Gesetz des Schweigens

von James Tubman
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 187 - Dezember 2020

#Skandale

»Die Beamten können nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen.« Hermann Höcherl, CSU, 1963 Bundesminister des Innern, oberster Dienstherr des Bundesamtes für Verfassungsschutz.

Antifa Magazin der rechte rand

Der Verfassungsschutz (VS) sieht sich als neutrale Schiedsinstanz und analysiert andere mit der Hufeisenmatrix. Durch die Extremismustheorie. Da gibt es die Mitte und ihre beiden linken und rechten Ränder. Je nach Entfernung von der Mitte unterscheidet der VS grob in zentral/demokratisch/gewaltfrei, radikal/undemokratisch/gewaltfrei und extrem/undemokratisch/gewalttätig und am äußeren Ende nähern sich die Extreme an. Die Dreifaltigkeit spiegelt sich auch in der Aufstellung der Abteilungen der Ämter nach den politischen Feindesgruppen der Mitte – Linksextremismus, Rechtsextremismus, Islamismus. Die Konstrukteur*innen des theoretischen Überbaus des Amtes versuchen permanent, die demokratische Mitte selig zu sprechen und die Ränder zu verteufeln. Vor allem die Frage der Gewalt wird komplett auf die Ränder projiziert. Innerer Frieden ist somit garantiert, denn die Gefahr kommt immer von außen. Das staatliche Gewaltmonopol soll von der Frage der eigenen Gewalt ablenken.

Hier verweigert der Dienst jede weitergehende Tätigkeit. Keine Erwähnung von antisemitischen und neonazistischen Propaganda­delikten bei Polizei und Bundeswehr. Obwohl die Auswertung von öffentlichen Quellen ja eine der Hauptaufgaben des Dienstes ist und alle größeren Medien mehrfach über Chatgruppen und andere Vorfälle ausführlich berichteten. Er kann nicht sehen, was nicht sein soll. Die Kontrolle des VS durch das Ministerium des Innern scheint in diesem Zusammenhang gut zu funktionieren.
Sich selbst sieht der VS auch in einem Dreiklang der öffentlichen Kritik gefangen. Nicht erst seit der Selbstenttarnung des NSU ertönt dieser in der Form von Frühwarnsystem, V(ertrauens)-Männern und Pannen. Die Auswertung öffentlicher Quellen ist im Gegensatz zum V-Mann-System und der Vertuschung eigener Fehler und krimineller Aktionen weniger gefährlich. Die meisten Aktionen des VS werden immer geheim bleiben, eine Fehlerkultur, eine demokratische, öffentliche Kontrolle der Dienste findet nur durch die Presse und wenige Politiker*innen statt. Die Dienste schützen sich dagegen mit einer eigenen »Omertà«, dem Gesetz des Schweigens. In den schlimmsten Fällen, um die es hier geht, mussten Menschen mit ihrer Gesundheit und sogar ihrem Leben bezahlen.

