»Es ist höchste Zeit, dieses Phänomen ernst zu nehmen«

Interview
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 185 - Juli / August 2020

#Einzigartigkeitsbedürfnis

Gegen die Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung der Corona-Pandemie wurde seit Ende März auf der Straße und im Netz demonstriert. Unter Namen wie »Hygiene-Demos«, »Widerstand2020« versammelte sich eine politisch heterogene Masse, häufig unter Beteiligung von extrem Rechten. Was viele einte, ist der Glaube an verschiedene Verschwörungserzählungen, die im Kontext von COVID-19 und den nachfolgenden staatlichen Maßnahmen verbreitet wurden. Darüber sprach Sascha Schmidt für »der rechte rand« mit den Autorinnen des Buchs »Fake Facts«, Katharina Nocun und Pia Lamberty.

Antifa Magazin der rechte rand
Autorinnen des Buchs »Fake Facts«, Pia Lamberty (li.) und Katharina Nocun.

drr: Nahezu zeitgleich mit dem Erscheinen eures Buchs demonstrierten Zehntausende gegen die Maßnahmen der Bundesregierung und eine vermeintliche Corona-Hysterie. Wart ihr überrascht, dass so viele Menschen auf die Straße gingen?
Katharina Nocun: Wir waren vor allem überrascht darüber, wie über das Phänomen berichtet wurde. Im Zuge unserer Recherche haben wir uns auch die Impfgegner-, Alternativmedizin- und Esoterik-Szene intensiv angeschaut. Schon zu Beginn der Pandemie kursierten in diesen Kreisen zahlreiche Verschwörungserzählungen rund um das Coronavirus. Bestehende Mythen wurden um Erzählungen zu Corona erweitert. Viele dieser Gruppen haben später für die Demonstrationen mobilisiert. Trotzdem war zu Beginn in der Berichterstattung häufig die Rede von einem neuen Phänomen und neuen Gruppen, die quasi aus dem Nichts entstanden seien. Das war aus unserer Sicht eine kolossale Fehleinschätzung, weil vielerorts auf bestehende Mobilisierungsstrukturen zurückgegriffen werden konnte.

Die Versammlungen waren durch ein breites politisches Spektrum geprägt – darunter auch extrem rechte Akteur*innen, deren Präsenz anscheinend geduldet wurde. Seht ihr vor diesem Hintergrund ideologische Schnittmengen, die dies erklären würden?
Katharina Nocun: Es gab schon immer Berührungspunkte zwischen Milieus wie etwa der Esoterikszene und der extremen Rechten. So gibt es Verlage, die einerseits Bücher zum Thema übernatürliche Phänomene verlegen und andererseits kein Problem damit haben, wenn rechtsextreme Autoren antisemitische Hetzschriften bei ihnen publizieren. Häufig wird in solchen Kreisen ein sehr traditionelles Frauenbild vertreten, darüber hinaus ist die Rede von einer »natürlichen Ordnung« – so etwas ist sehr anschlussfähig an das Weltbild der extremen Rechten. Eine Abgrenzung nach rechts findet vielerorts nicht statt, da häufig die Haltung vorherrscht, man sei »weder rechts, noch links, sondern frei«. Wenn man in die Geschichte der Esoterik zurückblickt, trifft man zudem auf Autoren, die davon ausgehen, es gäbe unterschiedliche »Menschenrassen«. 

