Offene Gesellschaften und ihre falschen Freunde

von Mark Braumeister

Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 182 - Januar / Februar 2020

#Meinungsfreiheit

Immer wieder wird momentan gefragt, ob die Meinungsäußerung wirklich noch frei ist. Dabei gehört genau diese Frage längst fest zu den Themen rechter Agitation.

Meinungsfreiheit ist nicht nur für das Funktionieren einer Demokratie essenziell, sie ist auch für die Entwicklung und den Ausdruck der individuellen Persönlichkeit elementar. Nicht umsonst ist dieses Grundrecht in sämtlichen Verfassungen demokratischer Staaten verankert und genießt gesellschaftlich hohes Ansehen; und nicht umsonst können Menschen mit Sympathie und Solidarität rechnen, die behaupten, in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt zu werden.
Doch Meinungsfreiheit ist nirgends grenzenlos gewährleistet und stößt im Alltag auf gesetzliche, soziale, aber auch ökonomische Grenzen. Wer Geheimnisverrat oder Volksverhetzung begeht, muss mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Wer das eigene Unternehmen öffentlich schlecht macht oder kritisiert, wird eventuell entlassen. Wer über die eigenen Freund*innen herzieht, kann sie verlieren.

 

Antifa Magazin der rechte rand
Neonazis für ihre Meinungsfreiheit – vorneweg der verstorbene Jürgen Rieger beim Ersatz-Heß-Marsch im August 2006 in Jena
© Mark Mühlhaus / attenzione

Klassische Strategie der Rechten
Dass die Freiheit der Meinungsäußerung nicht gleichbedeutend ist mit der Freiheit von negativen Konsequenzen, gilt auch in demokratischen Gesellschaften und sorgt dort für einige Ängste und Beklemmungen. Wenn Menschen das Gefühl haben, in einem ihnen zustehenden fundamentalen Recht eingeschränkt zu werden, entsteht ein Spannungsfeld zwischen idealisiertem Verfassungstext und Realität. Genau diese Spannung versuchen die neurechten Gegner*innen der Demokratie für ihre Zwecke zu nutzen. In Deutschland haben sie hierfür ein breites Publikum. Mehr als drei Viertel der Befragten haben das Gefühl, in der eigenen Rede nur begrenzt frei zu sein, heißt es in einer Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach vom Mai 2019. Dass dieses Befinden in einem gesellschaftlichen Klima auftritt, in dem zugleich eine Verrohung der politischen Diskussion festgestellt wird, ist nur auf den ersten Blick paradox. Um diese Verrohung zu bewirken, schürt und instrumentalisiert die neue Rechte seit Jahrzehnten bewusst das Gefühl, nicht alles sagen zu dürfen – und das mit zunehmendem Erfolg. Die Einschränkung oder auch das Ende der freien Meinungsäußerung in liberalen Demokratien zu beklagen, ist eine klassische und zumeist erfolgreiche Strategie der Rechten. Ihr Erfolg zeigt sich etwa an der Aufmerksamkeit in den USA – aber auch hierzulande – die eine vermeintliche »PC-Diktatur« an US-amerikanischen Universitäten erfährt. Für die aufgeregte Berichterstattung gibt es kaum empirische Referenzen – die meisten jungen US-Amerikaner*innen, so eine Studie des Niskanen Center, unterstützen die Redefreiheit, die »Free Speech Crisis« an den Universitäten sei jedoch ein Mythos.

»Das wird man doch wohl noch sagen dürfen«
Dennoch erfährt die vermeintliche Krise eine überproportionale mediale Aufmerksamkeit und erinnert an die immer gleichen Debatten um Äußerungen von Politiker*innen der »Alternative für Deutschland« (AfD) oder an die Sarrazin-Debatte. So sehr sich die Argumente in diesen Debatten ähneln, so hoch ist die andauernde Aufmerksamkeit, die sie erhalten. Auch die Rollenverteilung der Debatten ist stets dieselbe: Auf der einen Seite die vermeintlichen Verteidiger*innen der Redefreiheit, deren Argumentation sich auf die Aussage »Das wird man doch wohl noch sagen dürfen« verkürzen lässt. Auf der anderen Seite die Differenzierer*innen, die erklären warum es so einfach nicht ist und warum Mäßigung in der Meinungsäußerung angebracht ist. Diese Personen werden dann als »Diskurswächter« und als lebende Beweise für mediale Zensur diffamiert. Dass es zu einer solchen immer gleichen Diskursformation kommt, ist das Ergebnis einer lang angelegten und erfolgreichen Strategie neurechter Agitator*innen, die es geschafft haben, Massenmedien für ihre Strategie einzuspannen.

