Brandgefahr
von Volkmar Wölk
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 209 - Juli | August 2024
#Frankreich
»Die Flut steigt weiter, und unser Sieg hat sich nur verzögert«
Eines wenigstens ist sicher nach dem zweiten Wahlgang in Frankreich: Jordan Bardella, Jungstar des »Rassemblement National« (Nationale Sammlungsbewegung, RN) und Zögling von Marine Le Pen, wird nicht der Nachfolger des neoliberalen Gabriel Attal als Ministerpräsident, obwohl der RN im ersten Wahlgang die mit Abstand stärkste politische Kraft geworden war. Stattdessen wird er jetzt seinen Sitz im Europaparlament einnehmen und dort als Fraktionsvorsitzender der »Patrioten für Europa« um die Gefolgsleute von Viktor Orbán die Politik der extremen Rechten betreiben. »Das Schlimmste vermeiden«, wie die auflagenstarke Wochenzeitschrift »Nouvel Observateur« nach dem ersten Wahlgang titelte, ist also gelungen.

Ist es also bloß das berühmte Pfeifen im Walde, wenn Marine Le Pen unmittelbar nach der Wahl Optimismus verbreitet mit der Aussage »Die Flut steigt weiter, und unser Sieg hat sich nur verzögert«? Ist etwas dran an der Prognose, der Sieg der extremen Rechten habe sich lediglich verzögert? Immerhin ist ihr RN mit 143 Mandaten weit entfernt von der Mehrheit der 577 Sitze in der Nationalversammlung, obwohl die Siegesgewissheit bei Bardella so groß gewesen war, dass er verkündet hatte, er wolle nur dann Ministerpräsident werden, wenn seine Partei die absolute Mehrheit bekomme. Dazu wären 289 Sitze notwendig gewesen.
»Reconquête« (»Wiedereroberung«) atomisiert
Und trotzdem steht zu befürchten, dass Le Pen richtig liegt mit ihrer Voraussage. Die drittstärkste Kraft im Parlament war an den Urnen mit 37,1 Prozent in absoluten Zahlen der Wahlsieger. Der linke Wahlsieger, das Bündnis »Neue Volksfront« (Nouveau Front Populaire, NFP), verfügt über 182 Sitze, hat aber real nur die zweitmeisten Stimmen erreicht. Noch schlimmer traf es das den Präsidenten Macron stützende Parteienbündnis »Ensemble«, das nur noch 168 Sitze erhielt. Trotz des Verlusts von mehreren Dutzend Abgeordneten muss es froh sein, dass die Niederlage nicht noch drastischer ausfiel.
Le Pen kann stolz darauf verweisen, dass ihr RN fast drei Millionen Stimmen mehr erhalten hat als der NFP. Und dass die Zahl der Abgeordneten ihrer Partei in nur sieben Jahren von sechs auf 145 gewachsen ist. In der Tat: »Die Flut steigt weiter.« Und sie steigt schnell.
Le Pen kann zudem darauf verweisen, dass es gelungen ist, eine durchaus relevante Kraft im Lager der extremen Rechten förmlich zu atomisieren. Von »Reconquête«, der Partei des Journalisten Éric Zemmour, die bei der Europawahl noch mehr als fünf Prozent der Stimmen und fünf Abgeordnete geholt hatte, sind nur noch Trümmerteile geblieben. Marion Maréchal, Zugpferd der Partei und Nichte von Le Pen, hat die Partei gemeinsam mit drei der Europaparlamentarier verlassen, gefolgt von allen Vizepräsidenten und einem großen Teil der Partei. »Reconquête« hatte in der Vergangenheit einen wichtigen Anteil daran, gerade besser situierte Konservative für die extreme Rechte zu gewinnen. Weil die Positionen dieser Partei in manchen Bereichen sogar radikaler sind als die des RN, leistete sie zugleich einen Beitrag zur Strategie seiner Selbstverharmlosung.
Und wenn Marine Le Pen in der Stunde der Niederlage eine Erfolgsgeschichte erzählt, dann wird sie nicht vergessen zu erwähnen, dass aus der Brandmauer der Konservativen gegen die extreme Rechte wichtige Stücke herausgeschlagen worden sind. Diese halten nunmehr nur noch 45 Sitze im Parlament, doch hielt sich der Rückgang noch in Grenzen.
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Trotzdem sind die konservativen »Republikaner« (Les Républicains, LR) als Partei nahezu handlungsunfähig. Der Vorstand will den Vorsitzenden ausschließen; dieser wehrt sich juristisch. Jener Parteiführer ohne Partei, Éric Ciotti, wollte seine LR in ein Wahlbündnis mit dem RN führen. Nur eine Minderheit der Kandidierenden der Konservativen folgte ihm dabei. Der größere Rest folgte dem Aufruf zu einer »Republikanischen Front«, die den Verzicht des jeweils schlechter positionierten Kandidaten beinhaltete, wenn jemand vom RN im betreffenden Wahlkreis führte. Auch dieses Abkommen hat dazu beigetragen, dass die Verluste des LR relativ milde ausfielen.
Wenn also Le Pen behauptet, durch die Wahl habe sich der Sieg ihrer Partei lediglich verzögert, dann hat sie dafür gewichtige Argumente. Hinzu kommt, dass die regionale Verteilung der Stimmen für den RN gleichmäßiger ausfällt als in der Vergangenheit. Zu den traditionellen Schwerpunkten im Südosten Frankreichs und im Nordosten sind weitere Regionen hinzugekommen. Der Einbruch der extremen Rechten in frühere Bastionen der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) ist fast vollendet. So hat deren Parteichef Fabien Roussel seinen Wahlkreis dort verloren. Einen Wahlkreis, der seit 1962 ununterbrochen von der PCF gehalten worden war. Deutliche Rückschläge dagegen hat es für den RN im Gürtel um Paris gegeben. Dort dominiert nunmehr der linke »La France insoumise« (»Das nicht unterworfene Frankreich«, LFI) um Jean-Luc Mélenchon.
