Der Gescheiterte – Das Versprechen war kein Versprecher
von Andreas Speit
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 216 - September | Oktober 2025
#Merz
Als Kandidat für den CDU-Parteivorsitz wollte Friedrich Merz einst die AfD-Wahlergebnisse halbieren. Seine Politik als Kanzler scheint den Zuspruch für die extrem rechte Partei zu verdoppeln.

In den ersten 120 Regierungstagen brach der neue Bundeskanzler einige seiner Wahlkampfversprechen. Das Unions-Dogma »Schuldenbremse« hebelte der CDU-Kanzler nach der Bundestagswahl aus. Statt »No-Gos«, mit denen Friedrich Merz die rot-grün-gelbe Vorgängerregierung fast handlungsunfähig erscheinen ließ, erfolgt jetzt ein »Anything Goes«. Das Lockern der Schuldenbremse löste im konservativen Milieu äußerste Skepsis aus. Kritik wurde ebenso laut bei der später beginnenden »Mütterrente« und der ausbleibenden privaten Strompreissenkung. Wahlkampfversprechen sind eben nur Wahlkampfversprechen. Ein Versprechen, das Merz ebenfalls nicht einhielt, wurde in der Union aber nicht öffentlich thematisiert: Hatte der CDU-Bundesvorsitzende nicht angekündigt, die Wahlergebnisse der AfD »halbieren« zu wollen?
Andienen statt abgrenzen
Diese Frage stellte dem Bundeskanzler auch Diana Zimmermann im ZDF-Sommerinterview vom 31. August 2025 nicht. Im Gespräch wiegelte der Kanzler indes Fragen zu Konflikten mit der SPD-Regierungspartnerin bei der Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik mit Verweis auf den Koalitionsvertrag ab. Bei Nachfragen der Leiterin des ZDF-Hauptstadtstudios wirkte er leicht genervt. Er ließ die Journalistin so dastehen, als wenn ihr das nötige Know-How fehle, um Antworten von ihm erbitten zu dürfen. »This is a man`s world« klang an. Als Macher, Praktiker, als ein Mann, der nun aufräumt, wollte Merz offenbar erscheinen.Eine Diskussion um das Versprechen von der Halbierung wäre da auch irgendwie unpassend gewesen. Zugegeben, dieses Versprechen machte Merz nicht im Kampf um das Kanzleramt, sondern um den Parteivorsitz. 2018 hatte der Kandidat, damals ohne Parteiamt und -würden erklärt – bis heute auf X nachlesbar: »Wir können wieder bis zu 40 Prozent erzielen und die AfD halbieren. Das geht! Aber wir selbst müssen dafür die Voraussetzungen schaffen.« Zudem ist dies auch fast sieben Jahre her. Long time. Politische Grundpositionen und ethische Werte sollten sich allerdings in einer christlichen Union – in den analytischen Perspektiven und deren strategischer Realisierung – nicht auf eine tagespolitische Dimension beschränken.
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In der Ruhe liegt die Kraft und führt zu Über- und Weitblick, scheint Merz derweil ausstrahlen zu wollen. Seine Strategie, um die AfD zu »stellen«, hat der neoliberale Kanzler früh eingeschlagen. Schnell versuchte er, mit der verbalen Radikalisierung der eigenen Ressentiments – einer »Kleine-Paschas«-Rhetorik – vermeintlich konservative Wähler*innen von der AfD für die CDU zurückzugewinnen. Zügig ließ er ohne Rechtsgrundlage Maßnahmen gegen Migration zu – »Grenzen-dicht«-Symbolik. Bereits vor der Bundestagswahl störte sich Ende Januar die Union unter Merz im Bundestag nicht an der Zustimmung der AfD zu ihrem Migrationsantrag, mit dem sie auf Zurückweisungen an den deutschen Grenzen drang. Ein Tabubruch, der den Wortbruch eingekreist hatte.
