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Druckzeitpunkt: 18.04.2024, 04:26:49

Aktuelle News

Mythos »Clan-Kriminalität«

von Marianne Esders
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 205 - November | Dezember 2023

Das rechte Narrativ der »Clan-Kriminalität« ist rassistische Stimmungsmache auf dem Rücken Unschuldiger. Nicht nur die AfD und die radikale Rechte nutzen das Thema, um Stimmen am rechten Rand zu gewinnen.

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Wahlkampf der CDU zur Niedersachsenwahl
© Mark Mühlhaus / attenzione

»Staat und Behörden werden der Clan-Kriminalität nicht mehr Herr«, überschrieb die rechtsradikale Zeitschrift »Zuerst!« jüngst reißerisch einen Artikel über Kriminalität in Deutschland. Die Polizei könne angeblich nichts mehr gegen die »verfestigten Parallelwelten« tun. Und das Rechtsaußen-Magazin »Compact« sprang bereits vor Jahren groß auf das Thema auf: «Gangster in Uniform. Wie Clans unsere Polizei unterwandern«, so titelte das Blatt 2017. Auch für die AfD ist der Mythos »Clan-Kriminalität« ein gefundenes Fressen. Seit Jahren bringt sie immer wieder Anträge zu diesem Thema in die Parlamente ein oder stellt Anfragen an die Regierungen. So forderte zum Beispiel die AfD-Bundestagsfraktion im Juni 2019, im März 2021 und im Mai 2022 konsequentes Vorgehen gegen sogenannte »Clan-Familien«, die ähnlich wie Mafia-Familien in Italien den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft gefährden würden. Sie beantragte die Anfertigung eines Bundeslagebildes zur Bekämpfung der »Clan-Kriminalität« durch ethisch abgeschottete, verwandtschaftlich geprägte Subkulturen, die sich zu einem unkontrollierbaren Staat im Staat entwickelt hätten und mit ihrer eigenen Werteordnung und Ablehnung des Rechtsstaates anhaltend Leib, Leben und Eigentum der Bürger gefährden würden. Und auch in den Ländern wird das Thema immer wieder durch die rechtsradikale Partei aufgegriffen: Die AfD-Landtagsfraktion in Niedersachsen forderte beispielsweise im März 2023 ein behördenübergreifendes Lagezentrum zur Bekämpfung der sogenannten Clan-Kriminalität und die Prüfung von Polizeianwärter*innen auf etwaige Bezüge zu Clan-Strukturen.

Mythos ohne Grundlage
Der Mythos der »Clan-Kriminalität« ist ein gefährliches, rechtes Narrativ, das seit Jahren durch Medienberichte und die Aufmerksamkeit der Politik für reißerische Stimmungsmache gegen Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte inszeniert und mit einem statistisch fragwürdigen Lagebild verfestigt wird. Die Ethnisierung von Kriminalität und die damit einhergehende Stigmatisierung von Menschen anhand ihrer Herkunft oder ihres Familiennamens hält sich hartnäckig und wird von Polizei und Politik instrumentalisiert, obgleich sie jedweder empirischen Grundlage entbehrt. Wird sogenannte Clan-Kriminalität zwar offiziell der Organisierten Kriminalität zugeordnet, umfasst sie ein breitgefächertes Sammelsurium an Bagatellverstößen, wie niedrigschwellige Verkehrsdelikte, Parkverstöße, Beleidigungen oder Körperverletzungen. Sie fließen in die Statistik mit ein und bauschen sie künstlich auf, obwohl diese Delikte weit unterhalb des allgemeinen Verständnisses organisierter Kriminalität liegen. Und selbst diese Bagatelldelikte eingerechnet, macht der Anteil registrierter »Clan-Kriminalität« im Bereich der Organisierten Kriminalität nur einen Bruchteil der Fälle und Taten aus. Diese fragwürdige statistische Erfassung ist Grundlage für die in einigen Bundesländern angewandte »Taktik der tausend Nadelstiche«, die in der öffentlichen Wahrnehmung eine Bedrohungslage inszeniert, die nicht der Realität entspricht. Denn diese Taktik orientiert sich nicht an Taten, sondern an vermeintlichen Täter*innen. Soweit möglich, sollen kleinste Vergehen mit Strafen belegt werden, um – so die Logik – Strukturen offenzulegen und Personen zu zermürben. Nach dem Motto »Wer sucht, der findet« werden Menschen allein aufgrund polizeilicher Einschätzungen und Erfahrungswerte unter Verdacht gestellt und in einem ans Absurde grenzenden Maße immer wieder polizeilich behelligt. So berichtete das Nachrichtenmagazin »Monitor« in der Sendung »Clan-Kriminalität: Unschuldige im Visier« im März 2023 von einem Kioskbesitzer, der in den letzten Jahren mehr als 100 mal von schwerbewaffneten Polizeibeamt*innen kontrolliert worden war.

