Geschichte einer Skandalbehörde

von Kai Budler


Magazin »der rechte rand« Ausgabe 146 - Januar / Februar 2014

#Verfassungsschutz

Nach einer bundesweiten Umfrage im vergangenen Jahr hatten 25 Prozent der Befragten »eher weniger« und 22 Prozent »überhaupt kein Vertrauen« in den Verfassungsschutz. Die Umfragewerte für den niedersächsischen Geheimdienst dürften nach den jüngsten Skandalen über unrechtmäßige Überwachungen noch weiter gesunken sein. Auch in der Vergangenheit fiel die Landesbehörde immer wieder mit Negativschlagzeilen auf.

Antifa Magazin der rechte rand
Rechts kuscheln – links überwachen, damaliger Innenminister Schünemann als gern gesehener Gast beim Vertriebenen-Treffen der Schlesier 2007 © Mark Mühlhaus / attenzione

Die umfangreiche Skandalgeschichte des niedersächsischen Verfassungsschutzes (VS) beginnt spätestens mit der Beschäftigung des NS-Verbrechers Walter Odewald in der Behörde. Der 1902 geborene Odewald war im nationalsozialistischen Deutschland SS-Obersturmbannführer und Mitarbeiter der Gestapo. Im besetzten Frankreich wurde unter seiner Verantwortung ein Viertel in Marseille zerstört. Rund 800 Menschen wurden dabei in Konzentrationslager deportiert. In den 1950er Jahren kam Odewald dann bei der »Bundesnachrichtenstelle Hannover«, der dortigen Niederlassung des Bundesamtes für Verfassungsschutz, unter und erhielt später eine leitende Stelle beim niedersächsischen Verfassungsschutz. Im Jahre 1959 machte das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« Odewalds braune Vergangenheit öffentlich und beendete damit dessen VS-Karriere.

»Aus dem Ruder gelaufen«
Auch in den folgenden Jahrzehnten mangelte es dem Geheimdienst in Niedersachsen nicht an handfesten Skandalen, wie die Bomben-Attentate der rechtsterroristischen »Gruppe Otte« Ende der 1970er Jahre zeigen. Ziele waren die Amtsanwaltschaft in Flensburg und das Amtsgericht in Hannover; ein Bekennerschreiben zum Anschlag auf das Gericht suggerierte damals eine Täterschaft der »Rote Armee Fraktion« (RAF). Weitere Anschläge waren geplant. An den Aktionen war neben dem namensgebenden Paul Otte aus Braunschweig auch der Neonazi und NPD-Mann Hans-Dieter Lepzien beteiligt. Als V-Mann des niedersächsischen Verfassungsschutzes war er am Bombenbau für die Anschläge beteiligt. Der VS hatte damals von diesen Straftaten gewusst und sie geduldet. Der SPD-Landtagsabgeordnete Werner Holtfort sprach von einer »fröhlichen Unbefangenheit« beim Vorgehen des VS. Nach Lepziens Verurteilung zu drei Jahren Haft kümmerte sich das Innenministerium sogar um Rechtsmittel, bestellte einen Anwalt und übernahm die Verfahrenskosten. Selbst um ein Gnadengesuch beim Bundespräsidenten bemühte sich das Ministerium und besorgte Lepzien »im Rahmen der Fürsorgepflicht« einen Arbeitsplatz. Der damalige Chef des niedersächsischen VS, Peter Frisch, bemerkte dazu lediglich, der V-Mann sei »leider aus dem Ruder gelaufen«.

»Celler Loch«
Weitere »aus dem Ruder gelaufene« V-Männer verzeichnete der VS 1978 bei dem später als »Celler Loch« bekannt gewordenen Sprengstoffanschlag auf die Außenmauer der Justizvollzugsanstalt Celle. Offiziell hieß es, die RAF oder deren SympathisantInnen hätten versucht, ein Loch in die Mauer des Gefängnisses zu sprengen, um ein mutmaßliches Mitglied der RAF zu befreien. Erst acht Jahre später enthüllten JournalistInnen, dass der VS selbst mit der »Aktion Feuerzauber« versucht hatte, zwei einschlägig vorbestrafte V-Männer in das RAF-Umfeld einzuschleusen. Die Staatsbombe hatte die Antiterroreinheit des Bundesgrenzschutzes (heute Bundespolizei) mit Wissen der Behörde und des Bundesinnenministe­riums gelegt. Trotz heftiger Kritik bestand für VS-Chef Frisch kein Zweifel, »dass diese Aktion auch rechtlich bis zum Letzten gerechtfertigt war«.
In die Zeit des »Celler Lochs« fallen auch Berichte über Zuträgerdienste von JournalistInnen für den VS. Das Innenministerium bezahlte V-Leute für vertrauliche Berichte aus ihren Redaktionen und unterlief so die Kontrollpflicht der Presse gegenüber den Behörden.

