Das Faustrecht regiert

von Peter Steiniger
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 183 - März | April 2020

#Brasilien

Die Politik der Bolsonaro-Regierung baut auf reaktionären Traditionen auf. Gleichzeitig nimmt die Gewalt gegen Frauen zu.

Die Zahlen sprechen für sich. In Brasilien werden durchschnittlich jeden Tag etwa 13 Morde an Frauen verübt. In etwa jedem dritten Fall handelt es sich um Beziehungstaten, häufig ist der Tatort das eigene Haus. 2019 wurden insgesamt 4.936 weibliche Opfer registriert. Diese Bilanz führt der vom »Brasilianischen Forum für öffentliche Sicherheit« (FBSP) und dem Wirtschaftsforschungsinstitut IPEA jährlich herausgegebene »Atlas der Gewalt«. Die meisten Frauen wurden demnach erschossen, etwa jede vierte wurde mit einer Stichwaffe getötet. Bei Afrobrasilianerinnen liegt die Tötungsrate um etwa 70 Prozent über der von weißen Frauen. Für schwarze Bürgerinnen wuchs das Risiko, getötet zu werden, von 2007 bis 2017 um rund 30 Prozent. In der Dienstbotengesellschaft, die aus dem Sklavenhalterstaat hervorgegangen ist, sind Hautfarbe und Abstammung immer noch Faktoren für die soziale Stellung. Die Hotspots des Tötens sind Orte, die von Armut, Arbeitslosigkeit und fehlenden Bildungschancen geprägt sind.

180 Vergewaltigungen täglich
Im internationalen Vergleich liegt Brasilien bei Femiziden auf dem fünften Platz. Ein zentrales Problem ist die in allen Schichten der Gesellschaft anzutreffende häusliche Gewalt. Das FBSP schätzt, dass im vergangenen Jahr etwa 16 Millionen Frauen über 16 Jahren unterschiedlichen Formen von Belästigungen und Angriffen ausgesetzt waren. Für 2018 wurden 66.000 schwere sexuelle Übergriffe durch Männer gezählt, das entspricht pro Tag mehr als 180 Vergewaltigungen. Mehr als die Hälfte der Opfer war höchstens 13 Jahre alt.
Für die Täter ist Straffreiheit die Regel. Verfahren werden von der Justiz verschleppt, nur wenige Urteile gefällt. Bestehende Gesetze haben an dieser Realität nur wenig ändern können. Bereits 2006 erließ der damalige Präsident Lula da Silva von der »Partido dos Trabalhadores« (»Arbeiterpartei«, PT) mit dem »Lei Maria da Penha« für Lateinamerika vorbildliche Bestimmungen zur Ahndung häuslicher, körperlicher und psychischer Gewalt, zur Prävention und zum Schutz der Frauen vor familiärer Bedrohung und zur Bestrafung der Täter. Vor allem auf lokaler Ebene wird dies allerdings nur unzureichend umgesetzt. Unter der ehemaligen Präsidentin Dilma Rousseff – ebenfalls PT – wurden 2015 Frauentötungen als Schwerverbrechen zu einem eigenen Tatbestand. Die Errungenschaften der frauenemanzipatorischen Bewegung in Brasilien sind nun gefährdet. Mit dem Rechtsruck ist der Anteil von Frauen in politischen Ämtern auf einen historischen Tiefstand gesunken.
Zugenommen haben hingegen die Angriffe auf sexuelle und geschlechtliche Minderheiten. 2017 lag die Zahl der offiziell erfassten Tötungsdelikte gegen Menschen aus der LGBT-Szene bei 193. Im Jahr darauf wurden 320 dieser Hassverbrechen registriert, wobei Nichtregierungsorganisationen von einer hohen Dunkelziffer ausgehen. Zu einer Symbolfigur wurde die im März 2018 in Rio de Janeiro mutmaßlich von Killern einer paramilitärischen Miliz ermordete Schwarze lesbische Stadträtin Marielle Franco von der linken Partei PSOL. Viel weist darauf hin, dass die Kreise, aus denen ihre Mörder stammen, enge Verbindungen zum Familienclan des seit 2019 regierenden Präsidenten Jair Bolsonaro haben.
Eine vielfältige Frauenbewegung bildete sich in Brasilien bereits in den 1970er Jahren im Widerstand gegen die zivil-militärische Diktatur heraus. Feministinnen sind heute eine Säule der Opposition gegen die ultrarechte Regierung. 2018 folgten Millionen den Aufrufen ihrer ­Organisationen unter der Losung »Ele não« (»Den nicht«) zu Demonstrationen gegen die Wahl Bolsonaros zum Staatschef. Frauen-NGOs wie CFEMEA (Centro Feminista de Estudos e Assessoria), »Sempre Viva« oder das »Feministische Zentrum 8. März« sind landesweit aktiv, mobilisieren gegen Gewalt, Unterdrückung und neoliberale Politik.

