»Cancel Culture« im Kulturbetrieb?

von Stephan Anpalagan
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 188 - Januar / Februar 2021

#Satire

Es gibt im deutschen Medien- und Kulturbetrieb wohl kein Gerichtsurteil, das derart skurril und gleichzeitig lebensnah erscheint wie das sogenannte »Penis-Urteil« in der Auseinandersetzung zwischen Kai Diekmann, damals noch Chefredakteur der Bild und der Tageszeitung (taz).

Antifa Magazin der rechte rand
»Alter Narr« – Ölbild von Thomas Bühler CC BY-SA 3.0

Ja, richtig gelesen: »Penis-Urteil«. Alles begann damit, dass die Tageszeitung in ihrer Satire-Rubrik »Die Wahrheit« einen Text über Diekmanns missglückte Penis-Verlängerung veröffentlichte. Die Operation selbst und die »Spezialklinik in Miami« waren genauso frei erfunden wie die Titelzeile: »Sex-Schock! Penis kaputt«. Der gesamte Beitrag war ungefähr so subtil wie eine rostige Wasserrohrzange. Kai Diekmann war wenig begeistert und ging vor Gericht. Der salomonische Richter untersagte der Tageszeitung die weitere Veröffentlichung des Textes, wies aber auch das geforderte Schmerzensgeld in Höhe von 30.000 Euro gegenüber Diekmann ab. Ein Urteil, mit dem beide Parteien gut leben konnten.
Bis die Urteilsbegründung zugestellt wurde. Darin heißt es unter anderem, dass »gegen das Bedürfnis für eine Geldentschädigung (spricht), dass der Kläger Chefredakteur der Bild-Zeitung ist«. In dieser werden laut Kammer »häufig persönlichkeitsrechtsverletzende Beiträge veröffentlicht«, für die der Kläger in »äußerungsrechtlicher Hinsicht verantwortlich« ist. Sinngemäß heißt es weiter in der Urteilsbegründung: Wer seinen wirtschaftlichen Vorteil daraus zieht, dass er andere Menschen fertig macht, deren Persönlichkeitsrecht verletzt und oftmals in deren Intimsphäre eindringt, muss damit zurechtkommen, wenn man diese Machenschaften satirisch auf’s Korn nimmt. Man könnte es auch so formulieren wie es die Großmutter immer getan hat: »Wer austeilt, muss auch einstecken können.« Dass das nicht unbedingt jedem gelingt, sieht man, höchst offiziell und mit richterlichem Segen, am obigen Beispiel. Diekmann verzichtete auf weitere Rechtsmittel und die Satiriker der Deutschen Presseagentur titelten »Keine Verlängerung des ›Penis-Prozesses‹«.


Von den vielen Pausenhofweisheiten, die einem im Leben so unterkommen, ist das vielleicht die wichtigste. Wer hart gegen andere Menschen urteilt, sollte auch mit Kritik an der eigenen Person umgehen können. Alles andere wäre unsouverän und gelinde gesagt auch ziemlich peinlich.
Nun, sagen wir mal so: Diekmann ist alles andere als ein Einzelfall. Eine gewisse Alice Weidel beispielsweise rief während eines Bundesparteitages der »Alternative für Deutschland« (AfD) unter lautem Applaus folgendes: »Wir werden uns als Demokraten und als Patrioten nicht den Mund verbieten lassen. Denn die politische Korrektheit gehört auf den Müllhaufen der Geschichte!« Als es wenige Tage später in der Satiresendung extra3 hieß »Jawoll, Schluss mit der politischen Korrektheit! Lasst uns alle unkorrekt sein, da hat die Nazi-Schlampe doch recht!« war Alice Weidel von dieser derartig politischen Unkorrektheit allerdings wenig begeistert. Ähnlich wie Kai Diekmann vor 15 Jahren ging auch sie gegen die Satire vor und reichte beim Landgericht Hamburg einen Antrag auf Unterlassung ein. Der Antrag wurde abgewiesen, die Begründung des Gerichts ist durchaus lesenswert. Darin heißt es, dass der Bezug zu »Nazi« darin seinen Grund finde, dass »Alice Weidel als Spitzenkandidatin einer Partei auftritt, die in weiten Teilen der Öffentlichkeit eher als Partei des rechten, teilweise auch sehr rechten Spektrums wahrgenommen wird«. Für den Begriff »Schlampe« war offensichtlich »allein die Forderung, die politische Korrektheit auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen, Anlass für ihre Verbreitung«.
Dass gerade diejenigen besonders dünnhäutig auf Gegenwind und politisch unkorrekte Grenzüberschreitung reagieren, die mit ihrer Politik und ihrer Berichterstattung tagtäglich Menschen ausgrenzen und die Diskriminierung von Minderheiten zum erträglichen Geschäftsmodell erheben, ist der größte Witz in Tüten. Wenn Chefredakteure der Bild und Fraktionsvorsitzende der AfD ausnahmsweise selbst einmal (satirisch!) betroffen sind von hässlichen Worten und wenig schmeichelhafter Berichterstattung, hört man schnelle Bekundungen über den Schutz der Persönlichkeit, den Schutz der Privatsphäre und die im Grundgesetz verankerte Menschenwürde.

