Unbequem sein

von Andreas Speit
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 212 - Januar | Februar 2025

Abgewogene Aussagen und betonte Bekenntnisse. Kein extrem rechter Anschlag und kein NS-Gedenktag ohne Mahnungen und Warnungen. Bedächtige Reaktionen demokratischer Parteien und grundgesetznaher Medien, die längst Rituale für individuellen Halt in haltlosen Zuständen und gesellschaftliche Sicherheit in unsicheren Zeiten sind.

»Nie wieder ist jetzt« ist seit Anfang des vergangenen Jahres nach dem Bekanntwerden eines Treffens unter anderem von AfD- und CDU-Mitgliedern zum Thema »Remigration« in Potsdam eines dieser Bekenntnisse. Ende 2024 griff es in Magdeburg ein Redner bei einer AfD-Kundgebung nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt kurz vor Heiligabend auf. Mehr als ein Fauxpas – vielmehr eine gezielte Provokation.
So ist doch die Formel bekanntlich eine aktualisierte Anlehnung an den Schwur von Buchenwald. Am 19. Mai 1945 sprachen Überlebende des Konzentrationslagers bei einer Gedenkfeier für die geschätzten 51.000 Ermordeten nahe Weimar diesen Schwur aus. »Nie wieder« war die Botschaft und der Auftrag. Die Instrumentalisierung durch die AfD ist Strategie, die den Skandal als medialen Begleitsound sucht und weiterhin die Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen anstrebt. Sechs Menschen starben durch die Tat von Taleb Al Abdulmohsen in Magdeburg, knapp 300 Menschen wurden teilweise schwer verletzt. Die Gleichsetzung mit den Opfern des Nationalsozialismus bestätigt, wie wenig im Milieu der AfD der Schmerz und das Leid aller Betroffenen, ihrer Familien und Freunde in der Geschichte und Gegenwart wirklich beachtet und berücksichtigt werden. Ein Höcke, ein Björn, ein Gauland, ein Alexander sind eben nicht die einzigen Funktionsträger der selbsternannten Alternative, die heute für die Zukunft die Vergangenheit umschreiben wollen. Diese Geschichtsumschreibung gehört zur DNA der AfD, die sich so selbst in die rechtsradikale Vergangenheitsbewältigung einordnet. Zum AfD-Jargon der Fake News gehört eben auch die Fake History.

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Zwischen Ritual und Realität
Diese Indienstnahme ist aber nicht nur dem vermeintlich geschickten Handeln der AfD geschuldet. Rituale und Formeln – sowohl durch Politik und Medien als auch durch Zivilgesellschaft und Gedenkinitiativen – können ihren Gehalt und ihre Kraft verlieren, wenn Kontext und Konflikte unausgesprochen bleiben. Das staatliche Bekenntnis gegen »Rechtsextremismus« sowie das offizielle Gedenken wegen der NS-Verbrechen setzten Engagierte über Jahrzehnte von unten nach oben durch. Die Auseinandersetzung begann im Westen der Republik nicht erst mit der 68er-Bewegung, die danach fragte, wo der Papa im Krieg war und was die Mutter wusste. Mit der Zeit verstärkte »die Linke« jedoch diese Auseinandersetzung – mit all ihren eigenen Ausblendungen im »antiimperialistischen Kampf«. Im Osten der Republik blockierte die Selbstwahrnehmung als antifaschistischer Staat die Auseinandersetzung. Hüben wie drüben mussten Täter*innen und Mitläufer*innen nicht lange fürchten, verantwortlich gemacht zu werden. Das familiäre Gespräch wurde gemieden.

