Zeitgeschichtliche Differenz

von David Begrich
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 211 - November | Dezember 2024

Dass und wie die politische Kultur Ostdeutschlands aufgrund ihrer Vorgeschichte in der DDR anders tickt als im Westen, gerät in der politisch medialen Debatte um den Erfolg der AfD in Ostdeutschland rasch aus dem Blick. Davon will die Partei profitieren.

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Eine ostdeutsche Identität als Volk, das sich wehren kann, und auch Bezüge zur DDR werden nicht nur von der AfD bei Veranstaltungen und Wahlen propagandistisch genutzt. Auch auf der Straße spielt die Identitätspolitik in Ostdeutschland eine Rolle.
© Mark Mühlhaus / attenzione

Zum Ende des Wahlkampfs in Thüringen im vergangenen August hatten die AfD-Wahlkampfstrategen einen besonderen Termin angesetzt: eine kollektive Ausfahrt mit dem Moped der Marke »Simson« im von Höcke avisierten, aber letztlich nicht gewonnenen Wahlkreis Greiz in Ostthüringen. Begleitet von dem rechten Streamer Sebastian Weber und dem Filmautor Simon Kaupert vom »Filmkunstkollektiv« ging es mit Geknatter durch den Wahlkreis. Dass sich Björn Höcke auf dem DDR-Kultmoped »Simson S51« in Szene setzt, ist kein Zufall. Die AfD macht gern Politik mit Emotionen. In Ostdeutschland sucht sie dabei Anschluss an die kulturelle Erinnerung und das Bewusstsein der Ostdeutschen für die zeitgeschichtliche Differenz ihrer Alltagserfahrungen zu Westdeutschland. Die »Simson« scheint hierfür ein ideales Objekt der Verdinglichung ostdeutscher kultureller Erinnerung, gerade im ländlichen Raum. Sie war in der DDR DAS Geschenk zur Jugendweihe, weil sie Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein Stück elternunabhängige Mobilität und damit Freiheit verlieh. Mit der Indienstnahme der lebensweltlichen Bedeutung des »Simson«-Mopeds verknüpft die AfD die kulturelle Erinnerung an sie mit dem, was Björn Höcke als politische Botschaft übermitteln will: eine politisierte Emotion, die über die Erinnerung an die »Simmi« hergestellt wird. »Simmi«, so der von Höcke verwendete Kosename für das Ost-Moped, stehe für »alte Tradition« und »Gemeinschaft«, aber auch »für die Jugend«. Höcke spielt die genehmen Fragmente einer ostdeutschen Identitätskarte dort aus, wo er seine ostdeutschen Adressat*innen für eine nationalistische Gesamterzählung der AfD in Dienst nehmen will, um diese als Gegenentwurf zum von ihm verachteten amerikanisierten und westlich dekadenten Liberalismus zu präparieren.

Das »deutschere« Deutschland
Ostdeutschland, das aus Sicht der extremen Rechten wohl eigentlich als Mitteldeutschland bezeichnet werden sollte, erscheint der AfD seit langem als das eigentliche, weil deutschere Deutschland. Dieser Befund ist keineswegs nur über die nach wie vor hohe Homogenität der Bevölkerung und einen signifikant geringeren Anteil von Migrant*innen charakterisiert. Ebenso von Bedeutung ist die in Ostdeutschland quer durch die politischen Lager verlaufende Skepsis bis Ablehnung gegenüber mannigfaltigen Aspekten der Westorientierung der alten Bundesrepublik. Ihre Ursache hat dies in der zeitgeschichtlichen Erfahrung mehrerer ostdeutscher Generationen, die der alten Bundesrepublik entgegengesetzt sind. Sie erlebten die Systemauseinandersetzung des kalten Kriegs nicht aus der Perspektive des Westens, sondern jener der DDR. Dieses andere politisch-historische Koordinatensystem prägt bis heute Denk- und Verhaltensmuster der Erwachsenengenerationen in Ostdeutschland. Von daher deuten Menschen im Osten ihre Gegenwart anders als in Westdeutschland. Nirgendwo tritt das derzeit offener zu Tage als in der Debatte um den Ukraine-Krieg. Eine Mehrheit der Ostdeutschen lehnt die Unterstützung der Ukraine mit Waffen ab und misstraut der Parteinahme des Westens zu ihren Gunsten. Mehr noch: Die Empathie eines Teils der Ostdeutschen gilt Russland oder gar der russischen Politik in Europa und damit wohl auch dem russischen Angriffskrieg. Ihre politische Artikulation finden diese Positionen, inhaltlich durchaus unterschiedlich akzentuiert, in den Politikangeboten von AfD und BSW.

