Anschlag von Halle – inszeniert wie ein Ego-Shooter

von Roland Sieber

Magazin »der rechte rand« Ausgabe 180 - Oktober 2019 - online only

#Rechtsterrorismus

Der Rechtsterrorist von Halle inszenierte seinen Anschlag in einem Livestream wie ein Ego-Shooter, wobei der Täter zum Single-Player wird. Die Zielgruppe ist ein internationales extrem rechtes Publikum aus Gamern und Nutzern von Imageboards.

Das Video, das der 27-jährige Stephan Balliet in Halle mit der Kamera eines an seinem Helm befestigten Smartphones aufnahm, zeigt das Attentat aus seiner Sicht: Töten als Live-Event.

Schon der 32-jährige Rechtsterrorist Anders Breivik, der bei einem Doppelanschlag 2011 in Norwegen 77 Menschen tötete, wollte auf der Insel Utøya die ehemalige Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland vor laufender Kamera köpfen und das Video ins Internet stellen. Er habe aber, so sagte er vor Gericht, kein passendes Mobiltelefon vor dem Anschlag mehr kaufen können und die Ex-Ministerpräsidentin war schon abgereist, als er die Insel und das Feriencamp der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF erreichte.

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Anders Breivik – Selbstinszenierung

Blaupause Christchurch
Der Attentäter von Christchurch in Neuseeland hat diesen Tätertypus weiter perfektioniert. Am 15. März 2019 griff der aus Australien stammende 28-jährige Brenton Tarrant zwei Moscheen mit Schusswaffen an und tötete dabei 51 Menschen. Wenige Minuten zuvor schrieb er im Board »/pol/ – Politically Incorrect« auf »8chan« in einer Tatankündigung, es sei Zeit , das »Shitposting« zu stoppen und einen echten Beitrag im Real Live zu leisten. Er werde einen Angriff gegen die »Eindringlinge« durchführen und diesen live über Facebook streamen. Was er dann mit einer Helmkamera auch tat.

Wir haben es hier mit Tätern zu tun, die von ihren Vorgängern lernen. Sowohl was die Ideologie, als auch was die Tatdurchführung angeht.

Ablauf des Anschlags von Halle
Am 9. Oktober 2019 wird um 11:57 Uhr auf dem Imageboard »Meguca« ein Posting mit einem Link zum Livestream des Attentäters von Halle veröffentlicht. Der Stream auf dem Videoportal »Twitch« läuft bereits seit drei Minuten. Es ist zu sehen, wie Stephan Balliet an seinem Smartphone herumspielt und mit einem Laptop hantiert. Vermutlich veröffentlicht er in diesen Sekunden den Text in dem Anime-Forum, einem internationalen Treffpunkt für antisemitische Fans von Comics und Zeichentrickfilmen. Balliet steht zu diesem Zeitpunkt mit einem Mietwagen auf einem Parkplatz nahe der Synagoge, die er später angreift. Er spricht in die Kamera: »Hey, my name is Anon. And I think the Holocaust never happened« (»Hey, mein Name ist Anon. Und ich glaube, der Holocaust ist nie passiert.«). »Anon« ist eine Anspielung auf die englischsprachigen Imageboards, bei denen die Nutzer automatisch den Namen »Anonymous« zugewiesen bekommen. Er sagt, er lehne den Feminismus ab, weil er für die sinkende Geburtenrate verantwortlich sei. An Feminismus und Massenmigration seien »die Juden« schuldig. Später, als er mit dem Auto zum Tatort fährt, fällt der Satz: »Nobody expects the internet SS« (»Niemand erwartet die Internet-SS«).

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Tatankündigung zu Halle mit antisemitischen Verweis auf »ZOG«

In dem mutmaßlichen Posting des Attentäters von Halle auf »Meguca« ist eine File-Hosting-Plattform verlinkt, über die anonym Dateien verbreitet werden können. In den hochgeladenen Dateien finden sich Anleitungen zum Bau von Sprengsätzen, Munition und Schusswaffen sowie Schriftsätze, die von Medien als Manifest bezeichnet werden. In einem als »DoKumentation« benannten PDF nennt er drei Ziele, die es zu erreichen gilt: »1. Beweise die Realisierbarkeit von improvisierten Waffen; 2. Erhöhe die Moral anderer unterdrückter Weißer, indem du das Kampfmaterial verbreitest; 3. Töte so viele Anti-Weiße wie möglich, vorzugsweise Juden; Bonus: Nicht sterben.« Auf der letzten Seite des Pamphlets befindet sich eine beunruhigende Liste mit »Achievements« (»Erfolgen«), die es unter anderem für das Töten von Jüd*innen, Muslim*innen, Christ*innen, Kommunist*innen und schwarzen Menschen geben soll. An dieser Stelle wird sich wohl auf Xbox-Achievements bezogen. Bereits Anders Breivik beschreibt in seinem Manifest seinen geplanten Anschlag wie ein Computerspiel, bei dem es Levels zu erreichen gilt.

