Der große Radikalisierer?

von Ivo Rosen
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 208 - Mai | Juni 2024

Mit knapp 2,6 Milliarden monatlich aktiven Nutzer*innen ist YouTube die größte Videoplattform im Internet, rund 70 Millionen Nutzer*innen kommen aus Deutschland. Laut des Datenbankdienstleisters Statista sind 20,2 Prozent der weltweiten YouTube-Nutzer*innen zwischen 25 und 34 Jahre alt. Zum Vergleich: Die Tagesreichweite von YouTube-Videos in Deutschland der gleichen Altersgruppe liegt bei 73,9 Prozent. Bei Befragten ab 50 Jahren beträgt sie nur knapp 20 Prozent. Hinzu kommt, dass YouTube den wohl umfangreichsten Videoinhaltskatalog umfasst, mit weit über 500 Stunden neuer Videoinhalte pro Minute und mehr als 51 Millionen YouTube-Kanälen. Bezogen auf Medienrezeption ergibt eine Erhebung der JIM-Studie (Jugend, Information, Medien Basisuntersuchung) aus dem Jahr 2023, dass etwa ein Drittel der Befragten Nachrichten und Informationen zum Weltgeschehen primär über YouTube bezieht. Unschwer lässt sich also feststellen, dass YouTube als Medium für Unterhaltung und Information in Deutschland bei jungen Menschen sehr beliebt ist. Es ist nur folgerichtig, dass antidemokratische Akteur*innen diese Plattform für ihre extrem rechten, rechtspopulistischen und reaktionären Kanäle, das heißt für ihre Mobilisierungs- und Radikalisierungszwecke nutzen. Eine Analyse muss einen genaueren Blick auf rechte YouTube-Accounts, ihre Inhalte, Strategien und Ziele werfen. Hierfür betrachtete das Monitoring der Amadeu Antonio Stiftung über 400 Accounts, von denen zwar nicht alle als klassisch »rechtsextrem« eingestuft werden können, aber zumindest in Teilen rechtspopulistisch, reaktionär, frauenfeindlich, queerfeindlich oder antidemokratisch orientiert sind.