Die Endlichkeit politischer Ordnungen
Eine Bezugnahme auf ostdeutsche Erfahrungs- und Erinnerungs­räume ist für die AfD indes nicht neu. Bereits in den ostdeutschen Landtagswahlkämpfen des Jahres 2019 suchte die Partei rhetorisch Anschluss an das zeitgeschichtliche Bewusstsein der Ostdeutschen. Eine durchaus nachvollziehbare Strategie. Haben doch schon in der Frühphase der AfD die zeitweiligen Mobilisierungserfolge von PEGIDA gezeigt, wie gut der Mythos des widerständigen Ostens gegen »die da oben« funktioniert. 2014/2015 wurden bei PEGIDA mit dem Slogan »Wir sind das Volk« Anspielungen auf die Montagsdemonstrationen 1989 gemacht, womit sich eine vermeintliche Legitimation durch »das Volk« gegeben und gleichzeitig an die wirkmächtige Erzählung vom Systemumsturz angeknüpft werde. Dieses Motiv nahmen die Corona-Proteste und die ostdeutschen Bauernproteste wieder auf und radikalisierten es. Mit Slogans wie »Vollende die Wende« appellierte die AfD an die kollektive zeitgeschichtliche Erfahrung der Ostdeutschen von der Endlichkeit politischer Ordnungen, die den Westdeutschen gänzlich fehlt. Zugleich setzte sich die Partei in den ostdeutschen Landtagswahlkämpfen als legitime Erbin der Bürgerrechtsgruppen der DDR ein, die konsequent heutige Formen politischer Obstruktion benenne und ihr politisch entgegentrete. Die damit in der politischen Kommunikation verbundene Parallelisierung der gesellschaftlichen Umstände in der Spät-DDR mit jenen in der Gegenwart der Bundesrepublik geschieht durchaus in der Absicht, die Situation im Land so darzustellen, als befinde sich die Bundesrepublik auf einer abschüssigen Bahn Richtung Diktatur. Kein Wunder also, dass das später in Teilen gekippte Verbot der Zeitschrift »Compact« von rechts mit dem Verbot der sowjetischen Zeitschrift »Sputnik« am Ende der DDR verglichen wurde.

Kalkül und Chance
Ostdeutschland als besondere politische Ressource für die AfD zu erschließen, dafür plädiert seit Jahren der rechte Publizist Benedikt Kaiser. In dem 2020 erschienenen Aufsatz »Die Besiegten von 1990« in der Zeitschrift »Sezession« argumentiert Kaiser unter Bezug auf die rechten Vordenker Hans Joachim Arndt und Caspar von Schrenk-Notzing, die Ostdeutschen verharrten im Status der Besiegten von 1989/90, da sich ihr Anspruch auf die Verwirklichung ihres politisch auch national gefärbten Eigensinns mit der deutschen Einheit nicht eingelöst habe. Kaiser beschreibt Ostdeutschland für die AfD denn auch als »Laboratorium (…), in dem die politische Rechte auf engem Gebiet und unter 12,5 Millionen Deutschen jene kulturellen, politischen und mentalitätsspezifischen Restbedingungen findet, die für ihre Renaissance als ernstzunehmende und gesellschaftsprägende Kraft nötig wären«. Damit setzt Kaiser fort, was in den 1990er und 2010er Jahren in den NPD-Zeitschriften »Deutsche Stimme« und »Hier&Jetzt« wiederkehrend erwogen wurde: dass die extreme Rechte zur Normalisierung ihrer Politik in ganz Deutschland zunächst im Osten nicht nur dauerhaft etabliert, sondern Anschluss gefunden habe an die Mentalitäten dort. Vom Osten aus könne sodann der angestrebte Umbau der Gesellschaft von rechts beginnen. Verbunden mit dieser Vorstellung sind die Erfahrung und die Diagnose der extremen Rechten, es werde für sie in Westdeutschland vorerst erheblich schwerer sein, die Resonanzräume für rechte Politik und Machtbeteiligung zu öffnen.