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Extremer Machismus
Schon 2018 war der Wahlkampf von Bolsonaros Gewaltverherrlichung geprägt. Der frühere Hauptmann verkörpert ein archaisches Männlichkeitsbild. Das Markenzeichen seiner Auftritte war die zur Pistole geformte Hand. Gefördert wurde der Kandidat – der zunächst ein krasser Außenseiter war – von hohen Militärs, Richtern, Sektenführern und Vertretern des Großkapitals. Den Weg zum Sieg bahnten ihm manipulierte Prozesse gegen den früheren Präsidenten Lula. Sie führten zu dessen Ausschluss von der Wahl und brachten den populärsten Politiker des Landes für 580 Tage ins Gefängnis.
Bolsonaro trat ohne ein echtes Programm an. Furore machte der auf Antipolitiker gestylte Faschist mit Stammtischparolen. Den Linken drohte er wechselnd Haft, Vernichtung oder Vertreibung an. Diskriminierende Äußerungen über Afrobrasilianer*innen und Indigene, besonders aber frauenfeindliche und homophobe Attacken gehören seit langem zu seinem Repertoire. Bereits 2003 beleidigte er als Abgeordneter einer rechten Splitterpartei die PT-Abgeordnete Maria do Rosário herabwürdigend: »Ich würde Sie nie vergewaltigen, weil Sie es nicht verdienen!« Den Satz wiederholte er später mehrfach. 2015 stimmte Bolsonaro gegen härtere Strafen für Frauenmörder. Seine Stimme für eine Amtsenthebung der linken Präsidentin Dilma Rousseff widmete der Abgeordnete im April 2016 »ihrem Schrecken« – dem Oberst Carlos Alberto Brilhante Ustra. Dieser leitete während der Militärdiktatur in den 1970er Jahren ein Folterzentrum in São Paulo, in dem auch Rousseff brutal misshandelt wurde. Wer Bolsonaro wählte, wusste, was er tat. Schon Rousseffs illegitimer Nachfolger, der konservative Interimsstaatschef Michel Temer, drehte die Uhr zurück. Sein Kabinett bestand ausschließlich aus Vertretern der weißen männlichen Elite.
Auch als Präsident bleibt Bolsonaro seinem Sexismus treu. Die Demagogie folgt einem Kalkül. Sie ist die brasilianische Spielart der Methoden von Donald Trump und der »Neuen Rechten« weltweit. Provokation, Diffamierung und Lüge sind ihre Standardinstrumente. Für den zeitgenössischen Relaunch des Antikommunismus ist der Feminismus als Baustein des ideologischen Konstrukts »Kulturmarxismus« das moderne Feindbild. Für ihren Kulturkrieg belebt Brasiliens Regierung das Pathos von »Gott, Familie und Vaterland«. Die Berufung auf alte Denkmuster und Werte findet bei dem Teil der Bevölkerung Resonanz, der an Chauvinismus und tradierten Rollen festhält.