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Stigmatisierung
Solche Razzien laufen nicht zimperlich ab: Die Kontrollierten werden eingeschüchtert, teils an die Wand gestellt und oft für Stunden festgesetzt. Nicht selten tragen die Polizeibeamt*innen Vollmontur oder Sturmhauben. Begleitet werden sie von Mitarbeiter*innen von Zoll, Ordnungs-, Gesundheits-, und Finanzämtern. Wer derartige Razzien schon einmal beobachtet hat, wird zu dem Schluss kommen, dass die Vorgehensweise ganz klar auch auf Abschreckung nach außen zielt. Betroffene Geschäftsinhaber*innen berichten von ausbleibender Kundschaft, fühlen sich misshandelt, diskriminiert und ohnmächtig. Oft findet sich anschließend eine reißerische Berichterstattung in den lokalen Medien, die in der Umgebung den Verdacht erhärtet, es würde zu Recht gegen verdeckte Kriminalität, wie Drogenhandel und Geldwäsche, durchgegriffen. Und das, obwohl die Razzien zumeist bis auf Bagatellen ergebnislos bleiben, was aber nicht berichtet wird oder bei Menschen mit einem vorurteilsbehafteten Bild kaum auf Interesse stößt.

CDU, FDP, SPD, …
Nicht nur von der AfD, sondern auch von demokratischen Parteien werden die Lageberichte der Länder und der sich festigende Mythos Clan-Kriminalität instrumentalisiert. Da mit einer gesteigerten Zahl an Einsätzen auch die Zahl der registrierten Verstöße zunimmt, werden die so gestiegenen Zahlen als polizeilicher Erfolg deklariert und von den Innenministerien öffentlichkeitswirksam verkauft, womit sich Zuspruch für noch mehr Einsätze und härteres Durchgreifen generieren lässt. Rechtspopulistische Stimmungsmache mit dem Thema wird nun auch verstärkt von Parteien »der Mitte« betrieben. Das Präsidium der FDP legte am 16. Januar 2023 einen Beschluss ­»[f]ür einen starken und effektiven Rechtsstaat gegen Clan-Kriminalität« vor. Und im Hessen-Wahlkampf verkündete Innenministerin Nancy Faeser (SPD), sie wolle Mitglieder vermeintlicher »Clans« abschieben, auch wenn diese nicht straffällig geworden seien. Das Narrativ der »Clan-Kriminalität« passt nur zu gut zu Faesers politischem Kurs der Ausgrenzung und Asylrechtsverschärfungen, den sie auf Bundes- und EU-Ebene im Rahmen der GEAS-Vereinbarungen durchsetzte. Ein gutes Wahlergebnis hat Faeser damit in Hessen dennoch nicht erzielt. Selbst der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul (CDU), stellte jüngst fest, rechtspopulistisches »Wahlkampf-Getöse« mit unhaltbaren Versprechen spiele allein der AfD in die Hände.