Normalisierung vorangetrieben
Mit dem »Stellen« blockiert Merz zudem jegliche Verbotsüberlegung. Als ob die Union die AfD nicht ohnehin schon normalisieren würde und prosperieren ließe. Doch hat die AfD die CDU/CSU nicht schon längst da, wo sie sie haben – zerreiben – will? Rhetorisch sind die Schwarzen bei den Blauen Alice Weidel und Tino Chrupalla im Wording gegen Geflüchtete und »Gutmenschen« angekommen. Praktisch ist die CDU/CSU in der Realisierung einer aggressiv-repressiven Einwanderungs- und Asylpolitik angekommen, die auch den extrem Rechten zusagt. Und angekommen bedeutet nicht, dass ein Ende des Wegs zu erwarten ist.
Diese Richtung schlägt die CDU in Begleitung der SPD um Lars Klingbeil ein. Beide Parteien fordert das AfD-Bundesspitzenduo weiter heraus. In alle ihnen hingehaltenen Mikrofone erzählen sie: »Das sagen wir die ganze Zeit. Und wenn die das jetzt sagen, können wir ja nicht radikal, rechtsextrem sein«; und erklären sogleich, dass die angekündigten Maßnahmen nicht ausreichen, sondern weitreichender sein müssten. Die SPD wie die Grünen sind letztlich für die AfD nicht die Hauptfeinde, die Volk und Vaterland verraten – denn das läge diesen »Volksverrätern« schließlich in der DNA. Dem konservativen CDU-Milieu jedoch weniger. Die »Cuckservatives« beklagt das AfD-Spektrum allerdings schon länger. Diese Konservativen würden zwar gegen den Zeitgeist rebellieren, ohne jedoch gegen den Geist der Zeit zu mobilisieren, wie so mancher gegenwärtige Wiedergänger der »Konservativen Revolution« (KR) postuliert. Im »Tagebuch« führt Ernst Jünger diesen antibürgerlichen Konservatismus an: »Wir überlassen die Ansicht, daß es eine Art der Revolution gibt, die zugleich die Ordnung unterstützt, allen Biedermännern«, schrieb der KR-Fundamentalist 1929 und führte weiter aus, dass sie die »echten und unerbittlichen Feinde des Bürgers« seien. Jünger, der »eiskalte Wollüstling der Barbarei« (Thomas Mann), der 1925 auch schrieb: »Ich hasse die Demokratie wie die Pest« wurde nach 1945 von der konservativ-bürgerlichen Mitte der CDU trotz dessen klaren Bekenntnisses mit dem Bundesverdienstkreuz (1977) und einem Bundeskanzlerbesuch (1993) geehrt. In den belesenen Zirkeln in, um und vor der AfD schimmert diese antidemokratische Mentalität mehr als durch. Sie befeuert die tiefe Verachtung gegenüber einer liberalen Demokratie.
Kulturkampf als Ablenkung
Die Lust an einer antidemokratischen Provokation im vorpolitischen Raum von Republikmüden und -enttäuschten mahnte Hanna Arendt als mitursächlich für das Scheitern der Weimarer Demokratie an. Eine Provokation, die ein Framing ist. Seit Jahren ersetzt die AfD reale Sozialpolitik durch kulturpolitische Provokationen. Diese Kämpfe führt sie so hart und ausdauernd, dass sie als Problem aller Probleme wahrgenommen werden. Ihr Agenda-Setting ist insofern mehr als nur ein Angriff gegen Wokeness oder Vegetarismus oder Sex. Es gelingt allerdings auch, weil Andere außerhalb der Partei diese Themen in deren Wording übernehmen. Im Interview mit der taz griff Robert Habeck jüngst jene Kulturkämpfer*innen ohne AfD-Mitgliedschaft an. Mit dem Streit um eine Regenbogenfahne am Bundestag habe Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) einen Kulturkampf befeuert und damit alle »Fundamentalisten« gegen LGBTQ unterstützt. