NSU-Nachlese

von Gerd Wiegel

Magazin "der rechte rand" - Ausgabe 159 - März / April 2016

Der NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag geht in die zweite Runde. Doch welche Aufklärungschancen bestehen überhaupt? Die Behörden setzen weiterhin auf Verzögerungstaktik.

Im November 2015 wurde im Bundestag der zweite parlamentarische Untersuchungsausschuss zum »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) auf den Weg gebracht. Insgesamt handelt es sich damit um den zehnten Untersuchungsausschuss zur größten rechtsterroristischen Mord- und Anschlagserie in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Landtage in Thüringen, Sachsen, Bayern und der Bundestag hatten gleich nach der Selbstenttarnung des Kerntrios solche Ausschüsse auf den Weg gebracht, um das offensichtliche Versagen und die Rolle der Behörden unter die Lupe zu nehmen. In den Tatortländern Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen konnten diese Ausschüsse jedoch erst nach zähem Widerstand der Landesregierungen durchgesetzt werden, ganz gleich ob diese rot-grün, grün-rot oder schwarz-grün zusammengesetzt sind. Einige der Gremien kämpfen bis heute mit der Verzögerungstaktik durch die Ministerien, die eine zügige Aufklärung – soweit diese im parlamentarischen Rahmen zu leisten ist – nachhaltig behindern. Weil sie Herkunfts- und Wohnorte des Kerntrios waren, haben die Bundesländer Thüringen und Sachsen nach den dortigen Landtagswahlen 2014 neue Untersuchungsausschüsse auf den Weg gebracht. Denn viele Details konnten seit 2012 in der ersten Runde nicht ausreichend beleuchtet werden, weshalb viele Fragen offen geblieben waren.

Im Bundestag gab man sich lange Zeit mit den anderweitigen Möglichkeiten zur politischen Aufklärung zufrieden, bevor ein neuer Untersuchungsausschuss eingesetzt wurde. Mehr als 40 Kleine Anfragen zum NSU-Komplex hat die Fraktion »DIE LINKE« seit 2013 gestellt, der Innenausschuss und auch das Parlamentarische Kontrollgremium haben sich in mehreren Sitzungen mit dem NSU und aktuellen Entwicklungen dazu befasst. Dennoch wurde allen kritischen Beteiligten klar: Ohne das Instrument eines Untersuchungsausschusses ist parlamentarisch nicht weiterzukommen. Die Verweigerungshaltung bei der Beantwortung von Fragen, die Nicht-Auskünfte seitens der Ministerien und Behördenleiter in den Ausschüssen, die fehlenden rechtlichen Möglichkeiten, Aussagen und Auskünfte zu erzwingen, und vor allem der fehlende Zugriff auf die Akten haben schließlich zur einhelligen Auffassung geführt, dass nur mit einem neuen Untersuchungsausschuss überhaupt noch Aufklärungschancen bestehen.

Folgerichtig und der Tradition des ersten Aufklärungsgremiums zum NSU im Bundestag folgend, wurde daher im November 2015 mit den Stimmen aller Fraktionen der neue NSU-Untersuchungsausschuss auf den Weg gebracht. Doch was kann ein solcher Ausschuss, so muss kritisch gefragt werden, heute noch leisten, was kann wirklich noch aufgedeckt werden? Und was sind die möglichen Konsequenzen und Folgen einer erneuten parlamentarischen Aufarbeitung auf Bundesebene?
Die Ämter können (fast) nicht verlieren

