Ein rechtsradikaler Präsident?

von Patrick Eser
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 207 - März | April 2024

In Argentinien regiert seit Ende 2023 der Ökonom Javier Milei. Wie rechts ist er?

Antifa Magazin der rechte rand
© wikimedia (CC BY-SA 3.0) Armenische Botschaft

Im November 2023 wurde in Argentinien in der Stichwahl der Wirtschaftswissenschaftler Javier Milei mit 56 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Er setzte sich gegen Sergio Massa durch, der in der vorherigen Mitte-Links-Regierung Wirtschaftsminister war. Milei hatte sich als exzentrischer Fernsehökonom einen zweifelhaften Ruf erarbeitet und zuvor kein politisches Amt ausgeübt. Er konnte die Wahl als Newcomer und Outsider für sich entscheiden.
Eine Erklärung seines Erfolgs muss vor allem das Scheitern der Vorgängerregierung in der Bekämpfung drängender gesellschaftlicher Probleme berücksichtigen: Korruption, Unsicherheit und Kriminalität, Ungleichheit und Armut, Wachstumsdefizite der Wirtschaft und Einbußen der Reallöhne. Bis in die Mitte der Gesellschaft existierte eine Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit. Das Gefühl fortlaufender Verschlechterung der Lebensbedingungen förderte eine Krisenatmosphäre, in der Wirtschaft, Politik, Staat und die Gesellschaft als vom Niedergang betroffen wahrgenommen wurden. Dies führte dazu, dass sich ein Großteil der Bevölkerung für einen radikalen Wechsel entschieden und Milei gewählt hat. Er versprach, den korrupten Staatsapparat zu kürzen, die Inflation zu bekämpfen und den Dollar als Zahlungsmittel einzuführen. Seine Partei »La libertad avanza« (»Die Freiheit schreitet voran«, LLA ) war 2021 als Wahlbündnis verschiedener Kleinstparteien gegründet worden.

»Rechtsradikal« oder »ultraliberal«?
Das Profil der von Milei repräsentierten neuen Rechten ist ideologisch nicht klar definiert. In ihr finden sich neoliberale, ökonomisch-libertäre, gesellschaftspolitisch ultra-konservative, sozialdarwinistische und meritokratische Züge. Es wird ergänzt um einen verharmlosenden Blick auf den Staatsterrorismus der letzten Militärdiktatur (1976 – 1983) und einen Geschichtsrevisionismus, der sich gegen den mit der noch jungen argentinischen Demokratie verbundenen Konsens der Erinnerungspolitik richtet. In der kritischen argentinischen Öffentlichkeit wird das Phänomen Milei als »rechtsextrem« oder »rechtsradikal« bezeichnet. Milei selbst nennt sich einen »libertären Liberalen« und »Anarchokapitalisten«. In der deutschen und europäischen Öffentlichkeit wird er als »Rechtspopulist«, als »libertärer Populist«, »Ultraliberaler« oder »libertärer Ökonom« präsentiert.

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Aus deutscher Perspektive mag es seltsam erscheinen, dass Milei in Argentinien »rechtsradikal« oder »rechtsextrem« genannt wird. Denn das, was hier damit assoziiert wird – Xenophobie sowie rassistische und antisemitische Gewalt –, trifft auf die von ihm repräsentierte Rechte so nicht zu. Das bedeutet allerdings nicht, dass sich in seinem Projekt nicht auch Personen oder Strömungen finden, die einem solchen Denken und Handeln gegenüber eine Offenheit aufweisen. Richtig ist auf jeden Fall, dass unter argentinischen Heranwachsenden und jungen Erwachsenen unter 35 eine Rechtswende zu beobachten ist. Hier ist eine deutliche Ablehnung des »Kirchnerismus« festzustellen, der fast 20 Jahre lang unter Heranwachsenden hegemonial war und politisch als mitte-links bis linkspopulistisch gilt. Diese Wende birgt zugleich ein Radikalisierungspotenzial, das sich 2022 bei dem erfolglosen Attentatsversuch auf die damalige Vize- und Ex-Präsidentin Christina Fernández de Kircher zeigte. Hinter der dilettantisch ausgeführten Tat standen drei Personen, die eine Affinität zur Kultur der extremen Rechten aufweisen. Den Körper des erfolglosen Schützen zieren Tattoos mit Hassbotschaften sowie eine »Schwarze Sonne« – entsprechend ausgerichtet waren seine Nachrichten in den Social Media.

