Keine Grenzen
von Robert Andreasch
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 215 - Juli | August 2025
#Prozess
Im »Budapest-Komplex« verhandelt das Oberlandesgericht München seit Februar 2025 gegen die Nürnberger Antifaschistin Hanna S. »Budapest-Komplex«, das heißt: Die illegale Auslieferung von Maja T. aus Deutschland nach Ungarn, mehrere Verfahren in Budapest gegen Antifaschist*innen, eine vom Generalbundesanwalt gegen sechs Betroffene erhobene Anklage in Düsseldorf, eine drohende Auslieferung des Antifaschisten Zaid A., Verhaftungs- und Hausdurchsuchungswellen, Untersuchungshaft und internationale Fahndung gegen linke Aktivist*innen aus ganz Europa und vieles mehr. Alles im Anschluss an antifaschistische Proteste gegen das Neonazi-Event »Day of Honour“ im Februar 2023 in Budapest.

© Robert Andreasch
Die Erzählung der Staatsanwaltschaft im Münchner Verfahren geht so: Im Februar 2023 habe es eine kriminelle Vereinigung von Antifaschist*innen gegeben. Deren Ziel sei gewesen, »mittels Gewalttätigkeiten gegen der rechten Szene zugehörige Personen deren Aktivitäten weitgehend zu unterbinden und andere abzuschrecken«. Es habe sich entweder um diejenige Vereinigung gehandelt, die schon 2018 im Raum Leipzig bestanden habe (»Antifa-Ost«). Oder, falls nicht, eben um eine neue Gruppierung. Die nun in München Angeklagte, Hanna S., sei am Wochenende des neonazistischen »Tags der Ehre« – um den 11. Februar 2023 – in Budapest an zwei Attacken auf Rechte beteiligt gewesen. Aus den Platzwunden bei einem Teil der Angegriffenen wurde in der Anklage gegen sie der unbelegte Satz: »Mit dem möglichen Eintreten des Todes hatten sich alle Angreifer abgefunden.« Seitens des Generalbundesanwalts wurde so ein Verfahren, das sonst womöglich ein Amts- oder Landgericht wegen Körperverletzung beschäftigt hätte, hochskaliert: auf eine Anklage wegen Paragraph 129 Strafgesetzbuch und wegen versuchten Mords gegen die heute 29-jährige Kunststudentin. So ein Vorwurf heißt dann auch: Oberlandesgericht, Staatsschutzsenat, Untersuchungshaft. Verhandelt wird in einem unterirdischen Hochsicherheitssaal, der unter die Justizvollzugsanstalt Stadelheim gebaut wurde.
Motivierte Ermittler*innen auf Hochtouren
Die Aktivitäten der Behörden gegen die Beschuldigten haben in den vergangenen zwei Jahren quasi keine Grenzen gekannt. In Budapest ermittelten zeitweise über 50 Beamt*innen, noch am Wochenende des Neonazitreffens haben sich sächsische und thüringische Polizist*innen mit eingeklinkt. Ihr erster Ansatz: In Budapest hängen eine Menge Überwachungskameras: in Bussen und U-Bahnen, in Geschäften und Cafés sowie in den Eingangsbereichen von Wohnhäusern. Wenn auch die angeklagten Taten nicht alle gefilmt wurden, trugen die Ermittler*innen hunderte Videos aus der ganzen Stadt zusammen, auf denen angereiste Antifaschist*innen fast lückenlos über das gesamte Wochenende zu sehen sein sollen. Jemand trägt eine Decathlon-Tüte zur Tür seines Airbnbs herein? Gleich beim Sportwarenhändler auch noch die Videos holen. Die will man alle händisch zusammengefügt haben – auch wenn in einem Teil der zur Akte gelangten Videos Personen auffällig oft mit (software-typischen) Kästen umrandet sind. An die Auswertung machte man sich in internationaler Zusammenarbeit von »Soko Linx« aus Dresden, LKA Thüringen und dem Polizeipräsidium Budapest. Sogenannte Super-Recognizer setzten sich dran, man zog Passfotos von den Einwohnermeldeämtern und aus ED-Behandlungen herbei. Man bat bundesweit Staatsschutzdienststellen um Mithilfe, stöberte online, zum Beispiel bei thailändischen Box-Gyms, herum, durchforstete soziale Netzwerke und gab Identifizierungs- und Gesichtsgutachten bei mehreren Landeskriminalämtern in Auftrag. Ein Team um Professor Dr. Dirk Labudde von der Hochschule Mittweida führte unter Zwang eine 3D-Vermessung der Angeklagten durch, um damit angebliche individuelle Bewegungsmuster belegen zu können.
