Die Extreme Rechte und Verschwörungsideolog*innen bei den Kommunalwahlen in Niedersachsen

von Tilo Giesbers
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 192 - September | Oktober 2021 - online only

#Statistik

Während sich die öffentliche Wahrnehmung auf die Bundestagswahlen, bestenfalls noch auf die parallel stattfindenden Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern oder die Wahlen in Berlin richtet, finden schon zwei Wochen vorher, also heute, am 12. September, nahezu[1] flächendeckende Kommunalwahlen in Niedersachsen statt. Insgesamt werden 1.091 Gremien der Kreise, Samtgemeinden, Städte und Gemeinden sowie fast ebenso viele Stadtbezirks- und Ortsräte, insgesamt rund 30.000 Mandate, neu besetzt. Außerdem werden 281 Landrät*innen und (Ober-) Bürgermeister*innen bestimmt.

Ein kurzer, statistischer Blick auf Kandidat*innen (extrem) rechter und anderer irrationaler Parteien und Listen.

Antifa Magazin der rechte rand
Sinnbild und Markenzeichen: Niedersachsen Pferd © Janko Woltersmann / attenzione

»Alternative für Deutschland«

Zum Zeitpunkt der letzten Kommunalwahlen in Niedersachsen im September 2016 hieß die Bundesvorsitzende der AfD noch Frauke Petry. Seitdem hat sich die Partei kontinuierlich radikalisiert. Auch der Landesverband Niedersachsen ist von heftigen Machtkämpfen geprägt, die immer wieder zu Austritten führten und sogar den Verlust des Fraktionsstatus im Landtag zur Folge hatten. Von den Inhaber*innen der 449 kommunalen Mandate, die bei den jeweils letzten Wahlen[2] auf die AfD entfielen, haben sich mehrere Dutzend von der Partei distanziert. Durch Niederlegungen, Wegzüge und Tod haben mehr als 100 Mandatsträger*innen gewechselt. In vielen Fällen waren die Listen erschöpft, so dass die Zahl der unbesetzten AfD-Mandate von 36 auf mindestens 60 gestiegen ist. Es gab aber auch in mindestens einem Fall einen Übertritt von der CDU.

Auch ein Blick auf die Listen zu den diesjährigen Kommunalwahlen zeigt – wie schon in anderen Bundesländern zuvor – eine hohe Fluktuation bei den Kandidierenden der AfD. Von den 533 [3] der letzten Wahlen treten nur 199[4] auch in diesem Jahr wieder für die AfD an. Hinzu kommen ein paar »Abtrünnige« auf Listen, etwa der »Liberal Konservativen Reformer« (LKR) oder der FDP. In einigen Kommunen mit aktuellen AfD-Mandaten treten weder die AfD noch ihre derzeitigen Mandatsträger*innen wieder an: Freren und Emsbüren (Landkreis Emsland), Coppenbrügge (Landkreis Hameln-Pyrmont), Bad Fallingbostel (Heidekreis), Gronau (Landkreis Hildesheim), Bad Gandersheim und Nörten-Hardenberg (Landkreis Northeim), Stadt Rotenburg-Wümme, Samtgemeinden Apensen, Horneburg und Lühe (Landkreis Stade), Samtgemeinde Bevensen-Ebstorf (Landkreis Uelzen), Kreistag Wesermarsch, Stadt und Samtgemeinde Esens (Landkreis Wittmund), Samtgemeinde Oderwald (Landkreis Wolfenbüttel), Isernhagen (Region Hannover) sowie einige Ortsräte.

Nach fünf Jahren Zeit zum Strukturaufbau erwartbar, konnte die Partei ihre Präsenz in der Fläche ausbauen und tritt für deutlich mehr Gremien an als beim letzten Mal. Waren es damals 174[5] Gremien, sind es diesmal 311[6]. Dazu gehören bis auf Wesermarsch alle Kreistage, außer Emden und Göttingen[7], die kreisfreien Städte, 30 Samtgemeinderäte, 148 Räte kreisangehöriger Städte und Gemeinden sowie 89 Orts- und Stadtbezirksräte.

