Marine Le Pen
von Bernard Schmid
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 212 - Januar | Februar 2025
#Frankreich

Noch ist Marine Le Pen in kein staatliches Amt gewählt – bislang bekleidete sie nur innerparteiliche Posten, als Parteichefin von 2011 bis 2022 und seither als Fraktionsvorsitzende – und aufgrund eines anhängigen Gerichtsverfahrens erscheint ihre politische Zukunft sogar theoretisch ungewiss. Doch schon führt sie sich nahezu wie eine Staatschefin auf. Staatspräsident Emmanuel Macron hält am Abend des 31. Dezember 2024 eine Neujahrsansprache im Fernsehen? Noch am Nachmittag des Silvester-Tags präsentiert Marine Le Pen, ebenso wie ihr Nachfolger im Parteivorsitz, der 29 Jahre junge Jordan Bardella, ihre eigene Neujahrsrede, übertragen über die sozialen Medien. Macrons Premierminister François Bayrou reist am 30. und 31. Dezember 2024 auf die, vierzehn Tage zuvor durch eine Wirbelsturmkatastrophe hart getroffene, Inselgruppe Mayotte, ein französisches »Überseegebiet« zwischen Madagaskar und Mosambik. Marine Le Pen kündigt ihre eigene Reise dorthin an, vom 5. bis 7. Januar 2025.
Bei Redaktionsschluss dieses Artikels war hingegen noch unklar, ob Le Pen tatsächlich, wie eine Reihe von Staats- und Regierungschefs, an der Amtseinführung von US-Präsident Donald Trump am 20. Januar teilnehmen würde. Die Fraktionschefin des neofaschistischen »Rassemblement National« (RN, »Nationale Sammlung«) behauptete, dorthin offiziell eingeladen worden zu sein. Allerdings bestanden daran zunächst Zweifel, da sie dies auch Anfang 2017 bei der ersten Amtsübernahme von Donald Trump behauptet hatte. Damals blieb sie allerdings im Erdgeschoss des »Trump Hotels« in New York hängen und wurde nicht zu ihm vorgelassen. Ob sich die Zeiten diesbezüglich geändert haben?
Strategische Innenpolitik
Weitgehend fest dürfte dagegen stehen, dass die RN-Politikerin in Paris in den letzten Monaten eine wichtige Schlüsselrolle bei der französischen Regierungsbildung spielte. Dies gilt sowohl für die Einsetzung der Minderheitsregierung des am 5. September 2024 durch Emmanuel Macron ausgewählten, knapp drei Monate später durch die Nationalversammlung gestürzten Konservativen Michel Barnier als auch für die Nachfolgeregierung unter dem Christdemokraten François Bayrou.
Am 23. Dezember 2024, dem Tag der Ernennung der Mitglieder des Regierungskabinetts von François Bayrou – er selbst war zehn Tage zuvor durch Staatspräsident Macron eingesetzt worden –, erklärte der nordfranzösische Regionalpräsident Xavier Bertrand, ein als moderater Konservativer geltender bürgerlicher Politiker, er habe es abgelehnt, in eine »mit dem Segen von Marine Le Pen gebildete Regierung« einzutreten. Wahrscheinlich ist, dass seine ursprünglich geplante Ernennung zum Justizminister an einem ausdrücklichen Veto der RN-Politikerin – Staatspräsident Macron konsultierte Marine Le Pen erklärtermaßen telefonisch – scheiterte. Seitens des RN wird Bertrand vorgeworfen, er habe sich wiederholt abschätzig bis verbal aggressiv über die Rechtsaußenpartei geäußert. Bertrand war 2015 in Abgrenzung von ihr zum Regionalpräsidenten in Lille gewählt worden. Zuvor war Anfang Dezember 2024 das Kabinett Barnier nach nur zehnwöchiger Regierungszeit gekippt worden. Dabei erwies sich letztlich die RN als treibende Kraft. Denn von ihrer Tolerierung in der Nationalversammlung hing die Regierung Barnier de facto ab. Das war ein Novum, eine Premiere in der Geschichte der Fünften Republik. Noch nie hatte eine Regierung auf der Unterstützung der extremen Rechten basiert.