Wer im November 2015 die verschiedenen Dokumentationen zum Jahrestag der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios im Fernsehen sah oder die diversen Hintergrundartikel las, konnte feststellen, dass die Sicherheitsbehörden und namentlich der Verfassungsschutz nach wie vor als Hauptverantwortliche des staatlichen Versagens gelten. Neben den in vielen Teilen rassistisch konnotierten polizeilichen Ermittlungen gegen die Hinterbliebenen der Opfer war es vor allem die Rolle des Verfassungsschutzes als finanzieller Förderer der Neonaziszene mit seinem V-Leute-System und möglicherweise schützenden Hand über dem Trio, die hier hervorgehoben wurde. Mit Bezug auf den NSU wird dem Verfassungsschutz auch in den bürgerlichen Medien nach wie vor ein erhebliches Maß an krimineller Energie zugetraut. Diese folgerichtig nachhaltige Rufschädigung ist jedoch ohne jegliche negative politische Konsequenz geblieben. Im Gegenteil: Real hat das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) einen finanziellen, personellen und strukturellen Gewinn aus dem NSU-Desaster gezogen. Mehrere hundert Millionen Euro zusätzliches Budget, Aufstockung um mehrere hundert Stellen und die Aufwertung zur Zentralstelle im Verfassungsschutzverbund sind der Lohn für das Versagen im Zusammenhang mit den Morden des NSU. Sollte der politische Effekt nach dem zweiten Untersuchungsausschuss ähnlich sein, würden sich die Verantwortlichen im BfV ins Fäustchen lachen. Allerdings ist dies nicht zu erwarten – denn das Bundesamt ist längst gestärkt und wird es im ‹Kampf gegen den Islamismus› auch weiterhin sein. Einzig ein unumstößlicher Nachweis für eine aktive Verstrickung in den NSU-Komplex, für bewusste Nicht-Entdeckung, frühzeitige Kenntnis, Unterstützung durch V-Leute oder Ähnliches könnte die Ämter doch noch in Schwierigkeiten bringen. Einen derartigen Nachweis heute noch in den Akten zu finden dürfte jedoch schwierig sein: Schon am 11. November 2011 wurden im BfV die Schredder in Gang gesetzt und haben womöglich belastendes Material vernichtet.

Viele offene Fragen sind noch zu klären
Warum sich ein zweiter Anlauf dennoch lohnen könnte, ergibt sich aus der Unmenge nach wie vor offener Fragen und der Verpflichtung der Politik, nichts unversucht zu lassen, um wenigstens einige dieser Leerstellen genauer zu beleuchten und mögliche Antworten zu finden. Der Fokus muss dabei eindeutig auf der Verantwortung und dem Handeln der Bundesbehörden liegen.

Sieht man sich den Auftrag des Untersuchungsausschusses im Bundestag an, dann lassen sich schnell die damit verbundenen offenen Komplexe benennen, die sicherlich in den nächsten 18 Monaten eine Rolle spielen werden. Um die Ereignisse in Eisenach und Zwickau am 8. November 2011 ranken sich inzwischen eine Reihe von Mutmaßungen und Verschwörungstheorien. Die Untersuchungsausschüsse in Thüringen und Sachsen befassen sich akribisch mit den Abläufen; aber auch die Rolle der Bundesbehörden ist es wert, näher untersucht zu werden. Aus antifaschistischer Sicht ist es durchaus problematisch, wenn auch in manchen linken Kreisen der NSU und sein Umfeld nur als nützliche Idioten ganz anderer Machenschaften des »tiefen Staates« erscheinen. Ein belegbares und dokumentiertes Bild der Abläufe nachzuzeichnen ist auch eine Aufgabe des Untersuchungsausschusses.