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Überwachung und detailliertes Wissen
Die Überwachungsgesellschaft ist nicht nur in Ungarn Realität. Ein im Prozess verlesenes Behördenzeugnis des Bundesamts für Verfassungsschutz führte detailliertes Wissen auf über feministische Veranstaltungen, ein Kampfsporttraining sowie über die Solidaritätsdemonstration »Wir sind alle Linx« in Leipzig (2020/2021). Es beinhaltete auch Vermerke, für die man offenbar Wohnungen überwacht hatte und Antifaschist*innen mit Autos hinterhergefahren war. Und dann gibt es noch den früheren Beschuldigten, der, so formuliert es eine Polizistin im Prozess, »mit der Staatsanwaltschaft gerne kommuniziert, der auskunftsfähig ist«. Ermittler*innen haben mit hohem Aufwand Daten von PayPal erhoben; andere versuchten, über automatische Kennzeichenüberwachung weiterzukommen. Bei Airbnb fragten sie die Bestandsdaten sowohl für das Budapester »Day of honour«-Wochenende des Jahres 2023 als auch des Vorjahres ab; schließlich auch Buchungsdaten zur thailändischen Insel, von der man das Boxtrainings-Foto gefunden hatte. Bei manchen der als Zeug*innen geladenen Beamt*innen konnte man so etwas wie Genugtuung spüren, es jetzt endlich mal der Szene zeigen zu dürfen. Kaum jemand, der nicht zerknirscht die »unbekannte männliche Person 8« erwähnte, die man bislang nicht habe zuordnen können. Der führende Nürnberger Staatsschützer gab mit seinem vermeintlich detaillierten Wissen über Linke und Antifaschist*innen in Mittelfranken an: Wer in welchem Wohnprojekt wohne, wer mit wem schon mal Beziehungen geführt habe oder aktuell führe, wer in welcher Schicht in welcher Kneipe arbeite. Bei der Mutter eines Beschuldigten wurde ein Fotoalbum aufgefunden? Alle jüngeren Abgebildeten müssen identifiziert werden! »Kontaktpersonen!« heißt das Schlüsselwort, das offenbar die Ausweitung aller Maßnahmen rechtfertigt. Die Behörden können aus einem gut gefüllten Datenbestand schöpfen, zum Beispiel aus der polizeilichen Kontrolle einer antifaschistischen Busfahrt zum AfD-Bundesparteitag 2017 oder aus einem Nürnberger Graffiti-Verfahren 2023. Warum damals in Bayern bereits sächsische LKA-Beamt*innen einbezogen waren? »Dazu habe ich keine Aussagegenehmigung«, wehrte ein Ermittler ab.
In der von Rechtsaußen aufgeheizten Öffentlichkeit gab es zuletzt eine große, letztlich erfolgreiche Kampagne gegen Hanna S. Die Juryentscheidung, ihr in diesem Jahr den Bundeskunststudierendenpreis zu verleihen, wurde daraufhin ausgesetzt. Lokal hat die extreme Rechte von der Verhandlung dagegen bislang kaum Notiz genommen, lediglich der Allgäuer AfD-
Politiker Wolfgang Dröse schrieb einen kurzen Text im »Freilich-Magazin«. Als die Neonazi-Zeug*innen vernommen wurden, kam niemand mit ihnen mit. Ein Urteil soll nach rund 30 Verhandlungstagen im September verkündet werden.
Anmerkung der Redaktion:
Hanna S. wurde am 26. September 2025 zu 5 Jahren Haft verurteilt.