Rechts aus der Mitte

von Andreas Speit
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 196 - Mai | Juni 2022

Die jüngsten Ermittlungserfolge und Festnahmen in der rechtsterroristischen Szene täuschen darüber hinweg, dass die Sicherheitsbehörden mit ihrem Extremismuskonzept nicht in der Lage sind, die Gefahr der radikalisierten Corona-Leugner*innen zu benennen.

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Zu einer Demonstration im November 2021 in Düsseldorf von »Querdenkern« und der AfD kamen 3.000 Teilnehmer*innen. © Roland Geisheimer / attenzione

Den Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbauch (SPD) wollten sie entführen und bundesweit Sprengstoffanschläge verüben. Am 14. April schritten Sicherheitsbehörden gegen die »Vereinten Patrioten« ein. Polizeikräfte nahmen vier Personen fest und stellten in neun Bundesländern Waffen, Munition und Bargeld sicher. Einen der Hauptbeschuldigten aus Falkensee in Brandenburg beschrieben Nachbarn als »fast schon spießig« und mehr als impfkritisch. Auf dem Briefkasten der Familie prangt ein Aufkleber mit der Aufschrift »Ich lasse mich nicht impfen«.

Mit dem »Blackout« zum Systemsturz
In den vergangenen Monaten reagierten die Sicherheitsorgane sehr unterschiedlich auf die »Querdenken«-Bewegung. Nicht angemeldete Demonstrationen wurden von der Polizei mal als »Spaziergänge« akzeptiert, mal nicht. Angriffe aus den Demonstrationen auf Polizei, Medien und Gegenprotest blieben meist folgenlos. Morddrohungen und Umsturzaussagen in ihren Telegram-Gruppen wurden selten ernst genommen und noch weniger verfolgt. Anders bei den »Vereinten Patrioten«: Die Gruppe soll sich in mehreren Telegram-Chatcliquen und persönlichen Treffen über die Planung ihrer Taten ausgetauscht haben. Als sie Geld für Waffenkäufe besorgten, schritt die Generalstaatsanwaltschaft ein. Nach ihren Angaben wollte die Gruppe durch einen herbeigeführten Systemsturz eine »verfassunggebende Versammlung« in Berlin einberufen, die Deutschland eine neue Ordnung geben sollte – Ideen aus dem reichsideologischen Spektrum, das längst ein eigener Phänomenbereich bei Bundes- und Länderverfassungsschutz ist. Über Jahrzehnte aber wurde sie diese Szene vor allem als »Irre« oder »Verwirrte« pathologisiert. Erst 2016 änderte sich diese Wahrnehmung, nachdem in Bayern ein »Reichsbewegter« einen Polizisten bei dem Versuch seiner Entwaffnung erschoss. Zuvor waren Sicherheitskräfte nur in einzelnen Bundesländern massiv gegen die Szene vorgegangen.
»Der Verfassungsschutz« (VS) – ein »Frühwarnsystem«? Diesem eigenen Anspruch wurde der VS damals nicht gerecht. Die Militanz bestätigte ein »Reichsbewegter« am 20. April dieses Jahres erneut. Wieder bei dem Versuch der Entziehung einer Waffe schoss er in Boxberg minutenlang auf die Polizei und verletzte einen Beamten. Bevor er sich mit seiner Familie stellte, zündete er offenbar das Haus in der baden-württembergischen Stadt an. Einen Angriff hatte die Polizei aber erwartet und war mit Sonderkräften angerückt.

Der PEGIDA-Effekt
Auch die Einschätzung der Sicherheitsbehörden gegenüber der »Querdenken«-Bewegung hat sich im Laufe des Protestes verändert. Gut ein Jahr nach dem Beginn der Proteste, bei denen schon früh Übergriffe und Brandanschläge verübt wurden, erfolgte eine neue Bewertung. Die Bewegung, in der verstärkt Reichsideologien virulent sind, bewegte Ämter und Behörden zu einem neuen »Phänomenbereich«. Im April 2021 schuf das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) den Phänomenbereich »Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates«. Politolog*innen, Soziolog*innen und Antifaschist*innen hatten schon mit Beginn der Proteste vor dem Offensichtlichen gewarnt: einer Selbstradikalisierung mit enormer Dynamik und Aggressivität, die eine Selbstentgrenzung zum extrem Rechten forcieren wird.
Diese spät folgenden Einschätzungen der Sicherheitsorgane dürften nicht allein rechtlichen Grundlagen und internen Verwaltungswegen geschuldet sein. Wenn die Ressentiments gegen Menschengruppen und Aggressivität gegen den Staat aus der Mitte der Gesellschaft erfolgen, scheinen die Innenministerien und Verfassungsschutzstrukturen das »Phänomen« schwer einordnen zu können. Es ist der PEGIDA-Effekt: Kommen die Organisator*innen nicht aus der extremen Rechten und reihen sich sogenannte Wut-Bürger*innen ein, unterbleibt erst eine eindeutige Einordnung. In Medien und Politik dominierte zudem gar lange ein Verständnis für den Protest und das Plädoyer für Gesprächsangebote. Auch die Entwicklung der »Alternative für Deutschland« (AfD) hat dieser Effekt begleitet. Vielmehr standen die Warnungen aus Teilen der Wissenschaft und Zivilgesellschaft gegenüber PEGIDA und AfD sowie ihren Positionen und Auswirkungen in der Kritik.