Die Gesamtzahl der AfD-Kandidaturen ist im Vergleich mit den vorigen Wahlen von 772[8] auf 978[9] gestiegen. Nach Abzug von Mehrfachkandidaturen (einfache statt mehrfacher Zählung bei Personen, die für mehrere Gremien, etwa für Kreistag und Gemeinderat, antreten, also »netto«) steigt die Zahl der kandidierenden Personen nur leicht von 533 auf 560. Der Anteil von Frauen[10] steigt im Vergleich zu anderen Bundesländern deutlich, wenn auch auf niedrigem Niveau, von 11,6 auf 15,1 Prozent, netto von 12,8 auf 17 Prozent. Und auch das Durchschnittsalter ist mit netto 55,4 Jahren um mehr als zwei Jahre höher als 2016.

Eine Prognose zum Ergebnis der Wahlen ist angesichts der vielen, teilweise sehr heftigen Streitigkeiten in der und Skandale um die AfD in Niedersachsen mit ihren Folgen in den Kommunen und wegen der nahen Bundestagswahl nur schwer aufzustellen. Vermutlich wird die Partei die Zahl ihrer Mandate wie schon im März in Hessen ungefähr halten können. Allerdings werden sich die Sitze auf mehr Gremien verteilen und einige Fraktionen verlorengehen.

In Braunschweig, Delmenhorst, Salzgitter, Wolfsburg treten AfD-Kandidaten für den Posten der/s Oberbürgermeister*in an, in den Landkreisen Gifhorn, Helmstedt und Vechta für den der Landrät*in, in der Region Hannover zum Amt der Regionspräsident*in und in vier weiteren Gemeinden für das der Bürgermeister*in. In einigen Kommunen werden parallel auch die Senior*innenvertretungen neu gewählt. In manchen Fällen stellen sich Listen von Parteien zur Wahl, darunter zumindest in Wilhelmshaven auch die AfD.

Ex-AfD

Da die letzten, flächendeckenden Kommunalwahlen in der Zeit zwischen der Abwahl des Gründungsvorsitzenden Bernd Lucke 2015 und dem Austritt der geschassten Nachfolgerin Frauke Petry 2017 lagen, gehört Niedersachsen neben Hessen zu den wenigen Regionen, in denen die Lucke-Abspaltung »Liberal-Konservative Reformer« über Mandate verfügt, die nicht aus Übertritten hervorgingen. Bei den Wahlen 2016 hatten 99 Kandidierende unter dem damaligen Namen »Allianz für Fortschritt und Aufbruch« (ALFA) 17 Sitze geholt. Seitdem haben mehrere Mandatsträger*innen die Partei verlassen. Andere sind aus der AfD zur LKR übergetreten, darunter auch Dana Guth, die bis 2020 auch Landes- und Landtagsfraktionsvorsitzende war. Nachdem sie im September 2020 ihr Mandat im Kreistag Göttingen niedergelegt hat, möchte sie es bei den anstehenden Wahlen erneut erreichen. Immerhin 56 beziehungsweise netto 34 Kandidierende stehen diesmal auf Listen der LKR. Davon sind acht beziehungsweise fünf; also jede siebente eine Kandidatin. Dazu kommen mindestens zehn weitere Personen, die bei den letzten Wahlen noch für die AfD antraten, diesmal aber für Wähler*innengemeinschaften, die FDP oder als Einzelbewerber*innen.

NPD/»Die Rechte«

Die NPD ist in ihrem Gründungsland kommunalpolitisch fast nicht mehr existent. Gerade noch für drei Gremien tritt je ein Kandidat an: Carsten Dicty in Goslar sowie Manfred Börm in der Samtgemeinde Bardowick und der Gemeinde Handorf (Landkreis Lüneburg). Außerdem bewirbt sich der NPD-Landesvorsitzende Manfred Wilhelm Dammann für den Bürgermeisterposten von Eschede (Landkreis Celle), wo die Neonazipartei seit 2019 den sogenannten »Hof Nahtz« – einen seit über 30 Jahren bestehenden Neonazitreffpunkt – betreibt.

Bei den jeweils letzten Wahlen standen noch 84 NPD-Kandidierende auf den Stimmzetteln für 30 Gremien. Von den ursprünglich 16 erreichten Mandaten war eins unbesetzt, vier weitere gingen durch Tod, Wegzug und Niederlegung verloren. Von den übrigen zehn Mandatsträger*innen tritt neben Börm nur noch Michael Triebel in Bad Lauterberg (Landkreis Göttingen) wieder an – für die Verschwörungsideolog*innen der Partei »dieBasis«. Mit Adolf Preuß (Süpplingen, Landkreis Helmstedt) verliert die Partei nach – mit Unterbrechungen – 53 Jahren auch ihren bundesweit wohl dienstältesten Kommunalvertreter.