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Der tote Spitzel

Ulrich Schmücker wurde nur 22 Jahre alt. Der Student der TU Berlin wurde 1972 festgenommen. Ein Bombenanschlag auf das türkische Generalkonsulat wurde von der Polizei durch eine Kontrolle vereitelt. In U-Haft wird er vom VS als V-Mann »Kette« angeworben. Er erkauft sich dadurch ein sehr mildes Urteil, wird vorzeitig aus der Haft entlassen. Sein V-Mann-Führer ist Michael Grünhagen. Dieser ist zuständig für weitere Spitzel in der linken Szene Berlins, wie auch für den Kneipenwirt Volker Weingraber. Schmücker verstrickt sich in den folgenden Jahren immer offensichtlicher in Widersprüchen, wird von seinem Mitbewohner und seiner Lebensgefährtin als Spitzel enttarnt. Daraufhin finden in der Szene-Kneipe »Tarantel« Debatten über eine Hinrichtung des Spitzels statt. In der Gaststätte verkehren zu dieser Zeit auch mindestens zwei weitere V-Leute des VS. Der ­V-Mann Weingraber ist auch an den Gesprächen beteiligt. Er stellt der Gruppe eine Schreibmaschine zur Verfügung, damit diese ein »Volkstribunal« und ein Urteil protokollieren kann. Er leiht den mutmaßlichen Tätern auch seinen VW Bus am 4. Juni 1974 – dem Tag, an dem Grünhagen zum wiederholten Mal gewarnt wird, sein V-Mann Schmücker sei in Lebensgefahr. Der hatte selbst in den Wochen zuvor um Schutz gebettelt und um eine Waffe zum Selbstschutz gebeten. Beides wurde ihm von seinem V-Mann-Führer verweigert. Am 5. Juni um circa 00.15 Uhr wird Schmücker mit einer Pistole im Grunewald in den Kopf geschossen. Diese Pistole erhält der V-Mann Weingraber nur eine halbe Stunde nach der Tat. Er übergibt die Waffe mit zwei Magazinen einen Tag später an seinen V-Mann-Führer, den Oberamtsrat Grünhagen. Dessen wichtigster Beitrag zur Aufklärung an der Tötung seines ­V-Mannes ist, dass er die Tatwaffe in der Dienststelle des Verfassungsschutzes in der Clayallee für die nächsten 15 Jahre in einem Tresor wegschließt. Die Frankfurter Rundschau veröffentlicht in Auszügen das Bekennerschreiben einer Gruppe »Schwarzer September«, die sich der Tötung des Spitzels bezichtigt. Nach insgesamt mehr als 20 Jahren verhängter Untersuchungshaft bleiben die juristischen Verhandlungen ohne Ergebnis. Die ersten zwei Urteile gegen Beschuldigte wurden in Revision von Bundesgerichten aufgehoben. 1980 kommt Bewegung in die Auf­arbeitung. Grünhagen wird in einem anderen Mordkomplex von der Zeitschrift Konkret als Mitarbeiter des VS enttarnt. Ein Angeklagter im dritten Prozess erkennt ihn auf einem Foto in der Zeitung wieder. Das folgende Urteil gegen die Beschuldigten wird erneut durch ein Bundesgericht aufgehoben. Im vierten Prozess um den Tod des Spitzels wird absehbar, dass die Rolle des VS endlich Thema wird. 1989 wird dann die Tatwaffe im Tresor des VS schließlich »gefunden«. Die Richterin im bisher letzten Verfahren stellte das Verfahren gegen alle Angeklagten ein, da eine »Mitwirkung und Einwirkung des Landesamtes für Verfassungsschutz« für die Tat ausschlaggebend gewesen sei. Und dieses schützte den eigenen Spitzel nicht, sondern lieferte ihn mindestens bewusst seinem tragischen Schicksal aus.

Das Celler Loch

1978 sprengt die GSG 9, die Antiterroreinheit des Bundesgrenzschutzes, ein Loch in die Außenmauer des Gefängnisses in Celle, in dem das RAF-Mitglied Sigurd Debus einsaß. Der VS will mit dieser Aktion endlich V-Leute in das RAF-Umfeld einschleusen. Um die Inszenierung zu vervollständigen, wird Ausbruchswerkzeug in die Zelle von Debus geschmuggelt. Seine Haftbedingungen werden sofort verschärft und im folgenden Jahr wird er nach Hamburg in die Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel (­»SantaFu«) verlegt. Debus beantragt auch dort Hafterleichterungen, die mit dem Verweis auf den angeblichen Ausbruchsversuch abgelehnt werden. Daraufhin trit er in einen mehrmonatigen Hungerstreik mit Zwangsernährung, den er nicht überlebt. Erst Jahre später, 1986, berichtet die Hannoversche Allgemeine Zeitung über die wahren Hintergründe des Sprengstoffanschlags. Der Untersuchungsausschuss des Landtags kommt zu dem Ergebnis, es sei eine zu rechtfertigende Aktion, da das Ziel solche Handlungen rechtfertige und ein Ausbruch so verhindert worden sei. Der letzte Punkt ist eine offensichtliche Lüge. Eine Kontrolle des Geheimdienstes durch das Parlament fand somit nicht statt. Die verfassungsgemäße Trennung zwischen niedersächsischem VS und Bundespolizei wurde auch nicht beachtet. Am Ende steht ein Toter, der sich gegen seine verschärften Haftbedingungen wehrte, die über ihn durch eine gemeinsame Aktion von Geheimdienst und Polizei verhängt wurden. Diese schwiegen, während Debus in seinem Protest sich langsam zu Tode hungerte. Sie schwiegen auch noch nach seinem Tod. Denn die vom VS gewählte Aktionsform entspricht der Vorgabe des Bundeskanzlers Helmut Schmidt (SPD), der am 8. September im Jahr vor dem Anschlag den Geheimdiensten und der Polizei seine bedingungslose Unterstützung zusagte und sie aufforderte, »das Undenkbare zu denken« und »exotische Vorschläge« zu verfolgen. Diesen Aufforderungen folgte der VS.

