Reservoire rechter Politik

von Charles Paresse
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 195 - März / April 2022

#Vertriebene

Die deutschen »Vertriebenen« haben Einfluss und Massenanhang verloren. Dennoch spielen sie für rechte Politik weiterhin eine Rolle.

 

Wilhelm von Gottberg beim Deutschlandtreffen der »Landsmannschaft Ostpreußen« im Jahr 2000.
© Mark Mühlhaus / attenzione

 

Die Zeiten, als noch Zehntausende zu den Treffen der deutschen »Vertriebenen« pilgerten und die polternden Reden von Kanzlern oder Oppositionsführern der CDU/CSU von den großen Bühnen abends in der Tagesschau über die Bildschirme flimmerten, sind lange vorbei. Der »Bund der Vertriebenen« (BdV) und seine Mitgliedsverbände haben massiv an Einfluss eingebüßt. Die Mitglieder sind verstorben und die Nachfahren haben kaum noch Interesse an dem Thema, der Traditionspflege und den Forderungen der Verbände. Dennoch verfügt der »Bund der Vertriebenen« angeblich noch immer über 1,3 Millionen Mitglieder, doch das glaubt schon lange niemand mehr. Doppelmitgliedschaften und die ungefragte Eingemeindung von Nachfahren oder früheren Mitgliedern dürften Gründe für die hohe Zahl sein.

In zahlreichen Landsmannschaften, Heimatkreisen und Vereinen schlossen sich nach 1945 Menschen zusammen, die im Zuge des Zweiten Weltkrieges vor allem aus den deutschen Ostgebieten geflohen, von den Alliierten umgesiedelt oder teilweise vertrieben worden waren. Der 1957 gegründete BdV maßte sich an, für diese Gruppe in der Bundesrepublik – etwa 15 Millionen Menschen – zu sprechen. Auch die Politik wies dem Dachverband und seinen Bünden diese Rolle zu und förderte deren Aktivitäten Jahr für Jahr mit Millionenbeträgen. Bundesländer übernahmen Patenschaften für einzelne »Volksgruppen«, der Freistaat Bayern ernannte die dort neu angesiedelten »Sudeten« gar zu seinem fünften »Stamm«. Neben der gesellschaftlichen Integration und Vertretung der sozialen Interessen der Umgesiedelten prägten vor allem verklärende Kulturpflege die Arbeit der Verbände sowie politische Forderungen nach Entschädigungen bis hin zu drastischen Gebietsansprüchen gegenüber den Staaten in Ost- und Südosteuropa. Die Organisationen der »Vertriebenen« wurden in der Bundesrepublik Stoßtrupp revanchistischer und konservativer Forderungen, Vorfeld für konservative Politik und Rekrutierungsfeld für rechtsradikale und neonazistische Gruppen. Eine Abgrenzung nach rechts war selten. Die Verbände gehörten für die CDU/CSU zum festen Reservoir an Wähler*innen, das mit Millionensummen für Verbände, Museen oder »Traditionsstuben«, mit Auftritten hochrangiger Politiker*innen, Denkmälern und politischem Entgegenkommen belohnt wurde. Aber auch die SPD pflegte lange ein teils unkritisches – oder zumindest funktionalistisches – Verhältnis zu den Verbänden, im Wissen um den Einfluss auf Wähler*innen und öffentliche Meinung in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik. Mit der Vereinigung Deutschlands 1989 und dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten in Osteuropa verloren die Verbände ihre außenpolitischen und antikommunistischen Funktionen. Zudem war nun der Zugang in die »alte Heimat« wieder offen. Die rechtsradikalen Hardliner*innen in den Verbänden verloren an Einfluss, wenn auch im Umfeld einzelner Verbände bis heute immer wieder revanchistische Forderungen zu hören sind und die ehemalige CDU-Rechtsaußen und heutige AfD-Politikerin Erika Steinbach ihren Posten als BdV-Präsidentin erst 2014 verlor.

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Heute vereint der BdV noch immer 20 Landsmannschaften, darunter die wahrscheinlich bekanntesten und auch lange Jahrzehnte am deutlichsten rechts positionierten »Sudetendeutsche Landsmannschaft«, »Landsmannschaft Ostpreußen« oder die »Baltische Gesellschaft«, aber auch unscheinbarere Verbände wie die »Landsmannschaft der Banater Schwaben«. Trotz des Mitgliederschwundes und des inzwischen erlahmten öffentlichen Interesses an der Traditionspflege – mit ihren Verbänden und Forderungen sind sie weiterhin fester Teil von Gesellschaft und Kultur in den Städten und Gemeinden. Es fließen weiterhin hohe Summen in das Milieu der »Vertriebenen«, heute vor allem in Kultureinrichtungen und Museen, und es sitzen wichtige Politiker*innen in den Vorständen der Verbände – der Draht bis direkt in die Bundesregierung ist kurz. So sind beispielsweise im Präsidium des BdV heute aktive oder ehemalige Europa-, Bundestags- und Landtagsabgeordnete von CDU, CSU, SPD und Grünen. Präsident des Verbandes ist Bernd Fabritius, seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten – und auch unter der neuen Regierung aus SPD, Grünen und FDP weiterhin im Amt.

1950 beschlossen die »Vertriebenen« die »Charta der deutschen Heimatvertriebenen«. »Friedensstiftend« sei das Papier, wird gerne betont. Doch die Geschichtsverfälschung steht bereits im ersten Punkt des Papiers. Dort heißt es gegenüber den Staaten Ost- und Südosteuropas: »Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung.« Aber war es nicht Deutschland, das die Welt mit einem Angriffskrieg überzog und die späteren Umsiedlungen und Vertreibungen auslöste? Der angebliche Verzicht auf »Rache und Vergeltung« pflegt die Erzählung von den »Vertreiberstaaten« und den unschuldigen deutschen Opfern und legt so weiterhin die Grundlage für Schuldumkehr und revanchistische Forderungen. Vom Beauftragten der Bundesregierung ist nicht bekannt, dass er sich vom »Grundgesetz« der »Vertriebenen« distanziert hätte.