Rechte Influencer
Das Ausmaß der Rechtswende der Jugend ist noch nicht klar. Influencer*innen und junge rechte Intellektuelle haben aber ein Milieu geschaffen, in dem die Ablehnung der politischen Linken und ihrer Politik – zum Beispiel Feminismus, Ökologie, soziale Gerechtigkeit und die Verurteilung der Militärdiktatur – zentrale Eckpunkte sind. Die Rechte habe inzwischen den rebellischen Gestus der Linken beerbt. Sie sei – so das Image – die politische Kraft, die den Staat und die Politik infrage stellt, wie der Soziologe Pablo Stefanoni in seinem 2021 veröffentlichten Buch mit dem suggestiven Titel »Ist die Rebellion rechts geworden?« schrieb. Er zeigt, wie verschiedene rechte Kreise Begriffe besetzt und uminterpretiert haben sowie neue Slogans gegen die Vorherrschaft des »Kulturmarxismus«, der »Genderideologie« und des »Ökofaschismus« schick werden ließen. Junge rechte Influencer*innen haben sich zu bedeutenden Medienpersönlichkeiten entwickelt, ihre Bücher verkaufen sich in hoher Auflage. Der renommierteste von ihnen, der Politologe Agustín Laje, vermittelt das Image eines »alternativen« Rechtsintellektuellen, der der linken Vorherrschaft den Kampf angesagt hat. Diese Töne finden in den sozialen Medien starken Widerhall – von strikt konservativen Interventionen gegen den Schwangerschaftsabbruch bis zu radikalen Äußerungen über die politische Gewalt der Linken in den 1970er Jahren.

Gegen progressive Ideologien und die »politische Korrektheit« gerichtet, zeigt sich diese Agitation eines diffusen, rechten Teils der Jugend in der digitalen Welt und auf der Straße. Dessen konkrete ideologische Orientierung hat allerdings auch mit der Entwicklung des libertären Projekts zum Regierungsprojekt noch keine klaren Formen angenommen. Die neurechte rebellische Orientierung findet vor allem unter den jüngeren Teilen der Bevölkerung Anklang, die oft mit unsicheren Aussichten in den Beruf starten.

Wirtschaftslibertär
Seinem Selbstverständnis zufolge ist Milei ein »libertärer Liberaler« oder »Anarchokapitalist«. Das libertäre Moment ist in seinem politischen Profil sehr präsent und hat jahrelang seine öffentlichen Auftritte geprägt. In Argentinien wurde er aufgrund seines extravaganten Auftretens als Experte in »Wirtschaftsfragen« in Funk und Fernsehen bekannt. Hier entwickelte er sich zu einer öffentlichen Persönlichkeit, lange bevor er in die Politik ging. In rebellischem Gestus und mit missionarischem Eifer vertrat er minoritäre Meinungen und Thesen. Die Annahme einer moralischen wie argumentativen Überlegenheit ist für den Redestil des Politikers Milei kennzeichnend, vor allem wenn er gegen den ineffizienten Staat polemisierte, dessen Aktivität etwa in der Sozialpolitik er mit Korruption und mafiösen Machenschaften assoziiert.

