eines »Spaziergangs« in Rostock. © Mark Mühlhaus / attenzione

Baden-Württemberg: Der Niedergang des Michael Ballweg

Im Südwesten kam es wie bundesweit seit Herbst 2021 zu einem Aufschwung der Proteste von Pandemie-Leugner*innen. Neuer, bevorzugter Wochentag wurde wie andernorts der Montag. Zeitweise gingen zehntausende Menschen auf die Straße. Anfang dieses Jahres wurde dann der Höhepunkt erreicht. Am 17. Januar 2022 gab es laut Behördenangaben in Baden-Württemberg 356 Demonstrationen mit etwa 70.000 Teilnehmenden. Bei bundesweit 260.000 war damit die Beteiligung im »Ländle« überdurchschnittlich hoch. Zu Hotspots bildeten sich Göppingen, Freiburg, Reutlingen und Pforzheim heraus. Alles Mittelstädte mit einer Kontinuität in Bezug auf die Corona-Proteste.

Im Gegensatz zu 2020 bis Mitte 2021 stellte die Landeshauptstadt Stuttgart keinen Kristallisationspunkt mehr dar. In größeren Städten wie Karlsruhe oder Mannheim war die Beteiligung ebenso rückläufig. Gleichzeitig verlagerten sich die Proteste mehr und mehr in die Klein- und Mittelstädte. Hier wurden hunderte, manchmal sogar weit über 1.000 Personen mobilisiert. So geschehen in Achern, Baden-Baden, Balingen, Brackenheim, Freudenstadt, Friedrichshafen, Göppingen, Heidenheim an der Brenz, Brackenheim, Ludwigsburg, Nagold, Offenburg, Pforzheim, Ravensburg, Reutlingen, Rottweil, Schwäbisch Gmünd, Singen, Ulm und Villingen.

Für die vielen Proteste existiert kein zentrales Label mehr. Die Organisation erscheint dezentral und die einstmals wichtige Marke »Querdenken« spielt kaum noch eine Rolle. Die »Reichsbürger«- und »QAnon«-Kontakte der ehemaligen Führungsfigur Michael Ballweg sowie dessen Beobachtung durch den Verfassungsschutz scheinen dafür gesorgt zu haben, dass seine Marke »verbrannt« ist, unter der im ersten Pandemiejahr noch Zehntausende zu Großdemonstrationen in der Bundesrepublik strömten. Mittlerweile steckt Ballweg, der die Massenproteste als Geschäftsmodell nutzte, nach eigenen Angaben in finanziellen Schwierigkeiten.

Im Gegensatz zu anderen Bundesländern spielte die extreme Rechte bei der Organisation der Proteste in Baden-Württemberg bisher keine federführende Rolle und blieb auch unter den Beteiligten eine verhältnismäßig kleine Minderheit. Rechtsoffene Esoteriker*innen und die anthroposophische Szene sind dagegen weitaus häufiger vertreten (s. drr Nr. 189). Eine Studie der Soziolog*innen Oliver Nachtwey und Nadine Frei zu »Quellen des Querdenkertums« kam zu dem Schluss, die hiesige Radikalisierung speise sich vor allem aus der gesellschaftlichen Mitte heraus.

Extrem Rechte versuchen eher punktuell mitzumischen. Im Umfeld der Proteste wurden aber unter Tarn-Namen wie »Schwaben-Bande« oder »Pforzheim Revolte« identitäre Gruppen wieder gegründet. Dabei dienten die Demonstrationen nicht nur als Aufmarschorte, sondern zugleich als Treffpunkte. In Pforzheim war die besagte Gruppierung mit großen Transparenten vertreten und in Reutlingen zeigten sich Aktivist*innen von »Der III. Weg« ebenfalls mit einem eigenen Banner.

Parallel dazu bemühte sich die »Alternative für Deutschland« (AfD) von den Protesten zu profitieren, indem sie in ihren Hochburgen eigene Veranstaltungen organisierte. Zwischen Januar und März 2022 gab es mindestens acht AfD-Demonstrationen: in Bad Mergentheim, Göppingen, Heilbronn, Reutlingen, Rottweil und Stuttgart. Doch die Versuche der AfD, auf den Zug aufzuspringen, scheiterten. Über die eigene Kernklientel hinaus konnte sie niemanden mobilisieren. In der Spitze kamen maximal 300 Personen zusammen, teilweise waren es sogar nur um die 50 Teilnehmende. An manchen Orten, wie in Baden-Baden, war mitunter selbst die Konkurrenz von der Splitterpartei »Die Basis« erfolgreicher.

