Putins ideologisches Inventar

von Volkmar Wölk
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 196 - Mai | Juni 2022

#Russland

»Der Russe ist voll Zuversicht, dass, wenn er in seinem nationalen Kampf unterliegt, diese Niederlage nur das ›erste‹ Kapitel seines Ringens ausmacht; das ›zweite‹ Kapitel wird Läuterung und Kraftsammeln heißen; das dritte – Sieg, Befreiung, Auferstehung. Es möge nur kommen, was da eben kommen mag. Nie verzweifeln, nie den Mut verlieren; vielmehr sich sammeln, zu Gott beten und unerschöpfliche Geduld entfalten.«

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© Mark Mühlhaus / attenzione

Nichts ist je wirklich und endgültig verloren. Die Niederlage ist nur der Beginn des Weges zum Sieg. Die »russische Zähigkeit« führte schon in der Vergangenheit zum Ergebnis: »das Unmögliche wurde Ereignis«. Die Geschichte der russischen Kriege, »unter der Führung des genialen Feldherrn Suworow« – nach dem heute in Österreich ein Institut benannt ist, das unter der Führung des neurechten Ideologen Alexander Markovics steht – biete dafür Beispiele. Die Geschichte Russlands sei »ein ununterbrochener Opferdienst«. Diese »russische Zähigkeit« präge den Volkscharakter, entstamme der Verbundenheit der Russinnen und Russen mit ihrem Land. Sie komme erstens vom Klima, zweitens von der natürlichen Umgebung, »nur zähe Pflanzen gedeihen in Russland«, und drittens vom Boden und der Bodenkultur. Übersetzt: Der »Russe« wird nur in Russland wirklich zum Russen; Mensch und Land und Geschichte bilden eine Symbiose.

Ivan Iljin
Wir finden in den zitierten Zeilen alles, was der britische Wissenschaftler Roger Griffin in seiner Faschismustheorie als »palingenetischen Nationalismus« kennzeichnet: Eine Ideologie der Wiedergeburt der Nation aus der Dekadenz mittels der Verwurzelung in der Tradition und im Glauben – im Falle des zitierten Autors, des russisch-orthodoxen Glaubens. Die Zeilen stammen aus dem Band »Wesen und Eigenart der russischen Kultur«, verfasst 1942 von Ivan Iljin in seinem Exil in der Schweiz, wo er 1954 verstarb.

Die Neue Zürcher Zeitung sieht in ihm den Philosophen, »der die Politik des Kremls mitbestimmt«, weist ihm also realen Einfluss auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu. Eine Einschätzung, die durch Michel Eltchaninoff, der die Philosophie Putins untersucht hat, geteilt wird. Er beschreibt, dass 2014 hohe Funktionäre des Kreml, Gouverneure der Regionen und Kader der Partei »Einiges Russland« als Neujahrsgeschenk von Putin philosophische Werke erhalten hätten, darunter auch den Band »Unsere Aufgaben« von Iwan Iljin, eine Sammlung von späten Artikeln aus der Nachkriegszeit bis zu seinem Tod 1954. Iljin gräbt in der russischen Geschichte, um die Unvermeidbarkeit der Wiedergeburt Russlands nachzuweisen. Und für Putin, so Eltchaninoff, »sind Ideen unverzichtbar, die tief in der Geschichte des Landes verankert sind. Die Frage, ob er an sie glaubt oder nicht, ist dabei nebensächlich.«

Um ein brauchbares ideologisches Inventar zusammenzustellen, sind für ihn zeitgenössische Denker der extremen Rechten wie der immer wieder genannte Alexander Dugin weitgehend verzichtbar. Putin muss vielmehr »back to the roots«, zurück zu Autoren der vorrevolutionären Zeit vor der Machtergreifung der Bolschewiki oder zu solchen, die von diesen ins Exil getrieben wurden. Nur dort wird er auch die Betonung der Notwendigkeit der Verknüpfung von geistlicher und weltlicher Macht finden, die im zeitgenössischen Russland wieder von zentraler Bedeutung ist.

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Iwan Iljin ist dafür ideal geeignet. Der russisch-orthodoxe Glaube ist die Grundlage seines gesamten Gedankensystems. Nicht ohne Grund ist die deutsche Neuauflage des zitierten Werkes »veröffentlicht mit dem Segen S. E. Mark (russisch-orthodoxer) Erzbischof von Berlin und Deutschland«, erschienen in der Reihe »Philosophia Eurasia« der »Edition Hagia Sophia«. Die religiösen Verweise sind nicht zu übersehen. Herausgeber ist der Gesichtschirurg Adorján Kovács, der seit Jahren im Spektrum der deutschen »neuen Rechten«, auch als Buchautor und mit Artikeln, zum Beispiel in »Tumult«, aktiv ist.

Die religiöse Fundierung des Werkes von Iwan Iljin ist für Putin umso wichtiger, als Iljins Einstufung als Faschist weitgehend unumstritten ist. Als Monarchist und Gegner der Bolschewiki wurde er 1922 ausgewiesen, lebte zunächst in Deutschland, sah im Faschismus die notwendige Antwort auf die »bolschewistische Barbarei«, feierte Hitler als »Verteidiger Europas«. Er gilt als einer der wichtigsten Ideologen der russischen konterrevolutionären Emigration. Spätestens solche geistigen Bezüge Putins müssten hinreichend veranschaulichen, dass es diesem keineswegs um die Wiederherstellung der zerfallenen Sowjetunion geht, sondern um die Wiederauferstehung des alten russischen Zarenreiches.

Mit allen Konsequenzen. Auch den militärischen Konsequenzen. Alles, was diesem Ziel dient, ist gerechtfertigt. Der Ansatz ist ein imperialistischer. Russland ist erst dann vollständig, wenn die alten Grenzen wiederhergestellt sind. Das unterstreicht zugleich, dass die Ukraine nur eine Etappe auf diesem Weg sein kann. Es ist keine Frage, ob die weiteren Schritte erfolgen, sondern lediglich wann. Autoren wie Iljin bieten die notwendige ideologische Rechtfertigung dafür – der Sieg der anfangs bis vor die Tore von Moskau zurückgedrängten Roten Armee über die Nazi-Wehrmacht als aktuelle Referenz.