Fanzines, Totschlag, Konzerte, Waffen

1991 findet die Polizei bei einer Hausdurchsuchung bei dem Neo­nazi Carsten Szczepanski vier Rohrbomben. Er gibt der Polizei freiwillig die Abonnentenliste seines Fanzines »Feuerkreuz« und die Mitgliederlisten des von ihm gegründeten Ablegers des »Ku Klux Klans« (KKK). 1992, im Mai, wird am Scharmützelsee der nigerianische Lehrer Steve Erenhi erst zusammengeschlagen, dann versucht die Meute, ihn zu verbrennen. Als ihnen das nicht gelingt, versuchen sie ihn zu ertränken. Einer der Täter: Szczepanski, der sich als einziger in der Gruppe vermummt. Erenhi überlebt den Mordanschlag nur knapp. Auch andere Mitglieder des KKK begehen in Deutschland Anfang der 1990er Jahre schwerste Verbrechen. Szczepanski wird für seine Tatbeteiligung 1995 zu acht Jahren Haft verurteilt. Schon 1998 ist er Freigänger. Er betreibt ein Ladengeschäft für Neonazimusik und -Bekleidung, spielt eine wichtige Rolle im »Blood & Honour«-Netzwerk, wirbt in seinem Fanzine »United Skins« für den Terror von »Combat 18«, ist Teil der »National-Revolutionären Zellen«, wird Beisitzer im Landesvorstand der NPD Brandenburg und Leiter des Ordnungsdiensts der Partei. Zur NPD geht er auf ausdrücklichen Wunsch seines V-Mann-Führers. Der hatte auch dafür gesorgt, dass der Neonazi deutlich weniger Zeit in Haft verbringen musste. Auch für weitere Straftaten bekommt er Rabatt eingeräumt, indem er zum Beispiel seinen Mitbewohner wegen Schüssen auf einen Menschen verrät. Mit Jan Werner, ebenfalls »Blood & Honour«, versucht Szczepanski Waffen für den NSU zu beschaffen. Wie weit die beiden den Plan realisieren konnten, haben weder der NSU-Prozess noch die entsprechenden Untersuchungsausschüsse aufgeklärt. Carsten Szczepanski konnte sich an nichts erinnern.

Von 1994 bis ins Jahr 2000 arbeitete Carsten Szczepanski für den Verfassungsschutz. Der VS zahlte ihm mindestens 50.000 Mark allein an Prämien. Gordian Meyer-Plath war erst Leiter des Landesamtes für Verfassungsschutz in Brandenburg. Danach leitete er den sächsischen VS. Meyer-Plath war zuvor V-Mann-Führer von »Piatto«, dem Tarnnamen des VS für Carsten Szczepanski. 37 gemeinsame Treffen der beiden sind dokumentiert. »Piatto« lebt mittlerweile irgendwo unter neuer Identität, unterstützt durch ein staatliches Zeugenschutzprogramm. Im NSU-Prozess trat er verkleidet und vermummt auf und konnte sich an fast nichts erinnern. Ein weiterer großer Beitrag des VS zur Aufklärung von Verbrechen. Szczepanski hat sich den Titel ‹Vertrauensmann› mühevoll verdient.

Fleißarbeit

Das mühselige Zusammensetzen der Puzzlestücke obliegt antifaschistischen und zivilgesellschaftlichen Projekten. Ohne deren Wirken wären die Machenschaften der V-Leute und ihrer Führer bis heute nicht in diesem Umfang bekannt. Es ist naheliegend für ein Frühwarnsystem – das der VS für sich in Anspruch nimmt –, in politische Bildung und Aufklärung zu investieren und antifaschistischen Projekten nicht das Leben schwer zu machen. Sie waren noch nie in Morde und die Vertuschung schwerster Straftaten verwickelt. Sie analysieren und warnen früher vor faschistischen Aktivitäten und das völlig ohne Menschenleben zu gefährden. Dass der VS immer wieder gegen diese Projekte agitiert, ist auch eine Würdigung ihrer soliden Arbeit, die nicht nur das Amt, sondern auch manche Mitarbeiter*innen brüskiert. Diese werden im Übrigens in den seltensten Fällen für ihre Fehler zur Verantwortung gezogen.