Auch die Konkurrenz von »Die Rechte« gibt ein armseliges Bild ab und bleibt trotz vollmundiger Ankündigung mit Martin Kiese bei nur einem einzigen Kandidaten für einen Stadtbezirksrat von Braunschweig.

Sonstige Rechte

Die Dominanz der AfD im extrem rechten Spektrum erdrückt andere Kleinstparteien und Wähler*innengemeinschaften rechts der Union auch in Niedersachsen zunehmend. Einige Kandidat*innen der »Hannoveraner« für die Regionsversammlung Hannover etwa treten in ihren Wohnorten für die AfD an. Das »BürgerForum Seelze« ist nach dem Tod eines ihrer Protagonisten gleich ganz in der AfD aufgegangen.

Immerhin Reste der christlichen Fundamentalist*innen von »Bündnis C« oder der erzkonservativen »Zentrumspartei« finden sich auf den Stimmzetteln. In Braunschweig tritt außerdem die als deutscher Ableger der Erdogan-Partei AKP geltende »Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit« (BIG) an.

»dieBasis«

Erschreckend große Teile der Kritik an den staatlichen Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie haben sich nicht etwa mit rationalen Argumenten gegen soziale Auswirkungen in Deutschland oder die rassistische und kurzsichtige Haltung gegenüber den armen Staaten des globalen Südens gerichtet, sondern Wohlstandschauvinismus, Rassismus, Antisemitismus und andere irrationale Welterklärungen mit so absurden wie widerlichen Verschwörungserzählungen in einem solchen Ausmaß forciert, dass selbst die AfD nur als (neidisch) staunende Zuschauerin erscheint.

Aus diesem unübersichtlichen Milieu wurden mittlerweile mehrere Parteien gegründet. Die mit Abstand wichtigste dieser Gründungen ist aktuell die »Basisdemokratische Partei Deutschland« (dieBasis), die mittlerweile angeblich mehr als 25.000 Mitglieder hat.

Neue, schnell wachsende Parteiprojekte sind immer sehr heterogen. Wenig verwunderlich ist daher, dass sich auch bei »dieBasis« Niedersachsen vom Neonazi bis zu Menschen, die sich links wähnen, sehr unterschiedliche politische Biografien finden. Zu den Kandidat*innen gehören auch zehn Personen, die 2016 für verschiedene andere Parteien und Listen antraten. Aktuelle Mandate aus den Wahlen 2016 erlangt haben für die CDU Homan Moradi (Ortsrat Aurich-Kernstadt) und Silvia Lübke (Stadtrat Aurich), für die Piraten Friedrich Bohm (Stadtrat Neustadt am Rübenberge), für die Bürgerinitiative Braunschweig (BIBS) Dirk Schadt (Stadtrat Braunschweig), für Die Linke Michael von Klitzing (Kreistag Cloppenburg) und für die NPD der schon erwähnte Michael Triebel (Stadtrat Bad Lauterberg). Weitere Antritte hatten für die CDU Homan Moradi (Kreistag und Stadtrat Aurich), für die FDP Reinhard Blanke (Kreistag Osnabrück), für die Piraten Birgit Nowack und Friedrich Bohm (Regionsversammlung Hannover), für die Bürgerliste Erich Kirsch (Kreistag Goslar) und für Die Linke Dieter Bornheimer (Kreistag und Stadtrat Goslar).

Ähnliche Beispiele finden sich bundesweit etwa auf den Listen für die Bundestagswahl, darunter ehemalige Grüne wie David Claudio Siber (Ratsversammlung Flensburg) als Spitzenkandidat in Schleswig-Holstein, Thomas Wötzel (Vertretung der als Tesla-Standort berühmt gewordenen Gemeinde Grünheide, Landkreis Oder-Spree) auf Listenplatz 3 in Brandenburg, der bis März diesen Jahres noch stellvertretender FDP-Landesvorsitzender war, oder – nicht zuletzt – mit Dr. Wolfgang Wodarg ein früherer SPD-Bundestagsabgeordneter als Spitzenkandidat in Mecklenburg-Vorpommern.

Kommunale Wahlantritte als »dieBasis« gab es bisher nur im März 2021 erfolglos für den Kreistag Limburg-Weilburg (Hessen) und im Juni für den Kreistag Wartburgkreis (Thüringen) mit einem Mandat. Dazu kamen noch Listen aus demselben Milieu mit einem Sitz im Kreistag Marburg-Biedenkopf beziehungsweise ohne Mandat im Stadtrat Marburg (Hessen).