Schutzrechte, die den Opfern der Bild und der AfD selten bis niemals zugestanden werden.
Diese beiden Geschichten sprechen nicht nur Bände über die Austeil- und Einsteckfähigkeiten der radikalen Rechten in Deutschland, sie zeigen auch, dass der deutschen Gesellschaft – und ihrer Richterschaft! – noch eine andere Pausenhofweisheit wichtig ist: »Wenn jemand am Boden liegt, tritt man nicht nach.« Das wiederum führt geradewegs zur Frage, was Satire eigentlich ist und was Satire uneigentlich darf.


Wer diese Frage einigermaßen umfänglich beantworten möchte, muss sich der geschichtlichen Urform der Satire nähern: Der Narretei. Bei Hof erfüllte der Narr zweierlei Funktionen. Einerseits diente er Königen und Fürsten durch seine Künste, seine Tollpatschigkeit und seine Belustigungen der kurzweiligen Unterhaltung. Andererseits oblag es ihm, der höfischen Macht ein Gegengewicht entgegenzusetzen und die politischen Entwicklungen kritisch zu kommentieren. Vom Spott des Narren waren auch die Mächtigen nicht ausgenommen, was als »Narrenfreiheit« noch heute die Satire definiert, wenn es heißt »Satire darf alles!«.
Aus dieser Ausprägung der Narrenfreiheit und der Kritik gegen die Herrschenden entwickelten sich institutionalisierte Formen von Humor und Satire wie Fastnacht und Karneval, wo in Volksfesten gegen »die da oben« gelacht wird. Wo jeder sein »Fett weg bekommt« und wo »kein Blatt vor den Mund« genommen wird.


Die Narretei entwickelte allerdings auch eine andere, dunkle Seite. Eine, die nicht die gesellschaftlichen Umstände und die Obrigkeiten, sondern die Marginalisierten und Ausgegrenzten verlachte. So wurden über Jahrhunderte hinweg Kleinwüchsige, »Elefantenmenschen« und Schwarze im Zirkus und auf Jahrmärkten vorgeführt. Sie wurden angekettet und in Käfige gesperrt. Sie wurden entrechtet und entmenschlicht. Sie wurden zur Schau gestellt und als Abnormitäten des menschlichen Lebens dem Hohn und Spott geopfert. Ihren Höhepunkt fand diese abscheuliche Menschenverachtung in der Darstellung der Juden, die als geldgierige Unmenschen mit langen Nasen und spitzen Händen portraitiert wurden, um die gleichzeitig stattfindende Ausgrenzung und Vernichtung allen jüdischen Lebens zu begleiten. Das alles sollte man wissen, wenn man über Satire spricht.
Die humorvolle Kritik des Alltäglichen und die satirische Beobachtung des Menschlichen ist heute genauso anerkannter Teil der Satire wie die Kritik an den herrschenden Verhältnissen. Der Tritt nach unten hingegen, die Diskriminierung und Ausgrenzung von Armen, Schwachen und all jenen, die ohnehin der alltäglichen Diskriminierung und Ausgrenzung ausgesetzt sind, wird heute glücklicherweise kritisch begleitet und nicht mehr als Teil irgendeiner Kunstform hingenommen. Die Ausstellungen der Schwarzen in Käfigen und die Darstellungen der Juden im »Stürmer« gehören glücklicherweise der Vergangenheit an.

