NSU: Mühsame Aufklärung

von Sandra Lex und Ernst Kovahl
Magazin "der rechte rand" - Ausgabe 162 - September 2016

des hessischen V-Mann-Führers Andreas Temme, die schützende Hand des damaligen hessischen Innenministers über dem Geheimdienst, die Ungereimtheiten rund um die Ermordung Michèle Kiesewetters, die Funktion und realen Auswirkungen des undurchschaubaren V-Leute-Systems in den Verfassungsschutzämtern als Aufbauhelfer und Beschleuniger der Neonazi-Szene, die zeitgenaue Vernichtung und das Zurückhalten von Akten und Beweismitteln durch den Geheimdienst, die tatsächliche Dimension der Unterstützung für die Abgetauchten durch die Neonazi-Szene, die Existenz weiterer HelferInnen und möglicher unentdeckter Terrorstrukturen, die Bedeutung der offenkundigen Überschneidungen zwischen der militanten Rechten und organisierter Kriminalität, die Verharmlosung rechter Gewalt durch Konservative und Sicherheitsbehörden und die hohe Wirkung des gesellschaftlichen Rassismus und der Ende der 1990er Jahre vom Konservatismus losgetretenen Diskurse um die doppelte Staatsbürgerschaft, Migration und die Frage, wer wie in Deutschland leben kann.

… und heute?

Spätestens seit den frühen 1990er Jahren sind die sich wechselseitig stärkenden Dynamiken am rechten Rand zwischen rassistischen Mobilisierungen auf der Straße, Wahlerfolgen am rechten Rand, Gesetzesverschärfungen, Hetze und einem Rechtsruck der gesamten Gesellschaft überdeutlich zu erkennen – ein Kreislauf und ein kurzer Weg zu Brandsätzen. Die heutige Stimmung ähnelt der in den 1990er Jahren. Rassistische Massenaufmärsche in Dresden, Demonstrationen gegen Geflüchtete und Unterkünfte quer durchs Land, Brandanschläge, Wahlerfolge der AfD, Gesetzesänderungen… Der rassistische Stammtisch und die extreme Rechte fühlen sich erneut bestätigt und ermutigt. Heute ist die Szenerie offenbar so drastisch, dass selbst Hessens Verfassungsschutz-Chef Robert Schäfer warnt: »Sie fühlen sich im Aufwind«. Terroranschläge seien der Neonazi-Szene zuzutrauen, warnte er Anfang September 2016 auf einer Tagung in Wiesbaden und verwies auf den Mordanschlag auf die Kölner Politikerin Henriette Reker.

Ambivalente Konsequenzen

Die Konsequenzen aus dem Auffliegen des NSU sind ambivalent. Einerseits hat es eine faktische Stärkung der Verfassungsschutz-Behörden und der Sicherheitsarchitektur gegeben, teils sogar einen erheblichen Stellenaufbau in den Diensten. Auch hat der gesamte NSU-Skandal recht deutlich das Signal an die Neonazi-Szene ausgesendet, dass die Behörden keine großen Kompetenzen und keinen ausgeprägten Willen zur Verfolgung rechter Straf- und Gewalttaten haben. Andererseits wuchs das mediale und politische Interesse am Thema immens und damit erweiterten sich die Fördermöglichkeiten für Projekte gegen Rechts. Handlungsempfehlungen, Leitfäden oder Bildung gegen Rassismus gehören heute zur alltäglichen Arbeit. Die Debatten rund um den NSU haben maßgeblich dazu beigetragen, die Extremismustheorie in die Defensive zu treiben, auch wenn sie gerade in den Behörden weiterhin virulent und wirkmächtig ist. Die Verfassungsschutz-Reformen in Niedersachsen und Thüringen haben dem Nachrichtendienst zwar durchaus Schläge versetzt, doch eine Auflösung ist offenbar unter den gegebenen Kräfteverhältnissen nicht durchsetzbar. In der Polizei und vor allem den Verfassungsschutzbehörden scheinen Korpsgeist, eingeübte Feindbilder, Ressentiments, Intransparenz und mangelnde Kompetenzen beim Blick nach rechts unüberwindbar. Der Geheimdienst hat bewiesen, dass er nicht vor rechter Gewalt schützt, sondern Teil des Problems war und ist.