Vermutlich als Nebeneffekt der anstehenden Bundestagswahlen hat »dieBasis« ihre Strukturen erstaunlich breit ausgebaut und tritt nun für gleich 140 niedersächsische Gremien an, darunter acht der zehn kreisfreien Städte, 25 der 37 Kreistage, sechzehn Samtgemeinde-, 65 weitere Stadt- und Gemeinde- sowie 26 Stadtbezirks- und Ortsräte.

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Von den 343 Kandidierenden sind 129 oder 37,6 Prozent weiblich. Nach Abzug von Mehrfachkandidaturen bleiben 233 kandidierende Personen, darunter 88 Frauen, also 37,8 Prozent. Der Anteil von Frauen ist damit deutlich höher als bei klassischen rechten Listen, was ebenso auf den eher bildungsbürgerlichen Hintergrund eines großen Teils des Personals hinweist wie die angegebenen Berufe. Neben vielen Ärzt*innen, Pädagog*innen, Musiker*innen, Menschen mit Diplom oder Meister*innen finden sich auch ein Oberstudienrat, eine Rektorin, ein Unternehmensberater, ein Antiquitätenhändler oder ein Ministerialrat a.D.

Auffällig, aber nicht verwunderlich ist die hohe Zahl von physiotherapeutischen Berufen, Psycholog*innen und Psychiater*innen oder (Gesundheits-)Coaches. Ein deutlicher Hinweis auf den erheblichen Einfluss esoterischer Verirrungen im Spektrum der Corona-Verharmloser*innen ist, dass sich neben einer »Ganzheitlichen Ernährungsberaterin« gleich elf Heilpraktiker*innen finden.

Wie schon bei der AfD vor ein paar Jahren, lässt das hohe Durchschnittsalter von annähernd 56 Jahren daran zweifeln, dass der Wahn besonders attraktiv für junge Menschen wäre. Ganze vier der 233 Antretenden, also 1,7 Prozent sind unter 35 Jahren alt.

Wie viele Stimmen »dieBasis« holen wird, ist schwer zu prognostizieren und in den Kommunen wohl auch sehr unterschiedlich. Bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt konnte die Partei im Juni 1,4 Prozent der Zweitstimmen für sich verbuchen, bei den wegen der Fusion mit Eisenach vorgezogenen Neuwahl des Kreistags Wartburgkreis im selben Monat gut 1,5 Prozent. Mit einem solchen Ergebnis würde sie in Niedersachsen auf gut 60 Mandate kommen.

Nicht nur die relative Monothematik der Partei und die zu erwartende Normalisierung des Lebens mit Corona, sondern vor allem die extreme Heterogenität des Milieus wird in den kommenden Jahren zu diversen Austritten und Mandatswechseln führen. Die Frustration, als einzelne*r Mandatsträger*in wenig bewegen zu können, wird ihr Übriges tun. Umso genauer sollte im Blick behalten werden, ob andere Parteien/Listen mit den selbsternannten »Basisdemokraten« zusammenarbeiten. Einige Äußerungen aus FDP und »Freien Wählern« zur Corona-Impfung jedenfalls zeigen inhaltliche Schnittmengen.

[1]  In der Stadt Walsrode fanden aufgrund einer Gebietsreform schon am 08.03.2020 Neuwahlen statt.

[2]  In der Regel 11.09.2016, außer: Geestland, Wüster Nordseeküste, Elm-Asse (jeweils 2014) und Helmstedt (2017), Walsrode (2020), nicht mitgezählt ist das 2020 mit Walsrode fusionierte Bomlitz.

[3]  inkl. Walsrode und Bomlitz 2016. Kandidierende meint netto-Personen. Einige von ihnen treten für mehrere Gremien, etwa Kreistag und Stadtrat an.

[4]  ohne Bomlitz 2016, inkl. Walsrode 2020

[5]  inkl. Walsrode und Bomlitz 2016

[6]  ohne Bomlitz 2016, inkl. Walsrode 2020

[7] Göttingen und Hannover gehören zwar zum Landkreis Göttingen bzw. der Region Hannover, sind gleichzeitig aber kreisfreien Städten gleichgestellt.

[8]  inkl. Walsrode und Bomlitz 2016

[9]  ohne Bomlitz 2016, inkl. Walsrode 2020

[10] Da Angaben zu Geschlechtern fehlen, wurde von den Vornamen ausgegangen, die wiederum nur Vermutungen auf weibliche oder männliche Identitäten zulassen.