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Das scheint nur leider nicht bei allen angekommen zu sein. Wie schwer es für Nachkriegsdeutsche sein muss, in Liedtexten auf antisemitische Erzählungen zu verzichten, sieht man am Beispiel der deutschen Kabarettistin Lisa Fitz. Sie veröffentlichte 2018 ein Lied, in dem sie die »Rothschilds, Rockefeller, Soros & Consorten, die auf dem Scheißeberg des Teufels Dollars horten« für eine fieser werdende Welt verantwortlich macht. Man muss nun wahrhaftig kein Experte für antisemitische Verschwörungstheorien sein, um den antisemitischen Grundgehalt dieses Liedes festzustellen. Die Veröffentlichung im YouTube-Kanal eines Verschwörungstheoretikers passt zudem zum Grußwort, das Fitz 2017 anlässlich der Verleihung des Kölner Karls-Preises an den antisemitischen Verschwörungsideologen Ken Jebsen verfasste. Ach ja: Lisa Fitz bekam 2019 den Bayerischen Verdienstorden für ihre Arbeit und durfte im Dezember 2020 im SWR einen Kabarettbeitrag zum Thema »Verschwörungstheorien« zum Besten geben. Kein Witz.
Ihre Kollegin Lisa Eckhart ist ebenfalls weder Antisemitin noch Rassistin, zumindest nach eigenem Bekunden. »Nimmt man von allen Ching-Chongs die Ding-Dongs und legt sie nebeneinander auf, hat man etwa die Länge einer kongolesischen Vorhaut.«, ist beispielsweise so ein angeblich völlig un-rasstischer Gag in ihrem Programm. In einem weiteren angeblich nicht-antisemitischen Stück aus ihrem Programm fallen Sätze wie: »(den Juden) geht’s wirklich nicht ums Geld, denen geht’s um die Weiber, und deshalb brauchen sie das Geld. Es ist ja wohl nur gut und recht, wenn wir den Juden jetzt gestatten, ein paar Frauen auszugreifen. (…) Den Juden Reparationen zu zahlen, das ist, wie dem Mateschitz ein Red Bull auszugeben. (…) Die heilige Kuh hat BSE.«
Der WDR sieht darin weder Rassismus noch Antisemitismus am Werk. Im Gegensatz zum Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, dem Präsidenten der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, dem Direktor des American Jewish Committee in Berlin, dem Bundesverband Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS), dem Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA), der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) und vielen weiteren jüdischen Verbänden und Einzelpersonen. Was natürlich alles nichts zu bedeuten hat, schließlich kann es sein, dass sich die Programmdirektoren des WDR einfach besser mit Judenfeindlichkeit auskennen als die Jüdinnen und Juden selbst.


Ein Beispiel für die enorm schwierige Abgrenzung zu Rechtsradikalen und Neonazis ist der Schauspieler und Kabarettist Uwe Steimle. Nach eigenem Bekunden ist Steimle mit der rassistischen PEGIDA-Bewegung zärtlich verbunden. Zur besten Sendezeit fragt er im öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch schon mal, »wieso die Amerikaner und Israelis Kriege anzetteln und wir Deutsche den Scheiß bezahlen dürfen«. Seine Theorie, dass die Deutschen in einem »besetzten Land« lebten und von Menschen wie Marietta Slomka und Claus Cleber ferngesteuert und in Unfreiheit gehalten würden, verbreitet er zudem gerne in Presseorganen wie dem Propagandasender des russischen Staates »Russia Today« oder bei »COMPACT«, »Junge Freiheit« und »Tichys Einblick«. All dieser Dinge zum Trotz hielt der MDR an seinem Star-Komiker fest, nahm ihn in Schutz und wiegelte ab. Selbst als er sich mit einem schwarz-rot-weißen »Kraft durch Freunde«-T-Shirt ablichten ließ, wies der Sender darauf hin, dass Steimle Kabarettist und Satiriker sei. Man achte darauf, »dass seine Satire auch als solche erkennbar ist«.
Steimle musste erst den öffentlich-rechtlichen Rundfunk selbst angreifen und dessen Unabhängigkeit infrage stellen, bis der MDR schlussendlich eingriff und ihn vor die Tür setzte. Nicht der Flirt mit Rechtsradikalen und wiederholte antisemitische Reminiszenz führten zum Rausschmiss, sondern erst die Kritik am eigenen Arbeitgeber.
Interessanterweise war es auch im Falle Steimles wieder ein Richter, der all dies bereits früh richtig einzuordnen wusste. Als der freie Journalist Andreas Vorrath Steimle einen »völkisch-antisemitischen Jammer-Ossi« nannte, zog dieser vor Gericht und wollte dies verbieten lassen. Der Richter hingegen meinte, Steimle habe »wiederholt Vorlagen geliefert, die eine solche Meinung zuließen« und wies die Klage ab.