Highscore für Hassverbrechen
Sollte die mutmaßliche Tatankündigung in dem Forum für Anime-Fans tatsächlich von Balliet persönlich stammen, wofür vieles spricht, fordert er dazu auf, diese zu verbreiten. Der Poster warnt dabei aber, achtsam vor der »ZOG« zu sein, der Abkürzung für »Zionist Occupied Government« (»Zionistisch besetzte Regierung«). Ein Szene-Code, der seit mehr als 40 Jahren in neonazistischen Schriften und Tatbekenntnissen US-amerikanischer Rechtsterroristen auftaucht und auch von deutschen Neonazis als Synonym für die Regierungen in den USA und Deutschland verwendet wird. Und ein Begriff, der auch in den Balliet zugeschriebenen Schriftsätzen auftaucht.

Auf »Meguca« wird der Angriff auf die Synagoge und den Döner-Imbiss begrüßt. Bei der erschossenen Passantin, der 40-jährigen Jana L., und dem 20-jährigen Kevin S, einem Bauarbeiter, der in seiner Mittagspause den Schnellimbiss aufgesucht hatte, scheiden sich die Geister auf den Imageboards. Diese passen nicht in die dort verbreiteten antisemitischen und rassistischen Feindbilder. In dieser Szene ist das Ziel, einen möglichst hohen »Highscore« an Todesopfern zu erzielen. Auf dem Wikipedia nachempfundenen Szene-Wiki »Encyclopedia Dramatica« (ED) gibt es Highscore-Tabellen für Amoktäter, Attentäter und Terroristen. Zwei Tote und zwei Schwerverletzte sind für diese menschenverachtende Subkultur zu wenige, weshalb Stephan Balliet hierfür in den Kommentaren Punktabzug bekommt. Pluspunkte bekommt er dagegen aus seiner Szene, weil sein Livestream funktionierte. Was den »Score« im Internet nach oben treibt, sind im realen Leben Straftaten, das heißt Hassverbrechen, die eine lebenslange Freiheitsstrafe bedeuten: Der Generalbundesanwalt wirft dem Attentäter von Halle zweifachen Mord und versuchten Mord in neun Fällen vor.

Laut Angaben des Live-Streaming-Videoportals »Twitch« haben fünf Zuschauer den Anschlag live verfolgt. Laut Spiegel versucht die Polizei, drei Live-Zuschauer*innen zu ermitteln. Diese Differenz könnte unterschiedliche Ursachen haben, zum Beispiel könnten Personen das Video erst später oder über zwei Geräte gleichzeitig aufgerufen haben oder die IP-Adressen zweier Zuschauer*innen sind so stark verschleiert und anonymisiert, dass die Ermittlungen gegen diese bereits eingestellt wurden. Bis zur Löschung haben laut »Twitch« 2.200 Nutzer*innen das Video gesehen, bevor es gelöscht wurde. Am Mittwochnachmittag verbreitete sich erst der Link zum »Twitch«-Kanal »spilljuice«, auf den der Attentäter seine Tat übertrug. Und danach Links zu Kopien des Videos über das überwiegend deutschsprachige Imageboard »Kohlchan«, das mehrheitlich englischsprachige »4chan«, über Twitter sowie über den Messenger »Telegram« verbreitet. Auch in dem Alt-Right-Forum »Kiwi Farms« wurden Links zu Downloadmöglichkeiten verbreitet.