Die RN hatte dabei keine feste Doktrin zur umstrittenen Haushaltspolitik, im Unterschied zur Linken – mehr Umverteilung durch Steuern für die höheren Einkommensklassen und Kapitalbesteuerung und der bürgerlichen Rechten – weniger Ausgaben für Soziales, Bildung, Gesundheit. Vielmehr oszillierte ihre Argumentation ständig zwischen beiden Polen hin und her, ohne allerdings den Widerspruch zwischen den beiden Grundpositionen zu markieren. Da auch die eigene Basis zunehmend gegen die Regierung eingestellt war, entschied sich die RN nun dazu, Barnier politisch über die Klinge springen zu lassen.
Die extrem rechte Partei stimmte somit dem Misstrauensvotum der Linksparteien zu, die von vornherein gegen die Austeritätspolitik Sturm liefen. Dabei waren die Antragsbegründungen von beiden Seiten einander diametral entgegengesetzt. Marine Le Pen betonte, die Linksopposition sei, so die Rednerin wörtlich, »unser Instrument«, wenn ihre Partei nun deren Misstrauensantrag zustimme. Und Abgeordnete der heterogenen Linksopposition ihrerseits wetterten, die Regierung habe »ihre Ehre verloren«, weil sie sich auf Techtelmechtel mit der extremen Rechten eingelassen habe und darauf setze, sich mit ihrer Hilfe an der Macht zu halten.
In Erwartung von Prozess und Urteil
Marine Le Pen verfolgt aber auch eine ganz eigene Agenda. Denn in dem Prozess, der ihr und ihrer Partei seit September 2024 wegen der Hinterziehung mehrerer Millionen von Geldern des Europaparlaments für den eigenen Parteiapparat gemacht wird, forderte die Staatsanwaltschaft am 13. November 2024 für Le Pen drei Jahre auf Bewährung plus zwei Jahre mit elektronischer Fußfessel sowie einen mehrjährigen Entzug des passiven Wahlrechts.
Bevor das Urteil verkündet wird, was für den 31. März 2025 in Aussicht gestellt ist, würde Marine Le Pen gerne eine vorgezogene Präsidentschaftswahl herbeiführen. Denn findet diese planmäßig 2027 statt, könnte ihr Name auf den Wahlzetteln fehlen. Ihrem innerparteilichen Mitstreiter und möglichen künftigen Kontrahenten Jordan Bardella möchte sie da nicht das Feld überlassen. Also würde sie gerne Macron politisch in die Enge treiben, um ihn aus dem Amt zu drängen. Auf diese Weise knüpft die RN, die in den Monaten zuvor strategisch vor allem darauf setzte, den Beweis ihrer bürgerlichen Respektabilität und erstmals auch ihrer Regierungsfähigkeit – durch sogenannten konstruktiven Umgang mit einem regierenden Kabinett – und ihres »Verantwortungsbewusstseins« anzutreten, wieder mit dem seit Jahrzehnten gepflegten Image als »Anti-System-Partei« an.
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Auch fand im Vorfeld der Urteilsverkündung – besonders unmittelbar nach Bekanntwerden der Strafforderungen der Staatsanwaltschaft – bereits eine rege Polemik über die Frage der unmittelbaren Rechtskräftigkeit des Urteils statt. Üblicherweise wird diese in der Mehrzahl der Strafrechtsfälle nach dem erstinstanzlichen Urteil ausgesetzt, um im Fall der Anrufung höherer Instanzen den Ausgang des Berufungs- respektive Revisionsverfahrens abzuwarten. Doch kann eine Strafrechtskammer mit eigener Begründung den sofortigen Vollzug eines Urteils anordnen, beispielsweise bei sofortigem Haftantritt wegen erwiesener Gefährlichkeit des Verurteilten oder besonderen Unrechtsgrads.