Mecklenburg-Vorpommern: Angeführt von Neonazi-Kadern

Im Nordosten wurden bei den Montagsprotesten zu Höchstzeiten wie am 11. Januar 2022 über 15.000 Teilnehmer*innen in rund 30 verschiedenen Städten gezählt, unter anderem in Güstrow, Bergen auf Rügen, Parchim und Greifswald. Die Hotspots lagen zahlenmäßig in Schwerin, Rostock und Neubrandenburg. Dennoch sind die Mobilisierungen in kleineren Orten nicht zu vernachlässigen, auch in puncto Gewaltbereitschaft. So wurden bei einer unangemeldeten Demonstration mit 400 Teilnehmenden in Anklam nicht nur Maskenauflagen ignoriert, sondern ebenso versucht, eine Polizeiabsperrung zu durchbrechen. Gleiches geschah in Pasewalk. Zuvor kam es schon in Wolgast zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Danach wurden bei einem Festgenommenen zwei Messer beschlagnahmt.

Die größten und gewalttätigsten Demonstrationen fanden in Rostock statt. Immer wieder zogen die Corona-Proteste dort Angehörige der extremen Rechten an. Zwar sind es vorrangig Angehörige der »Querdenken«-Szene oder andere Coronaleugner*innen und »Wutbürger*innen«, die den Protestzug organisieren. Häufig reihen sich aber gewaltbereite Hooligans und Rocker bis hin zu bundesweit bekannten Parteikadern ein. Unter anderem Sven Krüger (NPD) aus Jamel, der »Hammerskin« Steffen Borchert und Daniel Sebbin von der »Identitären Bewegung«. Oder Alexander Deptolla vom »Kampf der Nibelungen« aus Dortmund und der altbekannte Christian Worch, mittlerweile Bundesvorsitzender der Partei »Die Rechte«. Vor allem organisierte Neonazis sind es, die gehäuft das Aggressions- und Gewaltpotenzial antreiben. Diese Klientel stand im Januar dieses Jahres in der Hansestadt wiederholt in vorderster Reihe und griff Polizeiketten an, um dem Rest der Demonstration mit mehreren tausend Teilnehmenden den Weg zu bahnen. Dies wurde von den Einsatzkräften abgewehrt. Bei einer Person fand die Polizei einen Schießkugelschreiber mit Munition.

Trotz des nach diesen Ausschreitungen verhängten Veranstaltungsverbots versammelte man sich erneut, wieder kam es zu Auseinandersetzungen. Gleichwohl setzte seit Februar in ganz Mecklenburg-Vorpommern ein massiver Rückgang ein, der bis dato anhält. Waren in den Wintermonaten noch tausende Menschen unterwegs, sind es mittlerweile wenige hundert. Auf Telegram sucht die Szene nunmehr nach neuen Mobilisierungsmöglichkeiten. Was das heißt, sah man bereits im März in Pasewalk, als einzelne Teilnehmende mit »Z«-­
T-Shirts ihre Unterstützung für Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine demonstrierten.

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Thüringen: Von »Spaziergängen« und Terrorplänen

Im Freistaat machte sich die Dynamik der Corona-Proteste im benachbarten Sachsen deutlich bemerkbar. Am 24. Januar waren es über 26.000 Teilnehmende auf über 60 Veranstaltungen, unter anderem in Altenburg, Saalfeld und Gotha. Somit kam es in Thüringen ähnlich wie im Bundestrend Anfang dieses Jahres zum Höhepunkt der Demonstrationen. Dabei wurden in Weimar zwei Fotografen angegriffen. Ähnliches wiederholte sich Ende Februar in der Landeshauptstadt Erfurt. In Greiz, wo auch Mitglieder der Splittergruppierung »Neue Stärke Partei« (NSP) an den Aufmärschen teilnahmen, gab es Ausschreitungen. In Hildburghausen kam es ebenfalls zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. In Anlehnung an die Kleinstpartei »Freies Sachsen« hat sich zudem die Initiative »Freie Thüringer« gegründet, die vor allem in Ostthüringen aktiv ist und es bei Telegram auf rund zehntausend Follower bringt.