Gamification of Terror: Von Christchurch nach Halle
Diese virtuell und global gut vernetzten Attentäter sind ideologisch keine Einzeltäter. Der Rechtsterrorist Brenton Tarrant verlinkte in seiner Anschlagsankündigung von 13:28 Uhr (neuseeländische Ortszeit) auf »8chan« auch sein »Manifest« mit dem Titel »The Great Replacement« (»Der große Austausch«) und nennt Breivik als seinen Ideengeber. Sein fast 17-minütiges Live-Video auf Facebook zeigte das Massaker aus seiner Sicht. Die Perspektive ähnelt der Live-Übertragungen von Ego-Shootern auf YouTube und »Twitch«. Während er kleinen Kindern kurz nach 13:45 Uhr in den Kopf schießt, jubeln seine Anhänger auf Facebook und den Imageboards. Damit beginnt der »Brenton Tarrant Memetic Warfare« auf 8chan mit dem Ziel, möglichst viele Memes, eigentlich lustige Bildmontagen, mit den Bildern des Rechtsterroristen zu verbreiten, um möglichst viele Nachahmungstäter zu motivieren. Bereits am Abend des Anschlags haben sich in der »Steam«-Community 141 User »Brenton Tarrant« genannt. Einen Tag später waren es 248 und am 25. März 2019 waren es 385. Sie trugen Beinamen wie »Kebab Remover« und verbreiteten Fotos, Manifest und Tatvideo des Attentäters. Inzwischen versucht die kommerzielle Gaming-Plattform »Steam« dies zu unterbinden. Auch über das Chat-Programm »Discord« vernetzt sich die Amok- und Rechtsterroristen-Fanszene. So wird Tarrant auf deutschsprachigen Discord-Servern als »Heiliger«, »Saint Brenton« verehrt, sein Tatvideo und sein Manifest werden, ebenso wie über den Messenger Telegram, in dutzende Sprachen übersetzt und verbreitet.

Mit Halle bezogen sich mindestens vier weitere Attentäter seitdem auf Tarrant und kündigten ihre Terroranschläge ebenfalls auf politischen Diskussionsforen von Imageboards an: sowohl der 19-jährige John Earnest, der am 27. April 2019 bei einem Anschlag auf eine Synagoge im kalifornischen Poway (USA) eine Frau tötete und drei weitere Personen verletzte, als auch der 21-jährige Patrick Crusius, der in El Paso in Texas (USA) am 3. August 2019 22 Menschen erschoss. Earnest wollte möglichst viele Jüd*innen töten, während Crusius gezielt Mexikaner*innen in der Grenzstadt erschießen wollte. Beide veröffentlichten jeweils ein Manifest.

Da »8chan« offline war, kündigte der 21-jährige Norweger Philip Manshaus seinen Anschlag vom 10. August 2019 wenige Minuten vorher mit einem Meme aus dem »Brenton Tarrant Memetic Warfare« und einem kurzen Text auf »EndChan« an. Nachdem er seine Stiefschwester, mutmaßlich aus rassistischen Motiven, getötet hatte, versuchte er Besucher der Al-Noor-Moschee in Baerum nahe Oslo zu erschießen. Wie Earnest wollte auch Manshaus seine Tat live streamen. Bei beiden klappte dies aus bisher ungeklärten Gründen nicht. Wie schon bei Tarrant wurden alle drei Täter im Internet dazu angefeuert, den »Highscore« zu knacken, also mehr Menschen als ihre Vorgänger zu töten. Die Tabelle »First Person Shooter (FPS)/ Single Player« der »Encyclopedia Dramatica« wird von Breivik mit Platz 1 angeführt. Tarrant belegt Platz vier. Beide Rechtsterroristen haben ausführliche Einträge, in denen deren Propagandamaterial wie Manifeste, Fotos und Videos weiter verbreitet werden.

Extrem rechte Gaming Szene unter dem Radar
Während es seit Jahren breite Diskussionen darüber gibt, wie mit Verschwörungstheorien, Fake News und Hate Speech auf Plattformen wie Facebook, Twitter und YouTube umzugehen sei, waren die extrem rechte Ansprachen von Gamern und die politische Agitation auf Imageboards bis zum Anschlag in Halle kaum beachtete Randthemen – ein fataler Fehler, der leider viele Menschenleben kostete.

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Gruppen auf Steam. In den Gruppen “Anti-Refugee club”, “social club misfit gang” und “Counterstrike Gamers sind keine AMOKLÄUFER” war auch der Attentäter von München 2016, David Sonboly, aktiv.

Bereits der Attentäter des Anschlags am Olympia Einkaufszentrum (OEZ) München 2016, David Sonboly, wurde über sein soziales Umfeld auch auf der Gaming-Plattform »Steam« und in Chats während des Computerspielens sozialisiert und in seiner Identität geprägt. Am fünften Jahrestag der Anschläge von Utøya und Oslo tötete der 18-jährige AfD-Anhänger David Sonboly in München neun Menschen und verletzte fünf weitere durch Schüsse. Alle neun Todesopfer des Anschlags hatten Migrationshintergrund. Laut dem Politikwissenschaftler Florian Hartleb sind bei Sonboly 4.000 Spielstunden »Counter-Strike« belegt. Während des Computerspiels ist es üblich, miteinander zu sprechen und zu chatten. Der Münchner Attentäter hatte mindestens acht »Steam«-Accounts, mit denen er in antisemitischen und rassistischen Gruppen mit zum Teil mehreren hunderten Mitgliedern aktiv war und in denen Amoktäter und Rechtsterroristen wie Anders Breivik gehuldigt wurden.