Warum Meinungsfreiheit?
Es gibt mehrere Gründe für die Entscheidung, Meinungsfreiheit zum Thema rechter Agitation zu machen. Zunächst wäre da das für rechtes Denken konstitutive Gefühl, tatsächlich verfolgt zu werden. Individualpsychologisch und politisch ist die Verteidigung gegen eine als feindselig wahrgenommene Umwelt zentrale Triebfeder der alten wie der neuen Rechten. Die rechten Agitator*innen interpretieren jede Kritik als Angriff auf die eigenen Rechte und sind dabei genauso dünnhäutig und dauerbeleidigt, wie sie es ihren Gegner*innen unterstellen.

Die Thematisierung mangelnder Meinungsfreiheit hat auch eine Reihe taktischer Vorteile. Wenn die Bestrafung rechter Agitation wie Volksverhetzung unter der Perspektive der Meinungsfreiheit verhandelt wird und nicht bezogen auf den konkreten Gegenstand der Agitation, findet eine Diskursverschiebung statt. Es geht nicht mehr um das konkret Gesagte, sondern um die Regeln des Sagbaren. Es geht nicht mehr zum Beispiel um die Leugnung des Holocausts oder die rassistische Abwertung einer Gruppe, es geht um die Rechte von Holocaustleugner*innen oder Rassist*innen – und damit, so wird suggeriert, um die Rechte aller Bürger*innen.

 

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Hier finden gleich mehrere Verschiebungen statt: Rechte Volksverhetzer*innen werden von Täter*innen zu Opfern; diejenigen, die Volksverhetzung anzeigen und juristisch verfolgen, werden zu Angreifer*innen auf demokratische Prinzipien. Das zuvor konsensuelle Prinzip, Volksverhetzung zu ahnden, wird kontrovers. Zugleich erlaubt die Berufung auf die Meinungsfreiheit, sich als demokratisch zu tarnen – schließlich geht es den rechten Verteidiger*innen der Meinungsfreiheit ja angeblich um demokratische Prinzipien. Dieser rhetorische Kniff erlaubt es denn auch, Gegner*innen des Faschismus als »die wahren Gegner der Demokratie«, »Rotlackierte Faschisten« und vieles mehr zu brandmarken. Die hier bemühte »Rechts und Links«-Argumentation nützt freilich den Faschist*innen. Zugleich schüchtert der Vorwurf, die Meinungsfreiheit einschränken zu wollen, besonders viele Menschen ein, die in der Tradition liberalen Denkens stehen. Diese Tradition setzt zwar viel auf Diskussion, Gespräch und rationalen Diskurs, sie hat jedoch kein zeitgemäßes Verständnis von politischer Macht. Auch deswegen machen sich liberale Publizist*innen manchmal zu Verteidiger*innen neurechter Agitator*innen, weil sie meinen, damit zugleich die Prinzipien liberaler Demokratie zu schützen. Die neuen Rechten haben diese Schwäche erkannt und beuten sie strategisch aus, um die inneren Widersprüche der pluralistischen Demokratie zu verschärfen.

