Beidseits des Atlantiks

von Hazem El Moukaddem
Übersetzung: Lou Marin
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 185 - Juli / August 2020

#Frankreich

antifa Magazin der rechte rand
In vielen europäischen Städten gehen Tausende unter dem Motto #BlackLivesMatter auf die Straßen. © Mark Mühlhaus / attenzione

Am 25. Mai 2020 wurde George Floyd in Minneapolis (USA) durch Polizist*innen ermordet. Im Kontext der gesundheits- und sozialpolitischen Krise brachte dieses offen rassistische Verbrechen das Fass zum Überlaufen. Eine riesige Protestbewegung formierte sich unter dem Motto »Black Lives Matter«. Sehr schnell überquerte diese Bewegung den Atlantik. In Frankreich, in Paris und in der Provinz, fanden zwei Großdemonstrationen statt. In der Hauptstadt versammelten sich am 3. Juni über 20.000 Menschen. Zur Überraschung aller, der Aktivist*innen wie auch der Ordnungskräfte, konnte dabei ein großer jugendlicher Bevölkerungsanteil mobilisiert werden, der aus den ärmeren Stadtvierteln stammte. Es war das Komitee Adama Traoré, das die organisatorische Leitung der Veranstaltungen übernahm. Sie forderten Gerechtigkeit für Adama und alle Opfer der Polizeigewalt. Der Schwarze Adama Traoré wurde im Juli 2016 bei einer Kontrolle durch drei Polizisten festgenommen. Dabei fixierten ihn die Beamten am Boden und setzen sich zu dritt auf ihn. Der mit Handschellen gefesselte Traoré starb auf dem Weg ins Polizeirevier. Die Polizei versuchte seinen gewaltsamen Tod in einen Herzstillstand umzulügen. Seit dem Algerienkrieg hat diese teilweise kolonialistische Polizeipraxis einen eigenen Namen, die »bavure«. Das Komitee hat bis heute seine Arbeit, die Suche nach der Wahrheit und deren öffentliche Thematisierung, kontinuierlich fortgesetzt und wurde so zum wichtigsten Organisator der Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt über Paris hinaus. In den folgenden Wochen kam es in Städten wie Marseille, Lyon, Bordeaux und Nantes zu Großdemonstrationen und Auseinandersetzungen mit der Polizei, die immer wieder die Demonstrant*innen angriff, um angeblich nur das Versammlungsverbot durchzusetzen.

Trotz starker Ähnlichkeiten sollte man die Mobilisierungen in Frankreich nicht auf eine einfache Übertragung dessen reduzieren, was sich in den Vereinigten Staaten abgespielt hat. Leider sind Polizeigewalt und rassistische Gewalt kein exklusives Kennzeichen von Trumps Amerika.

Man muss schon den innenpolitischen Kontext in Frankreich kennen, um die Spannungen und das Hervortreten der dortigen Proteste verstehen zu können. Ich gehe hier auf zwei Faktoren ein, die meiner Einschätzung nach eine Verankerung der Bewegung in Frankreich ermöglicht haben. Auf der einen Seite handelt es sich dabei um den gesellschaftlichen Kontext, der durch steigende Staatsgewalt gegen unterdrückte / verschiedene Bevölkerungsgruppen geprägt ist, auf der anderen Seite um die Möglichkeit, sich auf bewährte und anerkannte Kollektivstrukturen im Kampf gegen den Rassismus stützen zu können.
Die jüngst gemachten Erfahrungen zeigen die gesellschaftliche Notwendigkeit eines sozialen Antirassismus.

Koloniale Vergangenheit und anti-soziale Repressionspolitik
Die letzten Jahrzehnte waren in Frankreich durch den Aufstieg des »Front National« – heute »Rassemblement National« (»Nationale Versammlung«)– und seiner Konzepte geprägt, die sich die traditionelle Rechte schnell angeeignet hat: die Zuspitzung auf die »nationale Identität« und die Kriminalisierung der von den Ärmeren bewohnten Stadtviertel. Gleichzeitig ist es den aufeinanderfolgenden Regierungen des Sozialdemokraten François Hollande sowie des Präsidenten Emmanuel Macron, der ursprünglich aus der sozialistischen Partei stammt, gelungen, die Träume der liberalen Rechten zu verwirklichen: den Angriff auf die Renten, auf die Sozialversicherung, auf das Arbeitsrecht und auf die Vermögenssteuer.

Als Antwort auf diese offen ungerechten Politikstrategien entstand die Bewegung der »Gilets jaunes« (»Gelbwesten«). Diese Bewegung ist bislang einzigartig. Zunächst schon auf Grund ihres Ausmaßes. Es ist ihr gelungen, die nationale Wirtschaft mit großen Demonstrationen täglich zu blockieren – und das über einige Monate hinweg. Diese Bewegung ist außerdem bemerkenswert aufgrund der Zusammensetzung der Beteiligten: Sie umfasste eine gesamte Gesellschaftsgruppe, die sich normalerweise von den sozialen Kämpfen fernhält. Nun sind sie auf die Straße gegangen. Als Antwort darauf hat die Regierung die Repression gewählt. Sie hat die Reihen der nationalen Polizei verstärkt und eine bisher nie dagewesene Gewalt an den Tag gelegt: abgerissene Hände, Verlust des Augenlichts; Einsatz von besonders giftigem Tränengas und Gummigeschossen. Dazu kam die juristische Verfolgung der Aktivist*innen. Demonstrant*innen wurden durchsucht, festgenommen und zu Gefängnisstrafen verurteilt. Jenseits der Frage der Erfüllung der Forderungen der »Gilets jaunes« kennzeichnete dieses Phänomen einen Wendepunkt in der französischen politischen Landschaft in mindestens zweierlei Hinsicht. Zum einen gab der Staat in keiner Weise nach und blieb bei seiner Strategie der Repression. Diese äußerte sich besonders gewaltsam und beinhaltete zunehmend Rassismus und Klassengewalt. Steve Maia Canico in Nantes und Zineb Redouane in Marseille, die während der Proteste von der Polizei Getöteten, stehen dafür. Zweitens erlitten nun zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte die Bürger*innen ganz Frankreichs das, was bisher die Bewohner*innen der ärmeren Stadtviertel tagtäglich erlebt hatten: Repression und willkürliche Polizeigewalt. Vielen wurde nun erstmals klar, dass die kollektiven Kämpfe der Bewohner*innen, die Wahrheit und Gerechtigkeit forderten, äußerst legitim waren. Das Kollektiv Adama Traoré, das aus dem »Mouvement de l’immigration et des banlieues« (»Bewegung der Immigration und der Vorstädte«, MIB) entstanden war, ist eines dieser Kollektive. Es sollte zur Speerspitze der gegenwärtigen Mobilisierungen gegen Rassismus und Polizeigewalt werden.