Lisa Fitz, Lisa Eckhart und Uwe Steimle gelten in ihrer Funktion als vollkommen un-antisemitische und un-rassistische Komiker*innen gleichzeitig als Kronzeugen für eine »Cancel Culture«, die angeblich in Deutschland ihr Unwesen treibe. Sie tilge alle diejenigen aus dem öffentlichen Sichtfeld und dem nationalen Gedächtnis, die nicht gewillt seien, dem »linken Mainstream« und dem »linken Zeitgeist« zu huldigen.


Was genau diese »Cancel Culture« allerdings sein soll und wer ihr bisher zum Opfer gefallen wäre, ist unbekannt oder streng geheim. Die Redaktion der Welt am Sonntag versuchte sich unlängst an einer Auflistung all derjenigen, die dem »Cancel Culture«-Blutbad erlegen sind und veröffentlichte unfreiwilligerweise nur das Gegenteil dessen, was sie eigentlich beweisen wollte. Keine »Cancel Culture«. Nirgendwo.


Lisa Fitz wurde nach (!) ihrer antisemitischen Grenzüberschreitung mit Preisen geehrt und trat ohne jede Einschränkung im öffentlichen Fernsehen weiter auf. Lisa Eckhart kann diejenigen Sendeformate, in denen sie ihr neues Buch noch nicht vorgestellt hat, nur noch an einer halben Hand aufzählen. Und Uwe Steimle wirkte nach seinen zahlreichen Skandalen geradezu überrascht, als der MDR verlauten ließ, er sehe keinen Grund sich von seinem Komiker trennen. Was sich wie gesagt erst später und aus deutlich anderen Gründen ändern sollte – fünf Jahre (!) nachdem ein Zeitungsportrait über Uwe Steimle erschien, das den Titel »Fernsehkabarett – Da wo der Antisemitismus blüht« trägt.


Antisemitismus und Rassismus als Satire-Programm, der beherzte Tritt nach unten gegen diejenigen, die ohnehin Diskriminierung und Rassismus erfahren, während man gleichzeitig jede Kritik am eigenen Tabubruch zur »Cancel Culture« hochstilisiert und nicht damit umzugehen weiß, wenn man an Menschenwürde und Anstand erinnert wird – all dies ist bemerkens- und beklagenswert. Dass wir als Gesellschaft diesen gefährlichen Unfug nicht hinzunehmen bereit sind, ist dagegen ein gutes Zeichen.
Wie weit aber das Gerede von der »Cancel Culture« bereits gediehen ist, sieht man am Beispiel Dieter Nuhrs besonders deutlich. Nuhr, der wie kein anderer in seinen Sendungen den Tabubruch und die Kontroverse zelebriert, meinte in mehreren Sendungen zur Kritik an seiner Person: »Der Shitstorm ist ja quasi (…) die humane Variante des Pogroms.« Auf die ungläubige Nachfrage des Interviewpartners führt Nuhr weiter fort: »(…) ich habe ja extra gesagt, die humane Variante –, weil es geht nur um die soziale Vernichtung. (…) die humane Variante funktioniert so, wie auch ein Pogrom funktioniert. Nur dass das Pogrom in der richtigen Welt funktioniert hat und zur physischen Vernichtung geführt hat, und das will ich keinesfalls vergleichen.« Ein Pogrom. Die humane Variante eines Pogroms.


Ausgerechnet diejenigen, deren Eltern- und Großelterngeneration für Reichspogromnacht und Holocaust verantwortlich sind, die in ihren Satiresendungen ohne jegliches Schamgefühl denselben groß­elterlichen Antisemitismus befördern und die von öffentlichen Geldern alimentiert ihre Menschenfeindlichkeit in die Welt hinausschreien, haben nun allen Ernstes das Gefühl selbst ausgegrenzt, verfolgt und vernichtet zu werden. Humane Variante eines Pogroms. Kein Witz.Wer noch immer nicht weiß, was Satire darf, dem sei gesagt: das nicht. Vielleicht würde es der gesamten Debatte um Kunst, Kultur, Satirefreiheit und »Cancel Culture« auch einfach guttun, wenn man die bereits erwähnten Lebensweisheiten der Großmutter berücksichtigte:
1. Wer austeilt, muss auch einstecken können.
2. Wenn einer am Boden liegt, tritt man nicht nach.
Damit ließen sich dann auch Penis-Urteile und humane Pogrome verhindern.