Doch auch die CDU nutzt das Narrativ der »Clan-Kriminalität« für politische Zwecke und brachte am 26. September 2023 im Bundestag unter Federführung von Friedrich Merz, der sich in Talk-Shows und den sozialen Medien verstärkt mit hetzerischen Äußerungen in Szene setzt, einen Antrag für einen Kurswechsel in der Migrationspolitik und »Null Toleranz bei Clan-Kriminalität« ein. Die AfD warf der Union sogleich vor, sie hätte deren Forderungen kopiert. Ähnlich der AfD behauptete die CDU/CSU in ihrem Antrag, Menschen, die der »Clan-Kriminalität« zuzuordnen seien, missachteten generell elementare Prinzipien des Rechtsstaates und lehnten die Rechts- und Werteordnung grundsätzlich ab. Die Union räumte zwar ein, dass viele dieser Personen die deutsche Staatsangehörigkeit hätten. Jenen »Clan-Kriminellen« mit doppelter Staatsangehörigkeit wolle sie aber die deutsche Staatsangehörigkeit möglichst aberkennen und sie abschieben. Geflüchteten Personen, die sich im Asylverfahren befänden oder bereits anerkannt seien und mit dieser Form der Kriminalität in Zusammenhang gebracht würden, solle der Asylantrag negativ beschieden oder der Schutzstatus aufgehoben werden. Zudem legte die CDU in dem Antrag ihre Vorurteile schonungslos offen, ohne ihren Behauptungen eine Statistik oder wissenschaftliche Studien zugrunde legen zu können. Basierend auf diesen Behauptungen plädierte sie für einen erweiterten Rechtsrahmen, der nicht nur die Entziehung von Vermögen und Besitz, sondern auch der elterlichen Sorge ermöglichen soll. Zudem forderte sie die Bundesregierung zur Beschaffung der »Verfahrensübergreifenden Recherche- und Analyseplattform (VeRA)« auf. Das Programm des umstrittenen US-Herstellers Palantir soll durch die Verknüpfung von Informationen aus unterschiedlichen Datenbanken Ermittlungen erleichtern.

Anpassung an rechte Debatten
Während die Parteien Die Linke und Bündnis 90 / Die Grünen weiterhin ein Ende stigmatisierender Lagebilder und rechtspopulistischer Stimmungsmache fordern, haben die Parteien der »Mitte« sich offenbar beim Thema »Clan-Kriminalität« für Anpassung entschieden. Der von CDU/CSU, FDP und SPD geführte Diskurs lässt den Schluss zu, dass sie die Existenz des Phänomens als Teil der Organisierten Kriminalität als gegeben hingenommen haben, ohne die zweifelhafte empirische Grundlage zu hinterfragen. Durch Anträge, Maßnahmenkataloge, Debatten und Konferenzen wie den »Internationalen Kongress zur Bekämpfung der Clan-Kriminalität« Ende Oktober 2023 im Düsseldorfer Innenministerium wird die Diskursverschiebung nach rechts aktiv betrieben. Mit der daraus resultierenden Normalisierung des Diskurses zur »Clan-Kriminalität« und der unkritischen Übernahme des Narrativs in den Medien müssen Brandmauern nach rechts nicht mehr eingerissen werden. Rechte Debatten werden unverhohlen vom rechten Rand in die Mitte der Gesellschaft verlagert. Mehr Wähler*innenstimmen bringt es den Mitte-Parteien allerdings offenbar nicht. Umfragewerte zeigen eine Zunahme rechter Einstellungen und eine gestiegene Bereitschaft zur Wahl rechter Parteien.