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Bezahlte Neonazis
Der Einsatz von V-Leuten fiel dem Dienst im Laufe seiner Geschichte immer wieder auf die Füße, wie auch zwei aktuelle Fälle von bezahlten Neonazi-V-Leuten zeigen: Nach umfangreichen Ermittlungen gegen die MacherInnen des Neonazi-Internetradios »European Brother Radio« (EBR) schlugen die BeamtInnen im März 2009 zu. Rund sechs Monate später sollte vor dem Landgericht Berlin das Verfahren gegen die Betrei?berInnen wegen rund 250 Straftaten beginnen. Doch eine der sieben Beschuldigten entpuppte sich als V-Frau des niedersächsischen Verfassungsschutzes. Der damalige Präsident des VS Niedersachsen, Günther Heiß, sagte der »taz« daraufhin: »Das Problem bei unseren Quellen ist, dass wir nicht immer wissen, was die sonst tun«. Auch der langjährige Neonazi Dirk Niebur aus Einbeck bei Göttingen soll ab März 2009 als V-Mann tätig gewesen sein – zumindest behaupteten das Mitglieder der Neonazi-Szene in Südniedersachsen und warnten vor Niebur. Der Grund: Nach einer Schießerei und einem Brandanschlag auf eine »Table Dance Bar« in Göttingen soll der ehemalige Weggefährte von Thorsten Heise mit Aussagen über seine Kameraden eine milde Strafe für sich erwirkt haben.

VS als Bildungsträger
Einen ganz anderen Arbeitsbereich entdeckte der Verfassungsschutz nach dem Wechsel zur schwarz-gelben Regierung 2003 für sich. Nachdem 2004 die Landeszentrale für politische Bildung zerschlagen wurde, folgte 2007 eine massive Ausweitung der Befugnisse des VS in der Öffentlichkeitsarbeit. Mit der Änderung des Niedersächsischen Verfassungsschutzgesetzes war es der Behörde nun möglich, ihre Aufklärung durch »andere Maßnahmen« zu flankieren. Welche das sind, wurde mit der Gründung der »Niedersächsischen Extremismus-Informations-Stelle« (NEIS) 2009 deutlich. Neben den konventionellen VS-Angeboten macht NEIS Bildungsangebote und nutzt dabei Wanderausstellungen, ein Planspiel und die »Ausbildung von ›Demokratie-Lotsen‹«. Der VS bietet zudem Lehrkräftefortbildungen an und führt mit Schulen Jugendkongresse durch. Ganz unverfroren ist die Rede von neuen Projekten, »mit denen insbesondere junge Menschen angesprochen werden sollen und die als ein Beitrag zur Demokratieerziehung und der politischen Bildung gesehen werden«. Der VS als ein Akteur der politischen Bildung?

NSU-Unterstützer nur »Mitläufer«?
Während sich der niedersächsische VS Kompetenzen im Bildungsbereich sicherte, war ihm der mutmaßliche NSU-Unterstützer Holger Gerlach längst aus dem Blick geraten. Weil er 1997 nach Hannover umgezogen war, bat der Thüringer Verfassungsschutz zwei Jahre später in Niedersachsen um Amtshilfe und schrieb ausdrücklich von »Rechtsterroristen«, die mit Gerlach Kontakt aufnehmen könnten. Ganze drei Tage lang observierten die Niedersachsen den gebürtigen Thüringer, anschließend brachen sie die Überwachung ab. Nach dem Bekanntwerden dieser Panne rechtfertigte der ehemalige VS-Chef Hans Wargel die Streichung von Gerlach aus der Kartei damit, dass es keine Erkenntnisse über Straf- oder Gewalttaten gegeben habe. Dabei war er jahrelang in der »Kameradschaft 77« aktiv und schloss sich den »Freien Kräften« an. Noch 2005 war Gerlach mit Neonazi-Kadern aus dem Raum Hannover an extrem rechten Aktionen beteiligt. Noch 2011 besuchte er gemeinsam mit dem Anführer der inzwischen verbotenen Neonaziorganisation »Besseres Hannover« einen Gerichtsprozess. All dies war dem VS unter den Innenministern aus SPD und CDU nicht aufgefallen, weil er Gerlach als Mitläufer eingestuft hatte. Das Versagen des VS als selbst postuliertes Frühwarnsystem hatte tödliche Konsequenzen.

