Zeit der Entscheidung

von Andreas Speit
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 182 - Januar / Februar 2020

#75Jahre

Antifa Magazin der rechte rand
#Unteilbar-Demo 2018 in Berlin
© Mark Mühlhaus / attenzione

Das Vergangene ist nicht vergangen. In Hamburg muss sich Bruno D. vor dem Landgericht wegen Beihilfe zum Mord im Konzentrationslager Stutthoff in 5.230 Fällen verantworten. Der ehemalige SS-Wachmann erklärte, dass ihm die Menschen in den Lagern leid taten, meinte aber auch, dass seine Wachkameraden keine »echten Nazis« waren, und er »vom Herzen« auch kein »SS-Mann« gewesen sei.


In den Medien löste Bruno D. mit seiner Wahrnehmung eines KZ ohne Nationalsozialisten keine große Debatte aus. In doppelter Hinsicht eine Spiegelung der gegenwärtigen Situation – wenn auch aus gegensätzlicher Sicht: Weder wurde die Verharmlosung des »Schwarzen Ordens«, in dem seit dem 17. Oktober 2019 laufenden Verfahren skandalisiert, noch wurde betont, dass die Mörder »ganz normale Männer« waren. Doch schon seit längerem sind Positionen der Selbstreflexion der deutschen Nation und die Beachtung ihrer Opfer aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden. Die NS-Zeit war bekanntlich ja nur ein »Vogelschiss« in der 1000-jährigen Geschichte der Deutschen, wie Alexander Gauland uns erklären wollte. Der Applaus aus dem eigenen Milieu war dem Bundestagsfraktions- und Ehrenvorsitzenden der »Alternative für Deutschland« (AfD) gewiss. Doch wie breit ist mittlerweile dieses Milieu? In den vergangenen fünf Jahren ist ein extremer Anstieg der Akzeptanz – oder der Ignoranz – der Relativierung der NS-Verbrechen zu beobachten. Das Credo lautet: Nach 75 Jahren muss doch mal endlich ein Schlussstrich gezogen werden können. Zwischen Rechtspopulist*innen und Bio­boheme ist man sich einig: Gedenken an die NS-Zeit natürlich, aber mit dieser Dominanz? Zwar müsse man der Opfer gedenken, man sollte doch aber das eigene Leid nicht vergessen. In dieser Logik kann dann auch ein Gauland weiter in einer renommierten Zeitung publizieren. So erscheint das Erinnern als ein aufoktroyiertes Gedenken, eines »Antifaschismus 2.0«, wie der staatlich verordnete Antifaschismus der DDR. Dass erst mit der 68er-Bewegung, gegen massive Widerstände, der Versuch zur Aufarbeitung des NS durchgesetzt, die Anerkennung der Opfer, die Eröffnung der Gedenkstätten und vieles mehr erstritten wurde, wird nicht erwähnt. Kein Gedenken im Land der Mörder und Henker, das nicht erkämpft wurde.


Schon Martin Walser ging nonchalant bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 über diese Auseinandersetzung hinweg und beklagte »die unaufhörliche Präsentation unserer Schande«, warnte vor dem »Meinungs- und Gewissenswart« und prägte das Motiv von »Auschwitz als Moralkeule«. Der Zuspruch, beziehungsweise der Nichtwiderspruch deutete an, wie wenig die Geschichte vergegenwärtigt werden sollte. Der Firnis der Akzeptanz zu einer Täter*innen-Bevölkerung zu gehören, ist längst dünner geworden. In dieser Debatte hat Aleida Assmann früh auf die Unterscheidung zwischen kollektivem und individuellem Gedächtnis hingewiesen. Die Crux dabei: Das Gedächtnis einer Gesellschaft muss sich nicht mit dem Erinnern des Einzelnen decken. Mehr noch: Das Gedächtnis des Einzelnen wird stark vom familiären Umfeld bestimmt. So offiziell die Verbrechen des NS anerkannt werden, so sehr scheint privat zu gelten: Opa war kein überzeugter Kriegsverbrecher und Oma keine glühende Hitler-Verehrerin.
In dieser neuen Familienaufstellung ist die Bezeichnung des Holocaust-Mahnmals durch den thüringischen AfD-Landtagsfraktionschef Björn Höcke als »Denkmal der Schande« zwar immer noch over the top. Doch sein Vorschlag, Denkmäler statt Mahnmale zu errichten, schon nicht mehr. Die anhaltende Diskussion um den Wiederaufbau der Garnisonskirche in Potsdam könnte zu dieser Restauration gehören. 1933, am 21. März, gaben sich Reichskanzler Adolf Hitler und Reichspräsident Paul von Hindenburg zur Eröffnung des Reichstages dort die Hand. Deutschlands Elite aus Wirtschaft, Kultur, Militär und Kirche stand stramm – dabei auch eine heute vergessene Opfergruppe: der Adel! Der Adel? Der Prinz von Hohenzollern will dank des »Ausgleichleistungsgesetzes« von 1994 den Verlust von Geld, Gebäuden und Kunstwerken durch die Enteignung von 1945 bis 1949 ausgeglichen bekommen. Seit Jahren laufen die Geheimverhandlungen mit dem Bund. Nachdem nun der Moderater Jan Böhmermann die Gutachten zur Rolle der Hohenzollern im NS veröffentlichte, läuft auch die Debatte um die Rolle von Prinz Georg Friedrich von Preußen, der sehr bemüht ist, die Bedeutung seines Urgroßvaters, Kronprinz Wilhelm von Preußen, bei der Etablierung des NS herunterzuspielen. Denn nur wer dem NS keinen »erheblichen Vorschub« leistete, wird entschädigt. Doch der Kronprinz prahlte damals damit, Hitler durch einen Wahlaufruf zwei Millionen Stimmen gebracht zu haben. In SA-Uniform mit Hakenkreuz posierte er. Soll man wohl heute nicht mehr so eng sehen. Andere Zeiten, andere Sitten.

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Mit der Verhandlung verhöhnt der Bund letztlich alle Opfer des NS, die über Jahrzehnte um Anerkennung und Entschädigung in teils erniedrigenden Verfahren gekämpft haben.


Die Reaktion ist laut – und unersättlich. Doch sind die Reaktionäre wirklich mehr? Sind wir vielleicht zu leise und zu zurückhaltend? Warum nicht die Forderung des Direktors der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Axel Drecoll, mit vorantreiben, der den 8. Mai 2020 bundesweit zum gesetzlichen Feiertag machen möchte. Eine Chance, um erneut die narzisstische Kränkung, wie Theodor W. Adorno die Niederlage benannte, aufzuarbeiten. Und eine Chance der Provokation. Zeit der Entscheidung: lasst sie toben und brüllen.