Verbote & Verfahren

Redaktion
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 205 - November | Dezember 2023

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Hammerskins © Mark Mühlhaus / attenzione

Verbot der »Hammerskins« in Deutschland
Nachdem das Innenministerium am 19. September 2023 die »Hammerskins« und ihre Unterstützer-Gruppe »Crew 38« in Deutschland verbietet, werden die Wohnungen von 28 mutmaßlichen Funktionsträger*innen in zehn Bundesländern durchsucht. Im Einsatz waren rund 700 Polizeibeamt*innen. Zur Verbotsbegründung heißt es, die Organisation agiere gegen die verfassungsmäßige Ordnung, ihr Zweck laufe den Strafgesetzen zuwider. In Mecklenburg-Vorpommern beschlagnahmten die Ermittler*innen unter anderem Sprengstoff, mehrere Lang- und Kurzwaffen, scharfe Munition und Übungsmunition. Durchsucht wurde ein Grundstück in Jamel, auf dem der Neonazi Sven Krüger lebt. Er soll zum Führungskreis der »Hammerskins« gehören, die in Deutschland seit 1992 bestanden und bis zum Verbot bundesweit 14 Chapter unterhielten. Von den Maßnahmen nicht betroffen war Nils Budig, dessen Firma im nordthüringischen Artern drei »Hammerskin«-Labels und die Zeitschrift »Frontmagazin« verantwortet. Budig gilt als Vermögensverwalter der Geschäfte der »Hammerskins« im RechtsRock-Bereich. Gegen das Verbot erhoben zwölf Personen aus neun Bundesländern Klage beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig.

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Sven Krüger bei der Hausdurchsuchung im September 2023
© Endstation Rechts

Verbot der »Artgemeinschaft – Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V.«
Nach dem Verbot der »Artgemeinschaft« am 27. September 2023 finden in zwölf Bundesländern Hausdurchsuchungen in 26 Wohnungen von 39 Vereinsmitgliedern und in Räumlichkeiten des Vereins statt, um das Verbot zu vollstrecken. Die Beamt*innen beschlagnahmen entsprechende Literatur, Devotionalien, Bargeld und Gold sowie in Thüringen und Baden-Württemberg Armbrüste, andere Waffen und Munition. Im Einsatz waren rund 700 Polizist*innen der Länder, das Vereinsverbot war seit mehr als einem Jahr vorbereitet worden. Innenministerin Nancy Faeser bezeichnet die »Artgemeinschaft« als eine neonazistische, rassistische, fremden- und demokratiefeindliche Vereinigung. Sie richte sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung und insbesondere aufgrund antisemitischer Inhalte auch gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Die »Artgemeinschaft« wurde 1951 von Wilhelm Kusserow gegründet und 20 Jahre lang von dem langjährigen Neonazi und NPD-Funktionär Jürgen Rieger geleitet. drr-Autorin Andrea Röpke warnt vor dem »StiftungsWerk Zukunft Heimat e.  V.« als Nachfolgestruktur nach dem Verbot der Artgemeinschaft.

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Jürgen Rieger als Redner beim Rudolf-Heß-Marsch 2004 in Wunsiedel © Mark Mühlhaus / attenzione

Scheinauflösung von Neonazi-Gruppen
Nach dem Verbot der »Hammerskins« und der »Artgemeinschaft« gibt der Neonazi Thorsten Heise am selben Tag die Auflösung der Gruppen »Arische Bruderschaft«, »Arische Bruderschaft Supporter«, »Brigade 12« und der »Kameradschaft Northeim« bekannt. Später kursiert die Meldung, auch die »Division 45« habe sich ebenso aufgelöst wie die »Brothers of Honour«, eine Nachfolgestruktur aus den verbotenen Netzwerken »Blood&Honour« und »Combat 18«. Einen Tag später verkündet das Vernetzungsprojekt »Zusammenrücken« seine Selbstauflösung. Offenbar wollen die Neonazis mit diesem Schritt das Vorgehen der Behörden erschweren und ihre Geschäfte und Strukturen vor einem möglichen Verbot schützen, während die Strukturen weiter bestehen.