Alle Obleute des ersten Gremiums haben öffentlich geäußert, sie zweifelten die These des abgeschlossenen Trios und der nur wenigen HelferInnen an. Die Frage nach den UnterstützerInnen und der Struktur rund um das Kerntrio wird daher zu den Schwerpunkten der Aufklärungsarbeit gehören. Hierzu gehört erstens die Frage, wie früh die Behörden von der Existenz einer Gruppe mit dem Namen NSU Kenntnis hatten und was sie dazu wussten beziehungsweise was sie mit diesem Wissen unternahmen. Die Entdeckungen rund um den V-Mann »Corelli«, die in diesem Zusammenhang aufgetauchte CD mit dem NSU-Kürzel und der plötzliche Tod »Corellis« haben Fragen aufgeworfen, die bisher nicht ausreichend beantwortet sind.
Als zweiter Komplex wird im Untersuchungsauftrag die Frage genannt, inwieweit die Behörden das Umfeld des NSU im Blick hatten, welche Kenntnisse also über rechtsterroristische Strukturen bundesweit, aber auch über Beziehungen ins Ausland vorlagen und wie mit diesen Erkenntnissen umgegangen wurde. Auch der Bezug der Neonaziszene zur allgemeinen Kriminalität und das Wissen der Behörden dazu sollen untersucht werden.
Schließlich geht es in einem dritten Komplex explizit um die V-Leute, ihr Wissen über das Trio und die Führung durch die Dienste. Nicht zuletzt hier haben sich nach dem Ende des ersten Untersuchungsausschusses des Bundestages eine Reihe neuer Fragen ergeben: Was steht in den rekonstruierten Akten über die in der »Operation Rennsteig« angeworbenen V-Leute, die im November 2011 im Bundesamt geschreddert wurden? Stimmt die Aussage des früheren V-Manns »Tarif«, das Trio habe ihn 1998 um eine Unterkunft gebeten, sein V-Mann-Führer habe ihn jedoch zur Absage angehalten? Auch die Rolle der weiteren zahllosen V-Leute im NSU-Umfeld gilt es genauer in den Blick zu nehmen. In Nordrhein-Westfalen war zwischenzeitlich auch ein VS-Spitzel als möglicher Bombenleger im Falle des Anschlages in der Probsteigasse in Köln im Gespräch. Schließlich wird auch der neue Untersuchungsausschuss im Bund die Frage nach möglichen HelferInnen des Kerntrios bei den Taten stellen und der Frage nachgehen, ob und wie die Behörden hier ermittelt haben.

Rechtsterroristische Strukturen
Die Frage nach rechtsterroristischen Strukturen, in die auch der NSU eingebunden war, sollte aus antifaschistischer Sicht zentral für die neuerlichen Untersuchungen sein. Bereits in der ersten öffentlichen Anhörung des Gremiums im November 2015 wurde von den JournalistInnen Andrea Röpke und Dirk Laabs auf diesen Punkt verwiesen. Röpke präsentierte den Ausschussmitgliedern eine ganze Reihe von Hinweisen und Indizien, welche die Existenz weiterer rechter Terrorzellen parallel zum NSU nahelegen und die erneut die Frage nach HelferInnen an den Tatorten der Morde aufwerfen. Insbesondere ihre Hinweise auf die RechtsRock-Band »Oidoxie«, die damit verbundenen »Combat 18«-Strukturen und die Verbindungen nach Dortmund und Kassel im Jahr 2006 waren von großer Brisanz, denn in diesen beiden Städten wurden im Frühjahr 2006 die Morde an Mehmet Kuba??k und Halit Yozgat vom NSU verübt.

Der Umgang und die Erkenntnisse im BfV und den Landesämtern zu diesen rechtsterroristischen Strukturen werden von besonderem Interesse sein, denn die Frage, wie der Komplex Rechtsterrorismus im BfV behandelt wurde, spielte als Thema im ersten Untersuchungsausschuss erst zum Ende hin eine Rolle. Hier würde es sich lohnen, die Aufstellung der Ämter, das vorhandene Wissen und den Umgang damit sehr viel genauer unter die Lupe zu nehmen.

Öffentliche Begleitung
Die geringe Chance auf weitere Aufklärung kann der Untersuchungsausschuss im Bundestag nur dann nutzen, wenn es eine kritische, öffentliche Begleitung seiner Arbeit gibt. Nur die öffentliche Berichterstattung kann den Ausschuss davor bewahren, der Verzögerungstaktik von Ämtern und Ministerialbürokratie zu unterliegen; zumindest kann damit der Druck auf eben diese aufrechterhalten werden. Im Gegensatz zum ersten Ausschuss stehen die Chancen dafür allerdings deutlich schlechter, ist das Thema in der öffentlichen Aufmerksamkeit doch deutlich nach hinten gerückt. Dennoch bietet die zeitliche Parallelität mit dem voraussichtlichen Ende des Prozesses in München die Chance, das Thema in einer begrenzten, aber engagierten Öffentlichkeit zu behandeln. Angesichts der rassistischen und rechten Terrorwelle, die sich aktuell gegen Geflüchtete richtet, ist die Auseinandersetzung mit rechtsterroristischen Strukturen von enormer Bedeutung. Auch vor diesem aktuellen Hintergrund hat der Ausschuss eine wichtige politische Aufgabe und eine Verantwortung.