Einige prominente Verschwörungserzähler, wie Ken Jebsen oder Jürgen Elsässer, sind keineswegs neu in diesem Geschäft. Welche Rolle spielen die digitalen Plattformen solcher Personen für die Verbreitung solcher Erzählungen?
Pia Lamberty: In Debatten zum Thema stehen oft soziale Medien im Fokus. Es herrscht dann die Vorstellung vor, der Verschwörungsglaube sei erst in den letzten Jahren entstanden. Dabei sind solche Narrative ja teilweise schon Jahrhunderte lang in der Gesellschaft verbreitet. Die antisemitischen »Protokolle der Weisen von Zion« wurden beispielsweise 1903 veröffentlicht, andere Mythen wie die Ritualmordlegende oder der Mythos der Brunnenvergiftungen sind deutlich älter. Trotzdem spielen soziale Medien bei der Verbreitung von Verschwörungserzählungen natürlich auch eine Rolle. Eine Studie aus den USA zeigt beispielsweise, dass alle interviewten »Flat Earther« direkt oder indirekt über YouTube mit dieser Verschwörungserzählung in Kontakt gekommen sind. Andere Studien zeigen, dass eine einmalige Konfrontation mit Verschwörungserzählungen schon einen Effekt haben kann und Menschen dadurch beispielsweise weniger bereit sind, sich impfen zu lassen. Konzerne wie Facebook oder Google haben lange wenig getan, um solchen Tendenzen etwas entgegenzusetzen und teilweise ja die Verbreitung solcher Inhalte durch die Empfehlungs- und Vorschlags-Algorithmen sogar befeuert. In der Krise haben dann viele Anbieter mehr unternommen, was auch die Abwanderung hin zu Telegram erklären kann. Der Messenger-Dienst Telegram stand ja schon länger in der Kritik, da bereits der IS oder Rechtsextreme aus den USA die Plattform für ihre politische Mobilisierung genutzt haben. Durch das Internet können sich einfacher Netzwerke bilden – auch international –, die vorher so nicht möglich gewesen wären. Die aus den USA stammende und auf dem Imageboard »4chan« entstandene Gruppierung »QAnon« beispielsweise erlangt auch in Deutschland immer mehr an Popularität. Zu Beginn der Pandemie waren Aktivitäten der Gruppierung noch vornehmlich online anzutreffen, aber in den letzten Wochen wurde »QAnon« auch auf den Demonstrationen oder durch Graffiti immer sichtbarer im öffentlichen Raum. Diese Verschränkung von einer Online-Mobilisierung, die sich dann auf den Straßen wiederfindet, kennen wir ja von den rassistischen »Nein zum Heim«-Protesten aus den Jahren 2015/2016.

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Auffällig war zuletzt, dass vor allem männliche Promis in Erscheinung traten; mal mit steilen Thesen im Internet, mal als selbst inszenierte Widerstandskämpfer auf der Straße. Habt ihr hierfür eine Erklärung?
Pia Lamberty: Das spiegelt auch die empirische Lage wider. Studien wie die sogenannte Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigen, dass der Verschwörungsglaube bei Männern stärker verbreitet ist als bei Frauen. Woher diese Unterschiede genau kommen, muss aber noch stärker erforscht werden. Wir wissen aus der psychologischen Forschung, dass ein ausgeprägtes Einzigartigkeitsbedürfnis beispielsweise den Glauben an Verschwörungen beeinflussen kann. Man kann sich über die Verbreitung von solchen Mythen selbst aufwerten und vermeintlich über andere stellen, die dann als »Schlafschafe« oder gleich als Teil der Verschwörung diffamiert werden. Dieses Einzigartigkeitsbedürfnis ist bei Männern stärker vorhanden als bei Frauen. Der Kampf gegen den vermeintlichen Verschwörer kann dann als Heldentat inszeniert werden, während sich Maßnahmen gegen die Pandemie weniger gut dazu eignen. Es geht hier also viel um Selbstinszenierung und klassische Männlichkeitsbilder.