Erneute Festnahmen bei »Vereinten Patrioten«
Während sich seit Mai 2023 fünf mutmaßliche Mitglieder der Gruppierung »Vereinte Patrioten« vor dem Oberlandesgericht Koblenz wegen der Gründung beziehungsweise Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verantworten müssen, vollstreckt die Polizei am 10. Oktober 2023 fünf weitere Haftbefehle gegen Mitglieder oder Unterstützer*innen der Gruppe. In Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Thüringen, Hessen, Bayern und Baden-Württemberg werden zahlreiche Wohnungen von Verdächtigen aus dem »Reichsbürger«-Milieu durchsucht. Ein 41-Jähriger aus Wolfratshausen wollte der Gruppierung in Kroatien Schusswaffen besorgen, ein 61 Jahre alter Mann aus Hessen hatte seine Garage als Zwischenlager für Waffen angeboten. Ein 49-Jähriger aus dem Kreis Mettmann soll eine regionale Führungsrolle in der Gruppe bei der Umsetzung der geplanten Anschläge auf Energieversorger in Deutschland gespielt haben. Ein 52-jähriger Mann und eine 32 Jahre alte Frau aus Rheinland-Pfalz hatten offenbar bereits Hochspannungsleitungen für Sabotageaktionen ausgekundschaftet sowie Dokumente mit Anleitungen zur Herstellung von Sprengstoff erstellt. Die »Vereinten Patrioten« sollen die Entführung von Gesundheitsminister Karl Lauterbach und einen politischen Umsturz geplant haben, um die Demokratie zu beseitigen und eine neue Verfassung nach dem Vorbild des Deutschen Kaiserreichs 1871 zu erstellen.

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Das Justizwunder Thorsten Heise bei seiner Lieblingsbeschäftigung – Geld machen mit Nazi-Musik. © Mark Mühlhaus / attenzione

Razzien gegen RechtsRock-Netzwerk
Im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens der Generalstaatsanwaltschaft Celle unter anderem wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung führt die Polizei am 26. Oktober 2023 bei zwölf Beschuldigten Hausdurchsuchungen in Niedersachsen, Hamburg, Berlin, Thüringen, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und auf Mallorca durch. Als Kopf der Gruppe nimmt sie den 34-jährigen Lasse Bruno Krüger im Landkreis Lüneburg fest, der seit Anfang des Jahres Geschäftsführer der »Dee-Jay Schallplatten GmbH« mit Sitz in Hamburg ist. Neben ihm sollen weitere drei Neonazis zur »Kerngruppe« einer »bundesweit agierenden Tätergruppierung« gehören. In dem Verfahren geht es um die Produktion sowie den nationalen und internationalen Vertrieb von RechtsRock als »strafrechtlich relevante, volksverhetzende rechtsextreme Musik«. Im Fokus stehen Nachpressungen von Tonträgern aus den 1990er und 2000er Jahren von sehr bekannten RechtsRock-Bands. Den vermutlichen Erlös aus den Plattenverkäufen schätzen die Behörden auf 199.000 Euro. Bei den Durchsuchungen stellen die Ermittler*innen mehrere zehntausend Tonträger, elektronische Kommunikationsmittel und Speichermedien, einen fünfstelligen Bargeldbetrag und schriftliche Unterlagen sicher. Unter den elf übrigen Beschuldigten befindet sich der gebürtige Berliner Jens Hessler, der inzwischen auf Mallorca einen Versandhandel für RechtsRock betreibt. Eine Hausdurchsuchung fand auch bei Thorsten Heise in Thüringen statt.