Authentischer Protest
Bei dieser Kontextualisierung im Schnelldurchgang wird gut sichtbar, dass man die Fragen des Rassismus und der Polizeigewalt nicht voneinander trennen kann. Wir erinnern hier nur daran, dass laut einer frankreichweiten Umfrage der Agentur Cevipof im Wahljahr 2017 circa 70 Prozent der berufstätigen Beamt*innen der nationalen Polizei den »Front National« wählten. So haben also die Demonstrationen der Bewegung Black Lives Matter einen spezifischen Resonanzboden in Frankreich gefunden.
Aus meiner Sicht hätten die französischen Protestierenden trotzdem nicht dieses Ausmaß annehmen und diese Kämpfe führen können, wenn sie sich nicht auf die Basis der weithin in den betroffenen Bevölkerungsgruppen anerkannten Kollektive hätten stützen können. Deshalb tritt eine zweite grundsätzliche Dimension der französischen Bewegung aus dieser Struktur der legitimierten antirassistischen Kämpfe zutage. Dieser Kampf reicht nämlich weit zurück und ist geprägt durch die kolonialistische Vergangenheit Frankreichs. Bis in die 1980er Jahre standen der Rassismus und dessen strukturelle Folgen im Sinne der Ungleichheit kaum einmal im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. Auf karikaturhafte Weise war der Antirassismus »moralisch«. Es handelte sich um eine individuelle Meinung, die je nach dem Milieu, in dem man agierte, mehr oder weniger akzeptiert oder eingefordert wurde. Im Jahr 1983 forderte der »Marsch für Gleichheit« eine andere Form des Kampfes gegen den Rassismus und rückte den strukturellen und deshalb kollektiven Charakter des französischen Rassismus ins Scheinwerferlicht. In dieser Zeit wurde die Organisation »SOS Racisme« zur anerkannten Organisation des antirassistischen Kampfes. Es handelte sich hierbei um einen institutionellen, paternalistischen Antirassismus. Ein gutes Beispiel dafür war deren Slogan: »Fass meinen Kumpel nicht an!« Das verwässerte den ursprünglichen Geist des Marsches, indem der Eindruck erweckt wurde, der Rassismus sei universell und begrenze sich auf alltägliche Beleidigungen – habe aber keinen Einfluss auf den ungleichen Zugang zu Arbeitsplätzen oder Wohnungen. Die Akteur*innen dieser Organisation wurden im Verlauf der Jahre immer heftiger von den Aktivist*innen vor Ort kritisiert und verloren jegliche Legitimität und Anerkennung, sich die antirassistischen Kämpfe auf die Fahnen zu schreiben und zu vertreten. Genau das Gegenteil davon vertrat das Kollektiv Adama Traoré, das eine Konzeption des Rassismus zur Grundlage hatte, die auf den Erfahrungen der Menschen aus der postkolonialen Immigration, aus den ärmeren Stadtvierteln und auf dem Erbe der kolonialen Geschichte basierte. Die daraus hervorgehenden Forderungen waren umso legitimer als sie im Gegensatz zu »SOS Racisme« von den unterdrückten Klassen selbst getragen wurden: Assa Traoré, die Schwester von Adama, ist eine authentische Vertreterin ihrer Forderungen.

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Für einen sozialen Antirassismus
Im Verlauf dieses Artikels haben wir gesehen, dass die Demonstrationen gegen Rassismus und Polizeigewalt in Frankreich aus einem spezifischen Kontext aus identitärem Rückzug, polizeilichen Repressionsstrategien und einer Wiederaneignung des Monopols für die Legitimität antirassistischer Kämpfe durch die direkt Betroffenen hervorgegangen sind. Es geht heute darum, die Grundlagen für eine nicht-rassistische Gesellschaft zu legen und nicht in die Falle einer Vermarktung oder Kommerzialisierung der Kritik durch das kapitalistische System zu tappen – oder anders gesagt: in die Falle eines Antirassismus der »reinen Pose« oder Fassade, der im Namen einer Pseudo-Diversität die strukturellen Ungleichheiten nur versteckt und nicht wirklich bekämpft.
Es geht darum, den Rassismus in einem Verhältnis zur Herrschaft zu sehen. Auf dieser Basis ist der Kampf gegen Rassismus untrennbar mit den Kämpfen für Gleichheit, gegen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit, gegen Sexismus und andere Formen des gesellschaftlichen Ausschlusses, wie sie auch immer beschaffen sein mögen, verknüpft. Der Antirassismus muss zu einer Vereinigung und harmonischen Zusammenführung der unterdrückten Klassen führen.