Die alte Debatte neu diskutiert
In Wissenschaft, Medien und Prävention bestimmt die Extremismusdoktrin immer weniger die Reflexion zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, während sie bei Polizei und Verfassungsschutz weiterhin dominiert. Unter dem »Vorstoß der ›Extremismusprävention‹« versuchen staatliche Institutionen in der politischen Bildung dieses Konzept wieder zu etablieren, schreibt die Politologin und Erziehungswissenschaftlerin Julika Bürgin 2021. Sie weist auf einen Einwand von Georg Fülberth hin. Der Politikwissenschaftler merkte an, dass der »Ausgangspunkt der Extremismusdefinition« im deutschsprachigen Raum die »Festlegung einer ›Mitte‹« sei, die mit dem »demokratischen Verfassungsstaat identisch« gesetzt werde. »Extremistisch« unterliegt insofern auch einer »vorab festgelegten positiven Norm«. Diese Norm erscheint als die Mitte, aus der nichts Extremes komme. Siegfried Jäger hat 1998 gerade diese Subbotschaft betont, dass »die Mitte« folglich keine Ressentiments hervorbringen könnte, ein »Extremismus der Mitte« nicht gedacht werden kann. In Deutschland darf schließlich nicht sein, was nicht sein soll. Eine Selbstentlastung, die die Entkultivierung des Bürgertums gänzlich ignoriert. Vor »roher Bürgerlichkeit« warnt schon lange Wilhelm Heitmeyer. Ein Festhalten an Elitevorrechten, das auch in Egomanie übergehen dürfte – willkommen bei bürgerlichen »Querdenkern« mit oft alternativem Habitus.
Dieses Phänomen kann mit dem Extremismuskonzept nicht erfasst werden. Doch statt es zu hinterfragen, wird ein neuer Phänomenbereich markiert. Denn nach Einschätzung des BfV passt diese Bewegung nicht in den Bereich »Rechtsextremismus«. Bereits die mehr als sperrige »Phänomenbezeichnung« lädt zur kritischen Diskussion ein, öffentlich aber scheint sie auszubleiben. Ein Grund könnte sein, dass die Sicherheitsorgane mit ihrem Handeln die Hoffnung von Politik und Medien endlich erfüllt haben. Im Unterschied zum Reichsideologiespektrum bedurfte es auch keiner Jahre, sondern nur eines Jahres. Aber eine Hoffnungserfüllung ohne Hinterfragung?
In der Erläuterung führt das BfV zu dem neuen Phänomenbereich aus, dass die Bewegung bei ihrer Delegitimierung der »demokratischen Entscheidungsprozesse und entsprechenden Institutionen (auf) sicherheitsgefährdende Art und Weise (…) Verschwörungsmythen wie QAnon oder andere antisemitische Ressentiments« bemühe »wie weitere aus rechtsextremistischen oder ›Reichsbürger‹- und ›Selbstverwalter‹-Zusammenhängen bekannte Stereotype«. Auch Verbindungen bis zu »Rechtsextremisten« bestünden. Ist dies nicht eine Skizzierung einer extremen Rechten, zu deren Charakteristika genau diese Diffamierung demokratischer Begriffe und die Delegitimierung des demokratischen Staates gehören?

Extremismus aus der Mitte
Auch die anderen angeführten Charakteristika von Antisemitismus bis zu Verschwörungsnarrativen sind kein Alleinstellungsmerkmal. Die Grenze scheint für das BfV allein die Biographie der jeweiligen Protagonist*innen zu sein. Sie haben keinen extrem rechten Hintergrund oder reichsideologischen Vordergrund. Sie kommen aus der Mitte der Gesellschaft, aus dem bürgerlichen Milieu wie aus dem alternativen Habitat. Wer daher kommt, kann doch kein Faschist, kein »Rechtsextremer« sein. Die Vita schützt vor der klaren Klassifizierung. Sie schützt auch manche*n Politiker*in und Publizist*in »der Mitte«, wenn sie rechte Ressentiments sag- und wählbar machen. Ein Martin Walser ist längst wieder wertgeschätzt, ein Peter Sloterdijk hochgeachtet, ein Peter Hahne unhinterfragt. Nur eine Eva Hermann, ein Akif Pirinçci und ein Hans-Georg Maaßen gerieten zu eindeutig in eine nachhaltige Kritik. Eine lange Auseinandersetzung – allerdings ohne VS. Und das ist gut so.