Ein Schwerpunkt der Proteste lag in den vergangenen Monaten in Gera. Dort gingen über Wochen mehrere tausend Menschen auf die Straße, unter offener Beteiligung von einschlägigen Neonazis, »Reichsbürgern« und AfD-Mitgliedern. Darunter der NSP-Bundesvorsitzende Michel Fischer oder Björn Höcke. Letzterer führte Anfang April den »Spaziergang« an. Wenige Wochen zuvor wurde an der Spitze ein Transparent mit der Aufschrift »Kontrolliert die Grenzen – Nicht euer Volk« getragen, wie es in der Vergangenheit bereits in Cottbus zu sehen war. Schwarz-weiß-rote Symbolik und Russland-Fahnen werden hier wie im benachbarten Greiz ebenso zur Schau gestellt. Das Anzeigenblatt »Neues Gera«, vertrieben vom örtlichen Vorsitzenden der AfD-Stadtratsfraktion, feuert die Proteste an, was jedoch nicht verhindern konnte, dass die Demonstrationen Woche für Woche kleiner werden.

Das tut der Radikalisierung in der Szene keinen Abbruch. So sitzt der Eisenacher Leon Ringl, der sich an gewalttätigen Corona-Aufmärschen beteiligt haben soll, seit Anfang April in Untersuchungshaft. Der Vorwurf der Bundesanwaltschaft: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Er soll nicht nur der Kampfsportgruppe »Knockout 51«, sondern zugleich der »Atomwaffen-Division Deutschland« angehört haben (s. drr Nr. 173). Auch bei den extrem rechten Pandemie-Leugner*innen der »Vereinten Patrioten«, die ebenfalls ein Terrornetzwerk gegründet haben sollen, führt die Spur nach Thüringen. Gegen sie ermittelt der Generalbundesanwalt wegen der mutmaßlich geplanten Entführung von Gesundheitsminister Lauterbach. Zwei konspirative Treffen hätten im Frühjahr in Thüringen stattgefunden und ein Beteiligter wohnte bis vor kurzem wohl dort.

Bayern: Die AfD mittendrin

Es ist April 2022: Bis zu dreihundert Coronaleugner*innen gehen regelmäßig in dem kleinen Ort Simbach direkt gegenüber dem österreichischen Braunau auf die Straße. Dazwischen organisieren sie sich in der Telegram-Gruppe »Spaziergänger Simbach am Inn«. Dort werden antisemitische Posts und Gewaltdrohungen verbreitet, unter anderem die aus dem NS-»Stürmer« stammende Karikatur »Der Juden Kriegsgott«. Ein Channel-Admin ist der AfD-Bundestagsabgeordnete und bayerische Landesvorsitzende Stephan Protschka. Er postet dort nicht nur selbst, sondern meldete zuletzt noch eine Demo für die Gruppe an. Als der zweite Bürgermeister der Kleinstadt die Chatgruppe öffentlich kritisiert, wird er kurz darauf attackiert: Unbekannte besprühen sein Haus und die Umgebung mit »Z«-Symbolen und der Diffamierung als »Volksverräter«.
Seit Pandemiebeginn gab es in Bayern eine fünfstellige Zahl an Corona-Demonstrationen. Allein in den letzten Monaten fanden an Montagen landesweit rund 400 Versammlungen statt, oft waren insgesamt mehr als 50.000 Menschen pro Abend auf der Straße. Weder AfD-Strukturen noch die Neonaziszene im Freistaat sind gut genug aufgestellt, um derart viele Aktionen zu dominieren. Das macht die Veranstaltungen allerdings keineswegs harmloser. Denn antisemitische Hetze und Aufrufe zum Umsturz gehören dennoch dazu, ebenso wie Attacken gegen die Presse und Antifaschist*innen. Auch war die ex­treme Rechte in einigen Orten sehr wohl in die Proteste eingebunden.

In München marschierten Akteur*innen der »Identitären Bewegung« und der »Burschenschaft Danubia« mit und in Ostbayern half die AfD-Landtagsabgeordnete Katrin Ebner-Steiner, nicht angemeldete Aufläufe versammlungsrechtlich zu legalisieren, indem sie zeitgleiche »Mobile Bürgersprechstunden« auf den Plätzen durchführte. In Deggendorf traten Michael Kastner (früher »Freies Netz Süd«) oder das ehemalige NPD-Bundesvorstandsmitglied Ulrich Pätzold führend in Erscheinung. Und in Schwandorf wurde Patrick Schröder, Betreiber des »FSN-Versands«, bei einer Rede von über tausend Menschen bejubelt.

Und auch in Bayern gab es wie in Thüringen und weiteren Bundesländern Durchsuchungen der Bundesanwaltschaft gegen mutmaßliche Angehörige der »Vereinten Patrioten«. Dabei wurden in der Nähe von Landshut und Bayreuth ganze Waffenlager beschlagnahmt. Eines ist angesichts dieser Funde und Terrorermittlungen sicher: Die abflauende Protestwelle ist mitnichten ein Grund zur Entwarnung.