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) würde derweil mit seinem »fetischhaften Wurstgefresse« alternative Ernährungsweisen angreifen. Einem Großteil der Gesellschaft ist zwar egal, wer wen liebt und wer was isst, die Kulturkämpfer*innen hetzen dennoch unbeirrt weiter – für eine vermeintliche Normalität und angebliche Identität. Diese Kulturkämpfe sind stets Ablenkungsgefechte, warnen Politolog*innen und Soziolog*innen. Der ehemalige Bundeswirtschaftsminister der Grünen spitzt zu, dass sich nach solchen kulturpolitischen Statements Politiker*innen ereifern könnten, Zeitungen vollgeschrieben würden und in Talkshows gestritten werden könne. »Alle können etwas sagen«, hebt Habeck hervor, »die eigentlich realen Probleme« würden aber nicht diskutiert. Die »Sorgen um die Sicherung des Lebens, Status, Wohnung, Rente, Einkommen, Löhne, Mindestlöhne, hohe Inflation« werden so entsorgt. Da die Bundesregierung in sozio-ökonomischen Themen »notorisch uneins« sei, liefen diese emotionalisierten Empörungsdebatten stets weiter. In der ausgemachten Krise des Sozialstaats ist unlängst Merz zum Kulturkämpfer geworden. Er stellt sich erneut vor die Reichsten der Reichen. Im Sommerinterview versprach er, die Steuern nicht zu erhöhen. Die Wohlstandsverwahrlosten müssen sich also nicht um ihre Pfründe und Privilegien sorgen. Die Höher-, Mittel- und Geringverdienenden tragen weiterhin die steigenden Kosten – auch die massiven Rüstungskosten. Statt durch Steuererhöhungen bei den Besitzhabenden sollen bei Bürgergeldempfänger*innen die nötigen Gelder akquiriert werden. Fünf Milliarden Euro will Merz hier einsparen und spart schon seit längerem nicht mit Mahnungen. Der »Sozialstaat« sei nicht mehr finanzierbar, sagte er und beklagte, es werde zu wenig gearbeitet, zu viele seien krank oder wollten nicht arbeiten. Wer so redet, meint stets die Anderen, die »Faulen« und »Schmarotzer«. Den klassistischen Kulturkampf der Eliten hat Merz aktuell realpolitisch munitioniert. Doch wer muss nochmal kaum oder gar keine Steuern zahlen oder erhält staatliche Subventionen und Bürgschaften? Pardon, es soll keine Neiddebatte angefacht werden. Die Idee einer Besteuerung von Geld statt von Arbeit soll ebenso keine Missgunst schüren. Der Slogan »Die Reichen können wir uns nicht leisten« ist einfach unhöflich.
Zuwachs statt Halbierung
Dieser Weg von realer Sozialpolitik hin zu inszenierten Kulturkämpfen könnte mit erklären, warum die AfD trotz ihrer unsozialen Sozialpolitik erfolgreich ist. Sie hat nicht viel zu einer Politik jenseits neoliberaler Konzepte zu sagen – braucht sie aber auch nicht, da kaum jemand über solidarische Sozialpolitik redet. Die Verzerrung des Diskurses schlägt sich bereits in den Schlagzeilen nieder: »Sogar auf Sylt wird gespart«, titelte der Spiegel am 30. August. Wenn sogar »die Reichen« schon beim Essen- und Trinkengehen sparen, scheint es Deutschland wirklich schlecht zu gehen. Keine Frage nach dem neoliberalen Leitmotiv, Gewinne zu privatisieren und Verluste zu kollektivieren – sollen doch lieber die Ärmsten der Ärmsten aushelfen.
So forcieren Merz und Co die Entsolidarisierung der Gesellschaft. Ihre Hetze gegen »Work-Life-Balance« diskreditiert Sozial- und Arbeitsrechte. Durch eine Entsolidarisierung wird die AfD nicht inhaltlich gestellt. Im Gegenteil: Sozialpolitik mit kulturkämpferischer Rhetorik etabliert die Normalisierung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit weiter. Der AfD kommt Merz so entgegen. Die aktuellen Wahlumfragen deuten an, dass der Kanzler bislang ein Gescheiterter ist. Im November 2018, als er sein Versprechen gab, erreichte die AfD bei Umfragen noch um die 14 Prozent – 2025, jetzt wo Merz es einlösen könnte, ist sie schon bundesweit bei 25 Prozent.