Erinnerungskonflikte
Ehrenamtlich Engagierte recherchierten jedoch in ihrer Freizeit, organisierten »alternative Stadtrundgänge«, suchten Zwangsarbeiter*innen auf, um für ihre Entschädigungen mitkämpfen zu können, unterstützten mit Petitionen Betroffene für die Anerkennung als »Opfer des Nationalsozialismus« und stritten um die Einrichtung von Gedenkstätten sowie die Deutung der Verbrechen. Willkommen waren sie weder in der Politik noch in der Gesellschaft. Verdrängen und Vergessen war das Motto und das Momentum. Das KZ Neuengamme bei Hamburg, in dem 42.900 Menschen starben, konnte erst 2006 zu einer Gedenkstätte ausgebaut werden. 1989 und 1993 besetzten Roma das Gelände, um Abschiebungen entgegenzuwirken. Auf Bannern in der Gedenkstätte hieß es: »In Auschwitz vergast – bis heute verfolgt.«
Die Konflikte des Gedenkens scheute Esther Bejarano nicht. Die Auschwitzüberlebende verband Erinnern und Ermahnen immer damit, widersprüchlich und widerständig zu sein. Oft erklärte Bejarano, die 2023 mit 96 Jahren verstarb: »Wir sind manchmal unbequem.« Die Akkordeonistin im »Mädchenchor von Auschwitz« erinnerte mit ihren Musikprojekten allerdings nicht nur an das Leid, sie erzählte auch vom Widerstand. Ohne diese Unbequemen, die es sich nicht bequem machten in all dem Leid und Elend der Geschichte und Gegenwart, würden »Asoziale«, Homosexuelle, Zwangssterilisierte, Deserteure und noch viele mehr kaum Anerkennung erfahren. Die »Rote Kapelle« wäre weiterhin bloß ein »Kommunistennest« und die Angehörigen des »Stauffenberg-Kreis« nichts anderes als »Vaterlandsverräter«. Das konservative Milieu haderte lang mit den gescheiterten Adolf-Hitler-Attentätern. Fast scheint es so, als sei diese Anerkennung der Tatsache geschuldet, dass dieses Milieu nicht gerade viele Widerständige anführen konnte. Die neurechte Wochenzeitung »Junge Freiheit« erkannte diese Option, um sich vom Nationalsozialismus zu distanzieren. Claus von Stauffenberg wurde auch ihr »Held«, der aus Pflicht zum Vaterland handelte, ohne das Vaterland zu verraten.

Die »Auschwitzkeule«
Dieses Moment, wem gedacht werden soll, wabert stets in der Gedenk- und Erinnerungspolitik mit. Der Staat und die Gesellschaft sollten Menschen gedenken, die sie selbst nach 1945 sehr lange ablehnten. Ein zumindest skeptischer Blick fiel nicht erst nach den Folgen des Angriffes der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 auf jüdische Menschen in Deutschland. »Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen«, soll der österreich-israelische Arzt und Autor Ziv Rex pointiert haben. Der Spiritus Rector der »Neuen Rechten« Armin Mohler beklagte 1989, dass »die Deutschen« seit 1945 am »Nasenring« der Vergangenheitsbewältigung vorgeführt werden, um als »Volk« nicht mehr zum Volk zu werden. Martin Walser wetterte 1998 bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels über die »Moralkeule« Auschwitz. Der Literat nahm 20 Jahre später die Aussage zurück. Zu spät, viel zu spät. Walser, der bis heute so geschätzte Literat, hatte dem rechten Diskurs Positionen und Argumentationen geliefert. Gegenwärtig fragt man sich im konservativen Feuilleton, ob Walser nicht gar weitsichtig war. Aus der Mitte der meinungspräsenten Gesellschaft wird diese »Auschwitzkeule« geschwungen, welche die Ambivalenz zwischen dem erstrittenen öffentlichen Gedenken und dem privaten Erinnern forciert. Aleida Assmann machte in den 1980er Jahren das Ende des »kollektiven Beschweigens« aus. In staatlichen Institutionen wurde über die Jahre hinweg allerdings eine Geschichte der NS-Vergangenheit dargelegt und ritualisiert, die in privaten Sphären anders erzählt und manifestiert wurde. »Opa war kein Nazi« ist eben nicht nur eine Position der extremen Rechten. 1995 zeigte die »Wehrmachtsausstellung« den Vernichtungskrieg der Wehrmacht von 1941 bis 1944 in Bildern und widerlegte damit die Mär von der »sauberen Wehrmacht«. Die Anschläge kamen aus dem extrem rechten Lager, die Anfeindungen erfolgten aber ebenso aus dem konservativen Spektrum. Lange her, doch die Prozesse gegen Wehrmachtsangehörige und KZ-Mitarbeitende in den vergangenen Jahren deuten eine generationsübergreifende Abwehr der Aufarbeitung an. Mal recht nüchtern mit der Anmerkung, die Beschuldigten seien doch nun so betagt, mal recht barsch mit der Ansage, jetzt müsse aber auch mal Schluss sein.