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Vier eingestellte Verfahren in Norddeutschland
Im Oktober 2023 wird bekannt, dass Strafverfolgungsbehörden in Norddeutschland vier große Verfahren gegen extrem Rechte eingestellt haben, weil sie keine Beweise für kriminelle Organisationen gefunden hätten. Zwei Fälle davon fallen in die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft Lüneburg. Sie ermittelte seit 2021 gegen 14 Beschuldigte, die in Kreisen von Bundeswehrreservisten eine Wehrsportgruppe gegründet haben und sich damit einer bewaffneten Gruppe angeschlossen beziehungsweise diese befehligt haben sollten. Gegen einzelne Beschuldigte wird wegen Verstößen gegen das Waffen- und das Sprengstoffgesetz weiter ermittelt. Im Fokus eines zweiten Verfahrens standen 13 Beschuldigte, die in einem extrem rechten Netzwerk mit Waffen gehandelt haben sollten. Gegen sie ermittelte die Staatsanwaltschaft Lüneburg wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontroll-, Waffen- und Sprengstoffgesetz. Auch hier erhärtete sich der Verdacht für das Vorliegen einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung nicht, gegen einzelne Verdächtige wird jedoch weiter ermittelt. In einem Verfahren gegen acht Neonazis wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung hat die Generalstaatsanwaltschaft Celle die Ermittlungen eingestellt. Die Neonazis waren Teil der »Calenberger Bande« in der Region Hannover und stammten teilweise aus den Reihen der im September 2012 verbotenen neonazistischen Gruppierung »Besseres Hannover«. Gegen einzelne Beschuldigte laufen noch Verfahren wegen anderer Straftaten. Auch die Ermittlungen gegen 16 Neonazis aus dem »Aryan Circle« um den Neonazi Bernd Töter aus Bad Segeberg wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung wurden von der Staatsanwaltschaft Flensburg eingestellt.

 

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Ein rechtsradikaler Präsident?

von Patrick Eser
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 207 - März | April 2024

In Argentinien regiert seit Ende 2023 der Ökonom Javier Milei. Wie rechts ist er?

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© wikimedia (CC BY-SA 3.0) Armenische Botschaft

Im November 2023 wurde in Argentinien in der Stichwahl der Wirtschaftswissenschaftler Javier Milei mit 56 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Er setzte sich gegen Sergio Massa durch, der in der vorherigen Mitte-Links-Regierung Wirtschaftsminister war. Milei hatte sich als exzentrischer Fernsehökonom einen zweifelhaften Ruf erarbeitet und zuvor kein politisches Amt ausgeübt. Er konnte die Wahl als Newcomer und Outsider für sich entscheiden.
Eine Erklärung seines Erfolgs muss vor allem das Scheitern der Vorgängerregierung in der Bekämpfung drängender gesellschaftlicher Probleme berücksichtigen: Korruption, Unsicherheit und Kriminalität, Ungleichheit und Armut, Wachstumsdefizite der Wirtschaft und Einbußen der Reallöhne. Bis in die Mitte der Gesellschaft existierte eine Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit. Das Gefühl fortlaufender Verschlechterung der Lebensbedingungen förderte eine Krisenatmosphäre, in der Wirtschaft, Politik, Staat und die Gesellschaft als vom Niedergang betroffen wahrgenommen wurden. Dies führte dazu, dass sich ein Großteil der Bevölkerung für einen radikalen Wechsel entschieden und Milei gewählt hat. Er versprach, den korrupten Staatsapparat zu kürzen, die Inflation zu bekämpfen und den Dollar als Zahlungsmittel einzuführen. Seine Partei »La libertad avanza« (»Die Freiheit schreitet voran«, LLA ) war 2021 als Wahlbündnis verschiedener Kleinstparteien gegründet worden.

»Rechtsradikal« oder »ultraliberal«?
Das Profil der von Milei repräsentierten neuen Rechten ist ideologisch nicht klar definiert. In ihr finden sich neoliberale, ökonomisch-libertäre, gesellschaftspolitisch ultra-konservative, sozialdarwinistische und meritokratische Züge. Es wird ergänzt um einen verharmlosenden Blick auf den Staatsterrorismus der letzten Militärdiktatur (1976 – 1983) und einen Geschichtsrevisionismus, der sich gegen den mit der noch jungen argentinischen Demokratie verbundenen Konsens der Erinnerungspolitik richtet. In der kritischen argentinischen Öffentlichkeit wird das Phänomen Milei als »rechtsextrem« oder »rechtsradikal« bezeichnet. Milei selbst nennt sich einen »libertären Liberalen« und »Anarchokapitalisten«. In der deutschen und europäischen Öffentlichkeit wird er als »Rechtspopulist«, als »libertärer Populist«, »Ultraliberaler« oder »libertärer Ökonom« präsentiert.