Einen solchen sofortigen Strafantritt forderte die Staatsanwaltschaft im Hinblick auf Marine Le Pen. Geht das Gericht darauf ein, würde dies voraussichtlich bedeuten, dass ihr ab Ende März 2025 schon der Entzug des passiven Wahlrechts droht, denn eine Verurteilung gilt als äußerst wahrscheinlich. Dagegen erhob sich aus unterschiedlichen Gründen – von Seiten ihrer Basis, doch aus anderen Motiven auch von anderen politischen und sonstigen Persönlichkeiten – ein Sturm von Widersprüchen. Auch der frühere Innenminister von Emmanuel Macron vor September 2024, Gérald Darmanin, erklärte lautstark, es sei der Demokratie abträglich, käme es zur sofortigen Umsetzung des Urteils. Nun wurde eben dieser Darmanin am 23. Dezember 2024 zum neuen Justizminister ernannt. Das ist zumindest ein pikantes Detail. Allerdings wird Darmanin auch im neuen Amt den Richterinnen und Richtern kein Urteil vorschreiben können, diese sind statutarisch unabhängig.
Sollte Marine Le Pen neben einer Reihe weiterer Granden der RN verurteilt werden und dieser Richterspruch nicht die sofortige Rechtsvollstreckung beinhalten, hätte sie wohl vor einem höchstrichterlichen Urteil in dritter Instanz genügend Zeit, um die Präsidentschaftswahl vorzubereiten, auch wenn diese turnusmäßig 2027 stattfindet. Andernfalls wird wohl Jordan Bardella an ihrer Stelle die Kandidatur bestreiten. Den Ausgang des Verfahrens wird Jean-Marie Le Pen – der Vater von Marine Le Pen und Gründer des »Front National«, der später in RN umbenannt wurde – nicht mehr erleben. Er starb am 7. Januar 2024 im Alter von 96 Jahren.
In beiden Fällen gilt allerdings, dass sich jedenfalls im Beispielsfall von Donald Trump erwies, dass Richtersprüche nicht notwendig abschreckende Wirkung auf Wählerinnen und Anhänger ausüben; unter Umständen können Verurteilungen durch viele von ihnen auch als »Ausweis der Verfolgung durch das System« und damit quasi als Ritterschlag interpretiert werden.
Die anderen doch auch …
Einen weiteren faktischen Verbündeten hat Marine Le Pen dabei auch in Gestalt des nun amtierenden neuen Premierministers François Bayrou. Auch er wurde nämlich in erster Instanz wegen illegaler Parteienfinanzierung des Mouvement Démocrate (Modem, Demokratische Bewegung) über das Europäische Parlament verurteilt – wegen der damals laufenden Ermittlungen musste er übrigens 2017 als Justizminister unter Macron zurücktreten –, in Berufung dann aber »aufgrund Mangels an Beweisen« Anfang Februar 2024 freigesprochen.
Seine Partei als juristische Person sowie mehrere ihrer sonstigen früheren Europaparlamentsabgeordneten wurden jedoch verurteilt. Ähnlich wie später der RN wurde ihnen vorgeworfen, ständiges Personal ihrer Parteizentrale fälschlich als angebliche Mitarbeiter*innen des Europaparlaments ausgewiesen zu haben, woraufhin dieses es bezahlt hatte. Allerdings ist die Beweislage im Falle der RN wesentlich erdrückender, denn hier wurde reichlich belastendes Material in deren Parteizentrale beschlagnahmt. Dazu zählen Dokumente zur Arbeitszeiterfassung bei Parteiangestellten, die belegen, dass sie entgegen anderslautenden falschen Angaben nie in Brüssel oder Strasbourg tätig waren, und E-Mail-Wechsel, aus denen sich unter anderem ergibt, dass vorgebliche parlamentarische Mitarbeiter »ihre« Europaparlamentsabgeordneten gar nicht kannten.