So bemerkte der rechte Publizist Alain de Benoist* bereits 1995 zur beschriebenen Taktik: »Die Aktivität der Intellektuellen trägt dazu bei, den allgemeinen Konsens zu zerstören, wobei die subversiven Ideologien zu den Fehlern hinzukommen, die den pluralistischen Regimen ihrem Wesen nach eigen sind. […] Entsprechend begünstigt die Macht, die verfassungsmäßig verpflichtet ist, der öffentlichen Meinung Rechnung zu tragen, […] sehr oft jenen Prozess der Substitution der Werte, dessen Opfer sie letzten Endes wird. So vollzieht sich unter der Wirkung der kulturellen Macht die Umkehrung der ideologischen Mehrheit.«

 

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Der Trick der »verfolgten Unschuld«
Ein weiterer Vorteil der Opferrolle ist die Tarnung eigener Zensurideen als Reaktion und nicht als antidemokratische Agitation: So wird das Vorhaben der AfD die Gender Studies abzuschaffen – ein massiver Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit – nicht nur mit dem Vorwurf der »Genderideologie« legitimiert, sondern auch mit der vermeintlichen Bevormundung, die im Namen dieses Wissenschaftszweigs geschehe. Aus einem Angriff auf die verfassungsmäßig garantierte Freiheit von Forschung und Lehre wird so rhetorisch ein Befreiungsschlag gegen die herbeiphantasierte Unterdrückung. Dieses Vorgehen ist freilich nicht neu, es handelt sich um den rhetorischen Trick der »verfolgten Unschuld«, den Theodor W. Adorno schon in den 1940er Jahren beschrieb. Die vorgenommene Täter-Opfer-Umkehr steht beispielhaft für die Logik des neurechten Meinungsfreiheitsdiskurses.

 


Schließlich wäre da noch die schlichte Freude, die rechte »Trolle« am Argumentieren und Provozieren besitzen, unabhängig davon wie sehr sie von den eigenen Argumenten überzeugt sind. Der Philosoph Jean-Paul Sartre beschrieb bereits 1944 diese sadistische Komponente faschistischer Kommunikation in seinem Essay »Anti-Semite and Jew«: »Sie wissen, dass ihre Äußerungen leichtfertig und anfechtbar sind. Aber sie amüsieren sich, denn es ist ihr Gegner, der verpflichtet ist, verantwortungsbewusst mit Worten umzugehen, da er an Worte glaubt. Die Antisemiten haben das Recht zu spielen. Sie spielen sogar gern mit dem Diskurs, weil sie durch die Angabe von lächerlichen Gründen den Ernst ihrer Gesprächspartner diskreditieren. Sie genießen es, in unlauterer Absicht zu handeln, da sie nicht mit stichhaltigen Argumenten zu überzeugen suchen, sondern einzuschüchtern und zu beunruhigen.« Es ist diese Eigenschaft auch neurechter Kommunikation, welche die liberalen und medialen Aufbereiter*innen dieser Debatten nicht verstehen können und sich so zu Werkzeugen rechter Propaganda machen.

Was also tun?
Es gibt tatsächlich Bedrohungen der Meinungsfreiheit, die – im Vergleich zu der exzessiven Behandlung rechter Meinungsfreiheit – zu wenig gesellschaftliche Aufmerksamkeit finden. Zum Beispiel die Ausweitung der staatlichen und kommerziellen Überwachung privater Kommunikation sowie deren direkte und indirekte Effekte auf die Freiheit persönlicher Meinungsäußerung. Ebenso Paragraf 219a des Strafgesetzbuches, der es Mediziner*innen verbietet, darauf hinzuweisen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Und schließlich die Problematik, dass weite Teile der Gesellschaft zwar formal frei sind, ihre Meinung zu äußern, dass die tatsächliche Wahrnehmung ihrer Interessen aber stark von ihrem Einkommen abhängt. Die mangelnde politische Bereitschaft, auf Belange der niedrigeren Einkommensklassen einzugehen und die Abwärtsspirale, die dies in deren politischer Beteiligung in Gang setzt, sollten Freund*innen der freien Meinungsäußerung besorgen. Hierauf hinzuweisen wäre sinnvoller, anstatt sich den immer gleichen Debatten darum zu stellen, wie rassistisch, transphobisch, antisemitisch oder homophob Anhänger*innen der gesellschaftlichen Elite sein dürfen.

 

* in einer früheren Fassung haben wir das Zitat falsch zugeschrieben. Das Zitat stammt von Alain de Benoist.