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Aus deutscher Perspektive mag es seltsam erscheinen, dass Milei in Argentinien »rechtsradikal« oder »rechtsextrem« genannt wird. Denn das, was hier damit assoziiert wird – Xenophobie sowie rassistische und antisemitische Gewalt –, trifft auf die von ihm repräsentierte Rechte so nicht zu. Das bedeutet allerdings nicht, dass sich in seinem Projekt nicht auch Personen oder Strömungen finden, die einem solchen Denken und Handeln gegenüber eine Offenheit aufweisen. Richtig ist auf jeden Fall, dass unter argentinischen Heranwachsenden und jungen Erwachsenen unter 35 eine Rechtswende zu beobachten ist. Hier ist eine deutliche Ablehnung des »Kirchnerismus« festzustellen, der fast 20 Jahre lang unter Heranwachsenden hegemonial war und politisch als mitte-links bis linkspopulistisch gilt. Diese Wende birgt zugleich ein Radikalisierungspotenzial, das sich 2022 bei dem erfolglosen Attentatsversuch auf die damalige Vize- und Ex-Präsidentin Christina Fernández de Kircher zeigte. Hinter der dilettantisch ausgeführten Tat standen drei Personen, die eine Affinität zur Kultur der extremen Rechten aufweisen. Den Körper des erfolglosen Schützen zieren Tattoos mit Hassbotschaften sowie eine »Schwarze Sonne« – entsprechend ausgerichtet waren seine Nachrichten in den Social Media.

Rechte Influencer
Das Ausmaß der Rechtswende der Jugend ist noch nicht klar. Influencer*innen und junge rechte Intellektuelle haben aber ein Milieu geschaffen, in dem die Ablehnung der politischen Linken und ihrer Politik – zum Beispiel Feminismus, Ökologie, soziale Gerechtigkeit und die Verurteilung der Militärdiktatur – zentrale Eckpunkte sind. Die Rechte habe inzwischen den rebellischen Gestus der Linken beerbt. Sie sei – so das Image – die politische Kraft, die den Staat und die Politik infrage stellt, wie der Soziologe Pablo Stefanoni in seinem 2021 veröffentlichten Buch mit dem suggestiven Titel »Ist die Rebellion rechts geworden?« schrieb. Er zeigt, wie verschiedene rechte Kreise Begriffe besetzt und uminterpretiert haben sowie neue Slogans gegen die Vorherrschaft des »Kulturmarxismus«, der »Genderideologie« und des »Ökofaschismus« schick werden ließen. Junge rechte Influencer*innen haben sich zu bedeutenden Medienpersönlichkeiten entwickelt, ihre Bücher verkaufen sich in hoher Auflage. Der renommierteste von ihnen, der Politologe Agustín Laje, vermittelt das Image eines »alternativen« Rechtsintellektuellen, der der linken Vorherrschaft den Kampf angesagt hat. Diese Töne finden in den sozialen Medien starken Widerhall – von strikt konservativen Interventionen gegen den Schwangerschaftsabbruch bis zu radikalen Äußerungen über die politische Gewalt der Linken in den 1970er Jahren.

Gegen progressive Ideologien und die »politische Korrektheit« gerichtet, zeigt sich diese Agitation eines diffusen, rechten Teils der Jugend in der digitalen Welt und auf der Straße. Dessen konkrete ideologische Orientierung hat allerdings auch mit der Entwicklung des libertären Projekts zum Regierungsprojekt noch keine klaren Formen angenommen. Die neurechte rebellische Orientierung findet vor allem unter den jüngeren Teilen der Bevölkerung Anklang, die oft mit unsicheren Aussichten in den Beruf starten.