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Unbequemlichkeit des Erinnerns
Schluss, Aus, Ende klingt im Haus der Mordenden und Mitlaufenden immer wieder an, weil in dem Haus die Widerständigen und Widerstehenden kaum mehr da sind – nicht weil Zeitzeug*innen versterben. Der Nationalsozialismus hat die familiäre Tradition von sozialen Streiks bis emanzipatorischen Kämpfe gekappt. Der Stalinismus kappte nicht minder diese Widerstandskultur. Die rote Uroma konnte nicht mehr erzählen, wie sie Streiks organisierten, Flugblätter verteilten und notfalls Waffen besorgten. Erst mit der 68er-Bewegung scheinen in den Familien die Erzählungen von Protest und Polizeigewalt, Hausbesetzung und Haft, Befreiungen und Berufsverbot generationsübergreifend weitergegeben zu werden. Einer, der in Texten immer wieder auf die lange Widerstandstradition vom »Bauernkrieg« oder »Vormärz« anspielte, sorgte sich aber auch wegen der satten Zufriedenheit nach 1968. In »Botschaft an eine Enkelin« lässt Franz Josef Degenhardt eine »Großmama« dem ihr unbekannten Nachwuchs eine Nachricht zukommen: »Glaub ihnen nicht«, wenn sie von der »verrückten Alten« mal reden, die Brandsätze in Geldtempel warf, denn »sie lügen sich immer alles zurecht, damit sie so weiter leben können«.
Das Vergangene ist nicht nur nicht vergangen, die Geschichte prägt die Zukunft. Die Wahlerfolge der AfD, das Zögern der staatlichen Sicherheitsstrukturen bei der Einordnung der Partei führen mit zu den verstärkten Angriffen auf Gedenkstätten und Anfeindungen der Erinnerungskultur. Das Milieu der AfD will verlorenes Terrain im vorpolitischen Raum zurückgewinnen. Die Geschichtslosigkeit der weißen Mehrheitsgesellschaft lässt KZ-Gedenkstättenbesuche von Schulklassen zudem mehr und mehr als »Pflichttermine« erscheinen, auch weil die Kämpfe um das Erinnern nicht erzählt und somit nicht erinnert werden. Die Ambivalenz zwischen öffentlichem Gedenken und privatem Erinnern verschärft sich. Das »Nicht schon wieder!« oder »Was geht uns das an?« ist nicht erst durch die Migrationsgesellschaft eine erinnerungspolitische Herausforderung geworden. Es gab und gibt immer ein Ringen um Einordnen und Ehren. Es bedingt immer ein Unbequemsein. Die laufenden Angriffe und Anfeindungen sollten weitere Forderungen nicht unterbinden. Der Tag der Befreiung, der 8. Mai 1945, muss ein »Feiertag« werden, forderte Bejarano. Lasst uns die Niederlage Nazi-Deutschlands feiern!

Widerstand gegen das NS-Regime. Ähnlich wie die Punks waren auch die Meuten ideologisch schwer zu greifen. Sie stammten aus der Arbeiter:innenschicht, aber ihr einziges Flugblatt endet mit den Worten „Es lebe der Broadway“. taz.de/Jugendlicher…

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