Rückkehr der Schwarzhemden?
von Florian Weis
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 210 - September | Oktober 2024
#Großbritannien
Über die Macht und Grenzen des gewalttätigen Mobs, der nach den Morden von Southport in Großbritannien wütete.

Roland Geisheimer / attenzione
Am 29. Juli 2024 ermordete ein siebzehnjähriger junger Mann in der nordwestenglischen Stadt Southport drei Mädchen im Alter von sechs bis neun Jahren und verletzte weitere acht Kinder und zwei Erwachsene zum Teil schwer. Der Mörder ist in Wales als Kind von Einwander*innen aus Ruanda geboren worden. Die Polizei stufte die Taten als Morde und Mordversuche, jedoch nicht als Terroranschlag ein. Nichtsdestotrotz verbreiteten sich in den sozialen Medien in kürzester Zeit Gerüchte und Lügen, der Attentäter sei ein Geflüchteter und Muslim. Am 30. Juli griff dann ein Mob – ein Begriff, der bei aller gebotenen Vorsicht hier angemessen erscheint – in Southport mit heftiger Gewalt Polizist*innen und eine Moschee an. In den folgenden Tagen weiteten sich die Riots auf viele andere Städte aus, wobei die Midlands, Liverpool und große Teile Nordenglands Schwerpunkte der Gewalt waren, die auch Belfast in Nordirland und, in geringerem Maße, London erreichten.
Die von hoher Brutalität gekennzeichneten Angriffe richteten sich in erster Linie gegen Polizist*innen, Geflüchtete und – wirkliche oder vermeintliche – Muslime. Die Gewalt und die Zerstörung von privatem wie öffentlichem Eigentum, zum Sinnbild wurde die Spellow Lane Library in Liverpool, erinnerten an die anders gelagerten Riots 2011. Das Ausmaß der Gewalt gerade gegen die Polizei überstieg jedoch frühere Konfrontationen.

Proteste und staatliche Reaktionen
Die Welle der Gewalt hielt mehrere Tage an, ehe sie dann stark abebbte. Daran haben Gegenproteste und Solidaritätsaktionen in vielen Städten, die nach einigen Tagen sichtbar wurden, einen großen Anteil, mehr aber noch das massive staatliche Vorgehen von Regierung, Polizei und Justiz. Viele Instrumente, die aus antifaschistischer und liberal-libertärer Sicht höchst problematisch erscheinen,, erwiesen sich in den ersten August-Tagen als außerordentlich wirksam gegen die massive Gewalt: eine überregional einsetzbare Riot Police, Schnellverfahren vor Gerichten, die in dieser Kürze und mit solch hohen Strafen in Deutschland kaum möglich wären, eine öffentliche Anprangerung der Gewalttäter*innen durch Fotos und Namensnennungen. Bereits nach wenigen Tagen waren erste Personen zu teils mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden, die bisher längste verhängte Strafe beläuft sich auf neun Jahre. Die Altersspanne der festgenommenen und angeklagten Personen reicht von 11 bis 70 Jahren; in Großbritannien ist die Strafmündigkeit niedriger als in Deutschland. Fast alle Verurteilten sind Jungen oder Männer, wenngleich sich in den größeren Menschenmengen, die sie unterstützten, auch viele Frauen fanden.
Hinter den gewalttätigen Ausschreitungen stand keine zentrale Organisation, Führung oder geschlossene Ideologie wie bei den Organisationen des Faschisten aus der Oberschicht, Sir Oswald Mosley, in den 1930er und 1940er Jahren. Das machte die rechte Gewalt zunächst unberechenbar. Angefeuert durch die seit Jahren ausgeprägte Hetze in den einschlägigen sozialen Medien konnte die Mobilisierung schnell gelingen und eskalieren, sich jedoch angesichts der staatlichen Entschiedenheit und zivilgesellschaftlicher Gegenwehr nicht halten. Die neue Labour-Regierung unter Premierminister Keir Starmer, ein ehemaliger Leiter der Strafverfolgung in England und Wales, und Innenministerin Yvette Cooper erwies sich als handlungswillig und -fähig. Beide stehen für eine harte innenpolitische Linie im Sinne von Tony Blairs Slogan von 1997 »tough on crime, tough on the causes of crime«.
Richtungskampf auf der Rechten
Der »böse Geist« der britischen Politik des letzten Jahrzehnts, Nigel Farage, dessen »Reform UK Party« am 4. Juli 2024 über 14 Prozent der Stimmen und fünf Unterhausmandate gewann, übte sich in dem für Rechtspopulist*innen üblichen Spagat von Distanzierung gegenüber der Gewalt bei gleichzeitigen Verständnisbekundungen für die vermeintlichen Ursachen der Eskalation. Die besonders vulgäre und extreme Frauenverachtung des ehemaligen Kickboxers und Influencers Andrew Tate hatte Farage schon im Wahlkampf, bei dem seine Partei einen großen Stimmenzuwachs unter jungen Männern erzielte, für sich zu nutzen versucht, indem er sich als eine etwas moderatere, aber in der Wirkung auf junge Männer ähnliche Figur wie Tate bezeichnet hatte. Eben dieser Andrew Tate hatte über seine Social-Media-Kanäle nun die Krawalle angestachelt.
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Das Ziel von Farage ist es, entweder die konservative Partei noch weiter nach rechts zu drängen und in eine Partei der Art seines Freundes Donald Trump zu verwandeln, oder sie als die rechte Hauptalternative zur sozialdemokratischen Labour Party zu ersetzen. Beide Szenarien sind bedrohlich für die Zukunft der britischen Demokratie. Von den zunächst sechs Kandidat*innen für die Nachfolge von Rishi Sunak an der Spitze der Konservativen hat sich erwartungsgemäß der einzig wirklich zentristische Kandidat, Tom Tugenhat, eindeutig gegen die Ausschreitungen und für eine harte Reaktion ausgesprochen, allerdings auch einige rechte Hardliner*innen wie die frühere Innenministerin Priti Patel, die mittlerweile aus dem Rennen ausgeschieden ist. Andere Vertreter*innen des rechten Parteiflügels, wie Robert Jenrick und mehr noch Kemi Badenoch und Suella Braverman, ließen diese Klarheit vermissen, die bei Angriffen auf Polizei, Staat und Eigentum für Konservative selbstverständlich sein sollte.
Ob sein ambivalentes Reagieren Nigel Farage schaden wird, darf angesichts der Erfahrungen in anderen europäischen Ländern und seiner eigenen wiederholten Comebacks bezweifelt werden. Entscheidender wird auf lange Sicht sein, ob die neue Labour-Regierung reale Verbesserungen für die Lebensverhältnisse in jenen Teilen Nordenglands und der Midlands erreichen kann, in denen die Riots besonders massiv waren, und ob die konservative Partei den seit spätestens 2016 anhaltenden Trend einer rechtspopulistischen Radikalisierung stoppen und eine »Brandmauer« zur rechten Gewalt herstellen will und kann.