Kassandra war eine Optimistin
Aber: Es war wider Erwarten gelungen, ein linkes Wahlbündnis ins Leben zu rufen, das gezeigt hat, dass der Aufstieg des RN tatsächlich aufzuhalten ist. Es war gelungen, dieses Bündnis unter dem Vorzeichen der Logik einer »Politik des Bruchs« mit dem Neoliberalismus zu sammeln, ihm sehr schnell ein Programm für die ersten hundert Tage zu geben, das den Weg zu einer sozialen und ökologischen Transformation bereitet. Es war doch gelungen, außerparlamentarische Bewegungen einzubeziehen – ob über die Kandidatur eines prominenten Sprechers der Bürger*innen-Initiativen gegen die Schnellbahnstrecke Lyon-Turin oder die des prominenten Antifa-Aktivisten Raphaël Arnault. Er wurde von den Behörden als Sicherheitsrisiko eingestuft und wird künftig für LFI im Parlament sitzen.
Es war doch gelungen, eine Dynamik zu entwickeln, die zwischen den Wahlgängen mehr als hundert zivilgesellschaftliche Organisationen – von Greenpeace und Oxfam bis zur Liga für Menschenrechte – in einer gemeinsamen antifaschistischen Kundgebung mit mehreren zehntausend Teilnehmenden zusammenführte. Auch alle Gewerkschaften unterstützten den NFP, obwohl sie sich traditionell in Frankreich nicht in Wahlkämpfe einmischen. Auch der Versuch, gerade junge Menschen im und für den Wahlkampf zu aktivieren, war ein Erfolg.
Und doch steht zu erwarten, dass die Zusammenarbeit nicht lange Bestand haben wird. Längst haben die Hinterzimmergespräche begonnen mit dem Ziel, den Erfolg des NFP nachträglich zu konterkarieren. Eine Diffamierungskampagne besonders gegen LFI und Jean-Luc Mélenchon persönlich läuft bereits seit längerer Zeit und wird intensiviert. Während das Linksbündnis – verständlicherweise – den Anspruch erhebt, die Regierung zu stellen, werden im Vorfeld persönliche Eitelkeiten einzelner Beteiligter deutlich. LFI hat sich im Vorfeld der Wahlen gegenüber seinen Partnerparteien in vielen Punkten kompromissbereit gezeigt und in Kauf genommen, dass sie selbst am wenigsten vom Mandatszuwachs der Linksparteien profitiert. Aber die Nachgiebigkeit dürfte nicht beliebig dehnbar sein. Die Probleme dürften vor allem bei den in sich vielfach gespaltenen Sozialdemokraten liegen, die als Sozialistische Partei (PS) firmieren. Es ist schwer vorstellbar, dass eine Politik des Bruchs mit dem Neoliberalismus mit Abgeordneten wie dem ehemaligen Präsidenten François Hollande umzusetzen sein wird, der selbst die Verkörperung des Neoliberalismus ist und dessen Produkt der aktuelle Präsident Macron ist.
»Tatsache ist, dass die sozialistische Partei alle ihre Versprechen und Ideale verraten hat. Es ist klar, dass die als ‹Volksfront› bezeichnete Bastelei noch immer die Last dieses Erbes trägt«, urteilt der Philosoph Jacques Rancière in einem Interview mit dem »Philosophie Magazin«. Und so gibt es fast erste Anzeichen dafür, die Sozialisten könnten das Linksbündnis nur als Mittel zum Zweck mitgetragen haben. Der NFP hat keine eigenständige Mehrheit, könnte nur als Minderheitsregierung handeln. Das gilt zwar auch für das Parteibündnis, das Macron stützt. Dieses jedoch ist viel weniger programmatisch festgelegt, sondern an der Machtausübung ausgerichtet. Und genau diese Möglichkeit der Teilhabe an der Macht dürfte die Sozialdemokraten verführbar für Angebote aus dem bisherigen Regierungslager machen.
Wie könnte ein solches Angebot aussehen? Posten in einer Regierung, die vom konservativen LR über Ensemble bis hin zum PS reicht. Fügt man diese drei Kräfte zusammen und rechnet etliche unabhängige Abgeordnete hinzu, kommt man in den Bereich der absoluten Mehrheit. Die Unterstützung durch die in Frankreich deutlich nach rechts gewanderte Medienlandschaft wäre sicher. Die Sorgen der Unternehmer*innen wegen eines Linkskurses im sozialen Bereich, der ihre Gewinne kräftig schmälern würde, wären gebannt. Der Jubel aus dem Ausland, besonders aus Deutschland, über diese Lösung wäre nicht zu überhören. Bereits jetzt hat es SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert vermieden, seinen französischen Genoss*innen zu ihrem Erfolg zu gratulieren. Vom früheren SPD-Staatsminister Michael Roth kommt vehemente Hetze gegen den LFI und besonders gegen Mélenchon.
Nennt mich also ruhig Kassandra, aber dieser Weg der französischen sozialistischen Partei – aus staatspolitischer Verantwortung, versteht sich – ist absehbar. Die Folgen ebenso. Eine Neuauflage der Volksfront bei kommenden Wahlen wäre damit undenkbar. Und Marine Le Pen würde, zurückgelehnt in ihrem Sessel, kommentieren: Ich habe es doch gleich gesagt. Unser Sieg hat sich nur verzögert.