Erschreckend häufig tauchten Demonstrierende mit dem »Judenstern« mit der Aufschrift »Ungeimpft« auf. Ist das ein neues Phänomen und wie erklärt ihr euch diese haarsträubende und widerliche Gleichsetzung?
Pia Lamberty: Nein, das ist leider kein neues Phänomen. In der »Impfkritik«-Szene kann man schon länger beobachten, dass der sogenannte »Judenstern« verwendet wird, um die angebliche Opferrolle darzustellen. Diese Szene ist auch vor der Pandemie dadurch aufgefallen, dass sie eine sehr heterogene Gruppe vereint. Da gibt es dann sowohl Menschen aus einem eher links-alternativen oder esoterischen Spektrum und eindeutig Rechtsextreme, die auf diesen Veranstaltungen zusammenkommen. Anti-Impf-Haltungen haben in Deutschland auch eine lange antisemitische Tradition. Bereits im ausklingenden 19. Jahrhundert wurden antisemitische Mythen über das Thema Impfungen verbreitet. 

Ihr ratet in eurem Buch davon ab, über die psychologische Verfasstheit der dort Anwesenden zu spekulieren oder diese als »Spinner« abzutun. Ich frage mich, ob sozialpsychologische Ansätze, die beispielsweise zur Analyse des Antisemitismus existieren, weiterführend wären, um die weit verbreitete Anfälligkeit für Verschwörungsdenken zu erklären.
Pia Lamberty: Allgemein gibt es in der Gesellschaft die Tendenz, unliebsame Phänomene als psychisch krank darzustellen und damit zu entpolitisieren. Das passiert auch im Kontext von Verschwörungsdenken. Lange wurde das Thema als nicht relevant dargestellt, weil es ja nur »ein paar Spinner« betreffen würde. Das ändert sich gerade langsam. Zur Analyse ist es natürlich wichtig, sich klar zu machen, dass Verschwörungsdenken und Antisemitismus empirisch und analytisch starke Verschränkungen haben. Vielfach endet Verschwörungsdenken in antisemitischen Welterklärungsmodellen. In einer Studienreihe haben Roland Imhoff und ich uns mit der Frage auseinandergesetzt, in welchem Verhältnis Paranoia und Verschwörungsdenken zueinander stehen. Es zeigte sich, dass – obwohl es auch Überlappungen gibt – diese beiden Konstrukte doch unterschieden werden müssen. Interessanterweise war die paranoide Weltsicht, also das Wahnhafte, relevanter für den Antisemitismus als das Verschwörungsdenken, was uns ehrlich gesagt überrascht hat. Hier braucht es auf jeden Fall noch weiterführende Studien, um auch diese Frage abschließend beantworten zu können.

Mit Blick auf die Verbreitung von Verschwörungserzählungen und die Gefahren, die – auch im Kontext von COVID-19 – damit einhergehen: Was braucht es, gesellschaftlich betrachtet, im Umgang mit Verschwörungserzählungen?
Katharina Nocun: Das Thema Glaube an Verschwörungen wird oft als lustig und harmlos, ja sogar unterhaltsam abgetan. Gerade in den letzten Wochen und Monaten wurden immer wieder Screen­shots aus Telegram-Gruppen bekannter Verschwörungsideologen in ­Social Media verbreitet, um sich darüber zu belustigen. Dabei wird vergessen, was für gravierende Folgen der Glaube an Verschwörungen sowohl auf der privaten als auch der gesellschaftlichen Ebene nach sich ziehen kann. Wir haben mit Angehörigen gesprochen, die verzweifelt sind angesichts einer Situation, in der Verwandte sich weigern bei schweren Erkrankungen zum Arzt zu gehen, weil sie an eine große Verschwörung in Medizin und Wissenschaft glauben. Viele der rechtsextremen Attentäter der letzten Jahre haben versucht, ihre Morde mit Verschwörungserzählungen zu rechtfertigen. Gerade für die rechtsextreme Szene sind Verschwörungsmythen von »jüdischer Weltverschwörung« über »Systemmedien-Komplott« bis hin zum »großen Austausch« ein zentraler Bestandteil ihrer Radikalisierungsstrategie. Der Glaube an einen übermächtigen äußeren Feind ist der Klebstoff, der Gruppen zusammenhält. Es ist höchste Zeit, dieses Phänomen ernst zu nehmen.

Vielen Dank für das Interview!