https://www.der-rechte-rand.de/archive/6832/antifeminismus-polen-ungarn/


Vom Licht und in den Schatten
Brasilien hat sich sozial und kulturell gewandelt. Dank hoher Weltmarktpreise für wichtige Exportgüter erlebte es einen lang anhaltenden wirtschaftlichen Boom. Die seit 2003 von Lula und danach von seiner Nachfolgerin Rousseff geführte Zentralregierung nutzte diesen für eine Politik, die auch den Interessen der Bevölkerungsmehrheit diente. Millionen stiegen auf der sozialen Leiter auf. Der Hunger wurde besiegt – der politische Analphabetismus nicht. Der Einfluss der Eliten blieb intakt. Zugleich beförderte Lulas PT die Illusion einer Versöhnung der Klassen, die jedoch spätestens mit dem Einsetzen der Krise Mitte 2014 platzte. Das zeigte sich besonders bei den vom privaten Medienkonzern »Globo« gelenkten Massendemonstrationen gegen die Regierung ab Sommer 2013. Ein diffuser und nationalistischer Protest brach sich Bahn. Die dunkle Seite des Riesen war erwacht.
Beträchtlich gewachsen ist der Einfluss der Evangelikalen, zu denen sich heute ein Drittel aller Brasilianer*innen zählt. Damit hat sich ihr Anteil in drei Jahrzehnten verdreifacht. Freikirchen aus den USA standen bei dieser Entwicklung Pate. Allein die »Assembleia de Deus« (»Kirche der Versammlung Gottes«) zählt im 210-Millionen-Land 30 Millionen Mitglieder. Von einem Pfarrer der Sekte ließ sich 2016 auch Jair Bolsonaro taufen, in Israel. Offiziell ist der Präsident weiter Katholik – wie die Mehrheit seiner Landsleute. Doch das Bündnis mit den einflussreichen evangelikalen Führern ist für Bolsonaro enorm wichtig. Die Kirchen sind milliardenschwer. Das trifft besonders auf die »Universalkirche des Königreichs Gottes« zu. Sie verdient am Ablasshandel und besitzt große Radiosender sowie Fernsehkanäle, die für Bolsonaro werben. Ihr Gründer und selbsternannter Bischof Edir Macedo setzt auf Expansion, vor allem nach Afrika und in den Mittleren Osten. Auch in Deutschland will die Sekte Fuß fassen.
Bis hinauf in den Nationalkongress mit seiner »Bibel-Fraktion« haben Evangelikale an Einfluss gewonnen. Reaktionäre Positionen bestimmen die Wertedebatte stärker mit. Evangelikale und andere christliche Fundamentalist*innen argumentieren radikal antifeministisch, wenden sich gegen sexuelle Aufklärung und Selbstbestimmung. Für den säkularen Staat ist das nicht nur langfristig eine Gefahr. Bereits jetzt versuchen evangelikale Politiker auf allen Ebenen, dessen Normen aufzuweichen. Ein Beispiel dafür ist Bolsonaros Frauenministerin Damares Alves. Ihr Credo: »Jungs tragen blau, Mädchen rosa.« Ungewollten Schwangerschaften bei Minderjährigen will die Frömmlerin und Abtreibungsgegnerin mit einer Kampagne für sexuelle Enthaltsamkeit beikommen. Anfang Februar 2020 ernannte Bolsonaro mit Pastor Ricardo Lopes Dias einen Evangelikalen und früheren Missionar ausgerechnet zum Chef der Abteilung für nicht kontaktierte Völker bei der Indigenenbehörde »Funai«. Menschenrechtler*innen aus aller Welt waren entsetzt.

 

https://www.der-rechte-rand.de/archive/7219/afd-wendefrauen/

Vorbild für die Mittelschicht
Beträchtlich verändert hat sich in Brasiliens jüngerer Geschichte die Mediennutzung. Die wichtigsten Nachrichtenquellen heißen heute Twitter und WhatsApp. Den kostenlosen Messaging-Dienst nutzen in Brasilien fast alle. Dort hat die extreme Rechte den Kampf um die Köpfe zunächst gewonnen. Dabei waren gerade die Kampagnen im Netz gegen Rousseff auch frauenverachtend. Die von Bolsonaristas millionenfach verbreiteten Falschinformationen spielten im Wahlkampf und spielen auch weiterhin eine entscheidende Rolle. Bolsonaro legitimiert den Hass auf Frauen und gesellschaftlich wenig akzeptierte Gruppen. Seine rassistische, frauenfeindliche und homophobe Rhetorik zieht gerade bei jüngeren weißen Normal- und Besserverdiener*innen. Er ist vor allem das Idol konservativer Männern aus der Mittelschicht.

 

 

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