Die Geschichte der Rechten im Internet
Schon lange vor Social Media versuchten antidemokratische Kräfte, Teletext, Foren oder IRC-Chat systematisch zu infiltrieren und für sich zu gewinnen. Extreme Rechte gelten als frühe Anwender*innen von E-Mail, Bulletin Board-Technologien oder GeoCities-Websites, zumal diese eine frühe Möglichkeit für die Nutzung vernetzter klandestiner Kommunikation und Mobilisierung boten. Mit deren Hilfe konnten Rechtsalternative in den 1990er Jahren Sicherheitsbehörden erfolgreich ausweichen. Frühe Portale wie beispielsweise »Stormfront« galten als perfekte neue Instrumente, um einerseits als Feind markierte Bevölkerungsgruppen zu bedrohen und andererseits Sympathisant*innen zu radikalisieren. Ab den 2000er Jahren bieten Social-Media-Plattformen wie YouTube, Facebook, Twitter und Co. eine willkommene technologische Alternative, die antidemokratischen Akteur*innen den Sprung in den sichtbaren, reichweitenstarken Bereich des Internets ermöglicht. Bestärkt durch nutzer*innenfreundliche Empfehlungsalgorithmen und neue Zielgruppen versuchten rechte Kräfte sehr früh, diese Plattformen für sich zu erobern. Ohne den strategischen Einsatz von Social-Media-Plattformen wäre ein koordinierter Zusammenschluss vieler rechtsoffener bis extrem rechter Milieus unter dem Banner der »Mosaikrechten« nicht möglich gewesen. Koordinierungstaktiken wie »Nein zum Heim«, »GamerGate«, »Reconquista Germanica« oder im Internet live-gestreamte Attentate wie Christchurch und El Paso konnten nur durch die technische Infrastruktur von Web 2.0 möglich gemacht werden. Hinzu kommen die reichweiten- und sichtbarkeits­potenzierenden Effekte diverser Empfehlungsalgorithmen, die dem rechten Spektrum digitale Bühnen geben, die über den eigenen Wirkungskreis weit hinaus reichen. Recherchen der New York Times zum YouTube-Algorithmus vor der Anpassung der Richtlinien 2019 zeigen beispielsweise eindrücklich, wie Nutzer*innen mittels der Autoplay-Funktion beim Konsum von Jogging-Videos oder Videos über Veganismus zu Wahlkampf-Massenversammlungen von Donald Trump und weiter zur Ideologie der »White Supremacy« (»Weiße Vorherrschaft«) und direkt zu Holocaustleugnung geführt werden können. Von diesen algorithmischen Fehlleistungen konnten letztendlich rechte Kanäle profitieren und sich damit massenwirksam profilieren. Auf YouTube lässt sich der Erfolg durch Skandalisierung, Desinformation und Verschwörungsideologie gut nachzeichnen. So berichtet ein Aussteiger der New York Times über seine Methoden, auf YouTube algorithmischen Erfolg zu verzeichnen: »Wir würden den dramatischsten Moment wählen – oder ihn vortäuschen und ihn dramatischer aussehen lassen. (…) Wir haben erkannt, dass eine Zukunft auf YouTube von Konfrontation geprägt sein muss. Jedes Mal, wenn wir so etwas taten, explodierte es weit über alles andere hinaus.« Unter den Social-Media-Plattformen haftete der Ruf der »Echokammer« besonders an YouTube, zumal der Empfehlungsalgorithmus ähnliche Videos ausspielte, um die Anschaudauer der Videos in die Höhe zu treiben. Doch je länger jemand zuschaut, desto extremer können die Videos werden. Als Reaktion auf die breite gesellschaftliche Kritik ergriff YouTube 2019 Gegenmaßnahmen und kündigte Löschungen und Plattformsperren für extrem rechten oder antidemokratischen Content an. Durch den Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 folgten weitere Einschränkungen für Desinformationen, organisierte Gruppierungen und Verschwörungsideolog*innen. In Deutschland sperrte YouTube 2020 prominent die Accounts einiger Köpfe der »Identitären Bewegung« wie etwa Martin Sellner. Doch ist das statische System der Sperrung einzelner Content-Produzent*innen geeignet, extrem rechte Kanäle auf einer hochdynamischen Plattform zurückzudrängen?

Antifa Magazin der rechte rand
Screenshot des YouTube-Kanals der Verschwörungserzähler*innen von NuoViso.

Generation 2.0
Eine vergleichende Analyse des de:hate Monitoring-Teams der Amadeu Antonio Stiftung vergleicht die größten rechten YouTube-Kanäle aus dem Jahr 2020 mit denen aus 2024. Augenfällig dabei sind die Kontinuitäten: Kanäle wie die von Tim Kellner, »COMPACT TV«, »AfD TV«, »AfD Fraktion im Bundestag«, »achse:ostwest« sind nach wie vor auf der Plattform zu finden. Bei diesen Kanälen lässt sich ein exponentielles Wachstum sowohl bei der Zahl der Abonnent*innen als auch der Views feststellen. Einige extrem rechte Kanäle sind in Folge der YouTube-Policy-Updates aus 2020 von der Plattform entfernt worden. Gesperrt wurden die Kanäle von Martin Sellner und Oliver Janich, die mittlerweile auf Alt-Tech-Ausweichplattformen wie Telegram, BitChute und Odysee ihre hasserfüllten Inhalte weiterverbreiten. Doch die Analyse macht deutlich, dass sogenannte Junginfluencer*innen oder Neuzugänge sich erfolgreich die Plattform zu eigen machen konnten. Zu diesen gehören die »Ketzer der Neuzeit«, der reaktionäre Podcast von »Hoss und Hopf« sowie der rechtspopulistische Sender »NIUS« mit dem ehemaligen Bild-Chefredakteur Julian Reichelt (»Achtung, Reichelt«), die allesamt nach 2020 eröffnet wurden. Keine neuen Kanäle, dafür online in den Fokus gerückt sind die verschwörungsideologischen und rechtspopulistischen YouTube-Accounts von Boris Reitschuster, des propagandistischen TV-Senders »NuoViso TV« oder des rechtspopulistischen Magazins »Deutschlandkurier«.