Die dogmatisch libertäre Ausrichtung, die weder bei anderen neu-rechten und prokapitalistischen Populisten wie Donald Trump oder Jair Bolsonaro zu beobachten ist, kennzeichnet die rechts-konservative und liberale Rebellion Mileis. Sie steht im Zeichen des Kampfs gegen »Political Correctness«, propagiert einen neuen Begriff individueller Freiheitsrechte und artikuliert gegen den vermeintlich progressiven Mainstream in den Medien alternative Sichtweisen und »Wahrheiten«. Der ideologische Kulturkampf gegen die progressive Meinungsvorherrschaft ist ein zentrales Vorhaben Mileis. Seine Obsession, überall »Kollektivismus«, »Kommunismus« und »Sozialismus« wahrzunehmen, wo Nationalstaaten lediglich eine aktive politische Gestaltung vornehmen, kann als Variante der in der »Neuen Rechten« zu beobachtenden Tendenz zu manichäischen Denkmustern, plakativen Erklärungen und affektgeladenen Agitationsformen gelten. Die Orientierung an der US-amerikanischen »alternativen Rechten« und an dem in gesellschaftlichen Fragen konservativen »Paläolibertarismus« von Murray Rothbard ist für Milei zentral. Dieses Spektrum zeichnet sich durch individualistische und antikonformistische Züge aus. Die hierzulande verwendeten Schlagworte des »regressiven Rebellentums« sowie des »libertären Autoritarismus«, die in der Debatte über dieses Milieu in Deutschland verwendet werden, treffen auch Grundzüge von Mileis Programm, Stil und ideologischem Mix.

Rechte Internationale
Anhand der internationalen Allianzen Mileis lassen sich weitere Hinweise auf dessen politische Verortung gewinnen. Victor Orbán, der zur Amtseinführung Mileis gereist war, zeigte sich zufrieden mit dem neuen argentinischen Präsidenten, dank dem der Kampf gegen die internationale Linke effektiver ausgetragen werden könne. Bei der Amtseinführung waren ebenfalls Santiago Abascal von der rechtsradikalen spanischen Partei »Vox« sowie der ehemalige brasilianische Präsident Bolsonaro anwesend. Dass auch Trump in Mileis Sieg ein wichtiges Zeichen sah, verwundert nicht. Aus der deutschen Politik kam Applaus vom neurechten Rainer Zitelmann, der im Wochenmagazin Focus im Januar 2024 die wirtschaftsradikalen und kämpferischen Thesen von Mileis Rede vor dem World Economic Forum zustimmend aufgriff: »Milei hält Kapitalismus für die Lösung vieler Probleme – und er hat Recht.« Seine Kampfansage gegen Sozialismus und Kollektivismus beim Auftritt in Davos fand bis weit ins liberale Lager Zustimmung. Milei bewegt sich seit Jahren im Umfeld internationaler Netzwerke und liberaler sowie libertärer Thinktanks und ist aufgrund seines Berufs in der Wirtschaft sowie seiner Aktivität in zivilgesellschaftlichen Vereinigungen mit bedeutenden Personen aus der internationalen Kapitalistenklasse gut vernetzt. Milei erfuhr von wichtigen Personen des internationalen, digitalen Unternehmertums Unterstützung, so vom CEO des in Lateinamerika dominanten Onlinehandelsplatzes Mercado libre, Marcos Galperin, sowie vom Chef von Twitter/X, Elon Musk.


Frage, ob die in Argentinien verwendeten Begriffe »rechtsextrem« und »rechtsradikal« für Milei angemessen sind, bedarf einer tiefergehenden Analyse. Doch es steht fest, dass Milei seine ökonomisch ausgerichteten, liberal-libertären Anschauungen mit neurechten Symbolen, Praktiken und Slogans verbindet. Mit Milei erfährt die Rechte Argentiniens und auch Lateinamerikas eine Wiederbelebung. Neben Bolsonaro oder dem Präsidenten von El Salvador, Nayid Bukele, hat die »Neue Rechte« Lateinamerikas mit Milei ein weiteres neuartiges Gesicht erhalten.