Wer ist ExtremistIn?
In ihrer zehnjährigen Amtszeit baute die schwarz-gelbe Landesregierung in Niedersachsen Stellen in fast allen Landesbehörden ab, beim VS jedoch wurden die Personalstellen erhöht. Angesichts der »Aufgabenzuwächse« brauchte es offenbar neue DatensammlerInnen. Der ehemalige Innenminister Uwe Schünemann machte zuletzt sehr deutlich, wo der von ihm definierte »Extremismus« zu Hause ist. Wegen der pauschalen Beobachtung der Partei »Die Linke« sollte einer prominenten Politikerin der Partei auf Drängen des VS die Einbürgerung verweigert werden. Die gleiche Erfahrung machte ein Mitglied der »Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend« (SDAJ), dessen Antrag auf Einbürgerung wegen eines Einspruchs des VS verweigert wurde.
Die im September dieses Jahres öffentlich gemachte rechtswidrige Überwachung von mindestens 14 JournalistInnen und PublizistInnen, einer Landtagsmitarbeiterin und einem Anwalt – teils über Jahre hinweg – lässt zudem befürchten, dass sich die Behörde in Niedersachsen längst verselbstständigt hat (siehe Interview auf Seite 10). Die amtierende Präsidentin, Maren Brandenburger, sprach von einem Organisationsversagen ihrer Behörde. Eine »Task Force« durchforstet jetzt die insgesamt 9.000 Personendaten beim VS nach weiteren rechtswidrigen Fällen; die Überprüfung soll im zweiten Quartal des Jahres 2014 abgeschlossen sein.
Diese jüngst bekannt gemachten Überwachungsmaßnahmen unter dem ehemaligen Innenminister Schünemann (CDU) werfen erneut die Frage auf: Wen zählt der Geheimdienst eigentlich aus welchen Gründen zu den mutmaßlichen »ExtremistInnen«? Die vorliegenden Begründungen für die Überwachung sind meist an den Haaren herbei gezogen und allein die Verwechslung des Journalisten Ronny Blaschke mit Ronald Blaschke von der Partei »Die Linke« lässt erahnen, dass hinter den Kulissen offenbar eine Hand nicht weiß, was die andere tut. Schon länger wird auf den Fluren der Innenpolitik im Landtag kolportiert, der Verfassungsschutz des CDU-geführten Innenministeriums habe bei der Beobachtung von »Linksextremisten« ein Mindestmaß an vorgegebenen Zahlen erreichen müssen. Wird bei konkreten Fällen nach den Gründen gefragt, zieht sich der VS in der Regel auf die »Geheimhaltung« zurück. Die gleiche Antwort fällt bei konkreten Fragen der parlamentarischen Kontrollgremien zu Vorfällen beim Einsatz möglicher V-Leute. Doch auch diese Kontrolle werde nur mangelhaft genutzt, die entsprechenden Ausschusssitzungen würden immer wieder verschoben, heißt es aus innenpolitischen Kreisen.

Reform des Verfassungsschutzes?
Angesichts des Versagens, der vielen Pannen und Skandale fällt es nicht nur ausgewiesenen BehördenkritikerInnen schwer, die angekündigte Re­form des VS in Niedersachsen ernst zu nehmen. Zu sehr sprechen der Charakter des Geheimdienstes und die alteingesessenen Strukturen des Apparates gegen eine transparente Arbeit der Behörde. Der VS bleibt ein politisches Instrument, das von den jeweiligen Regierungsparteien für ihre Zwecke genutzt wird. Das sollten auch die vom VS rechtswidrig Beobachteten im Kopf behalten, statt sich – auch gegen ihren Willen – zu SteigbügelhalterInnen eines Geheimdienstes unter rot-grüner Führung zu machen, der sich mit dem Aufdecken von Fehlern aus den letzten zehn Jahren begnügt, um sich lediglich gegen die Politik von Innenminister Schünemann abzugrenzen. Erste Schritte auf dem Weg zu einem glaubhaften Umbau der Behörde wären die Diskussion über den Extremismus­begriff, der Rückzug aus der Bildungsarbeit und die Aufgabe des V-Mann-­Prinzips. Einen solchen Abzug der V-Leute hatte noch 2009 der Rechtsexperte der Grünen-Landtagsfraktion, Helge Limburg, gefordert. Nach dem Regierungswechsel in Niedersachsen im Januar 2013 ist in der Koalitionsvereinbarung nur noch vorgesehen, den Einsatz der V-Leute einzuschränken und die Rahmenbedingungen neu zu regeln. Es ist zu befürchten, dass der Geheimdienst unter neuer Führung nur auf Druck der Öffentlichkeit mit den selbst angekündigten Veränderungen beginnen wird. Papier allein, wie das der Koalitionsvereinbarung, ist bekanntlich geduldig.