Mitunter bedienen diese Kanäle ein breites Inhaltsspektrum, das beispielsweise von Covid- und Impfskeptizismus (Boris Reitschuster) über populistische Hetze zu Migration, Klima und Staatsdelegitimierung (Deutschlandkurier) bis zu mitunter russischer Propaganda und Verschwörungsideologie (»NuoViso TV«) reicht. Schlussfolgernd lässt sich feststellen, dass von den beobachteten Kanälen, die als rechts einzustufen sind, allein die elf Kanäle mit den meisten Abonnent*innen knapp 1,1 Milliarden Views verzeichnen. Im Vergleich dazu lagen die größten rechten Kanäle 2020 bei knapp über 177 Millionen Views. Dieses starke Wachstum lässt sich auch damit erklären, dass das Spektrum der »Mosaikrechten« viel heterogener aufgestellt ist, sowohl bezogen auf Inhalte als auch Zielgruppen. So sprechen Junginfluencer*innen wie »Ketzer der Neuzeit« oder »Hoss und Hopf« ein besonders junges Publikum ab 13 Jahren an, während Boris Reitschuster und »Achtung, Reichelt« als Formate vor allem bei Erwachsenen gut punkten können. Hinzu kommt, dass diese YouTube-Kanäle einen immensen Professionalisierungsschub erfahren haben, der von professionellem Video-Equipment, hohem Produktionswert bis hin zu voller Studioausstattung samt Moderationsteam reicht. Dazu gehören feste Sendezeiten, eigene Formate oder Sendungen, Shownotes und professionelle Aufmachung in Schnitt, Ton und Bild.

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Erfolgsfaktoren
Die Frage, was einen YouTube-Account erfolgreich macht, muss mit einer Analyse in Bezug auf Effekte der Parasozialität, also der Publikumsbindung, beantwortet werden. So arbeiten alle der oben aufgezählten Kanäle mit einer Strategie der Nahbarkeit, Direktheit und mit einem niedrigschwelligen Zugang. Damit suggerieren sie ihren Zielgruppen Glaubwürdigkeit und spielen mit Emotionen. Diese YouTube-Kanäle inszenieren sich als Betroffene, als Personen, die lediglich die Meinung des Volkes wiedergeben und bloß Missstände aufdecken. Dabei projizieren sie konsequent die Vorstellung, sie würden wegen ihrer antidemokratischen Überzeugungen politisch verfolgt und gesellschaftlich geächtet. Zwar wird keiner dieser Kanäle für die antidemokratische Meinung geahndet oder sanktioniert, dafür greift die kollektive Erzählung der »gecancelten« Meinung umso mehr.
Gleichzeitig forcieren rechte Influencer*innen die parasoziale Bindung, indem sie ausdrücklich um Feedback, Vertrauen und eine Beziehung zu ihrem Publikum buhlen. Das Feedback ist direkt in die YouTube-Oberfläche integriert, indem Nutzer*innen auf Inhalte mit Likes, Kommentaren und Kanalabonnements reagieren können. Im Vergleich zu »herkömmlichen« Nachrichten und Informationsquellen, die Objektivitätsnormen und journalistische Standards einhalten müssen, arbeiten rechte Medienmacher*innen auf YouTube mit Meinungen und subjektiven Belegen. Auch kritisieren sie die Objektivität klassischer Medienmacher*innen und behaupten, »die Medien« maskierten bloß ihre Meinungen als Fakten. Dazu kommt, dass im Vergleich zu linearen Formaten im TV – die aufgrund von zeitlicher Programmrestriktionen nicht immer einen vertiefenden Blick gewährleisten – die flexible YouTube-Infrastruktur, abendfüllende Sendungen und Liveschaltungen ermöglicht.