Vom DDR-Pionierlied zur »patriotischen Hymne«?
Im Wortsinn auf der Klaviatur ostdeutscher Identität spielt die Coverversion des DDR-Schulbuchlieds »Unsere Heimat«, das der rechte Musiker Sacha Korn 2021 zusammen mit dem Kabarettisten Uwe Steimle (s. drr Nr. 201) in Kooperation mit dem Kampagnen-Netzwerk »Ein Prozent« veröffentlicht hat. Der Text des Lieds, das alle Grundschüler*innen in der DDR lernten, ist eine schlichte Beschreibung der Schönheit der Natur, verbunden mit der Botschaft, dass »die Heimat dem Volke gehört«. Damit war in der DDR zweifelsohne der Bezug zum Volkseigentum gemeint. Für die extreme Rechte ist diese Aussage jedoch in ihrer inhaltlichen Mehrdeutigkeit ebenso in Richtung Nationalismus lenkbar. Das dazugehörige Video schafft auf der Bildebene Assoziationen, welche die Ambivalenz des Lebensgefühls vieler in der DDR aufgewachsener Menschen anspricht: Es geht um jene prägenden Erinnerungsräume, die in der Bundesrepublik keine Repräsentation auf Augenhöhe beziehungsweise eine kulturelle Abwertung durchliefen. Das DDR-Kinderlied »Unsere Heimat«, so war bei der Veröffentlichung von der extrem rechten Agentur ein »Ein Prozent« zu lesen, solle zur »patriotischen Hymne« werden.


Die gegenwärtig wiederkehrenden ostdeutschen Identitätsdebatten führen in ihrem breiten Strom allerhand reaktionär-regressives Treibgut mit sich, aus dem sich die AfD je nach tagespolitischer Lage zu bedienen weiß. Ostalgie, Diktatur-Vergleiche und das Anspielen der emotionalen Ambivalenz kollektiver Erinnerung an die DDR und die Transformationszeit sind der Garant dafür, dass, wenn die AfD oder ihr politisches Umfeld auf ostdeutsche Themen Bezug nimmt, dies auch deshalb Wirkung entfaltet, weil derzeit keine andere Partei die ostdeutschen Themen so offensiv besetzt, wie die AfD es tut. Wer die Aneignung ostdeutscher Themen durch die AfD als einen Fall nostalgischen Sandmännchenkitschs abtut, unterschätzt, auf welche Weise mit der kulturellen Erinnerung der Ostdeutschen emotionale Politik gemacht werden kann. Das ist kein Plädoyer für regressive Ostalgie, sondern für einen historisch-kulturell sensiblen und kundigen Umgang mit den ostdeutschen Resonanzräumen in der Gegenwart.

Volksverhetzer Merz mit Verstoß gegen § 130 StGB?Es braucht nicht nur Zuckerberg oder Musk im Netz. Es braucht auch Lügen im #Bundestag und Hetze und Hass – es genügt der Kandidat #Merz der #CDU in AfD-Manier.

#AntifaMagazin der rechte rand (@derrechterand.bsky.social) 2025-02-03T09:52:55.992Z