Wirtschaftslibertär
Seinem Selbstverständnis zufolge ist Milei ein »libertärer Liberaler« oder »Anarchokapitalist«. Das libertäre Moment ist in seinem politischen Profil sehr präsent und hat jahrelang seine öffentlichen Auftritte geprägt. In Argentinien wurde er aufgrund seines extravaganten Auftretens als Experte in »Wirtschaftsfragen« in Funk und Fernsehen bekannt. Hier entwickelte er sich zu einer öffentlichen Persönlichkeit, lange bevor er in die Politik ging. In rebellischem Gestus und mit missionarischem Eifer vertrat er minoritäre Meinungen und Thesen. Die Annahme einer moralischen wie argumentativen Überlegenheit ist für den Redestil des Politikers Milei kennzeichnend, vor allem wenn er gegen den ineffizienten Staat polemisierte, dessen Aktivität etwa in der Sozialpolitik er mit Korruption und mafiösen Machenschaften assoziiert.

Die dogmatisch libertäre Ausrichtung, die weder bei anderen neu-rechten und prokapitalistischen Populisten wie Donald Trump oder Jair Bolsonaro zu beobachten ist, kennzeichnet die rechts-konservative und liberale Rebellion Mileis. Sie steht im Zeichen des Kampfs gegen »Political Correctness«, propagiert einen neuen Begriff individueller Freiheitsrechte und artikuliert gegen den vermeintlich progressiven Mainstream in den Medien alternative Sichtweisen und »Wahrheiten«. Der ideologische Kulturkampf gegen die progressive Meinungsvorherrschaft ist ein zentrales Vorhaben Mileis. Seine Obsession, überall »Kollektivismus«, »Kommunismus« und »Sozialismus« wahrzunehmen, wo Nationalstaaten lediglich eine aktive politische Gestaltung vornehmen, kann als Variante der in der »Neuen Rechten« zu beobachtenden Tendenz zu manichäischen Denkmustern, plakativen Erklärungen und affektgeladenen Agitationsformen gelten. Die Orientierung an der US-amerikanischen »alternativen Rechten« und an dem in gesellschaftlichen Fragen konservativen »Paläolibertarismus« von Murray Rothbard ist für Milei zentral. Dieses Spektrum zeichnet sich durch individualistische und antikonformistische Züge aus. Die hierzulande verwendeten Schlagworte des »regressiven Rebellentums« sowie des »libertären Autoritarismus«, die in der Debatte über dieses Milieu in Deutschland verwendet werden, treffen auch Grundzüge von Mileis Programm, Stil und ideologischem Mix.

Rechte Internationale
Anhand der internationalen Allianzen Mileis lassen sich weitere Hinweise auf dessen politische Verortung gewinnen. Victor Orbán, der zur Amtseinführung Mileis gereist war, zeigte sich zufrieden mit dem neuen argentinischen Präsidenten, dank dem der Kampf gegen die internationale Linke effektiver ausgetragen werden könne. Bei der Amtseinführung waren ebenfalls Santiago Abascal von der rechtsradikalen spanischen Partei »Vox« sowie der ehemalige brasilianische Präsident Bolsonaro anwesend. Dass auch Trump in Mileis Sieg ein wichtiges Zeichen sah, verwundert nicht. Aus der deutschen Politik kam Applaus vom neurechten Rainer Zitelmann, der im Wochenmagazin Focus im Januar 2024 die wirtschaftsradikalen und kämpferischen Thesen von Mileis Rede vor dem World Economic Forum zustimmend aufgriff: »Milei hält Kapitalismus für die Lösung vieler Probleme – und er hat Recht.« Seine Kampfansage gegen Sozialismus und Kollektivismus beim Auftritt in Davos fand bis weit ins liberale Lager Zustimmung. Milei bewegt sich seit Jahren im Umfeld internationaler Netzwerke und liberaler sowie libertärer Thinktanks und ist aufgrund seines Berufs in der Wirtschaft sowie seiner Aktivität in zivilgesellschaftlichen Vereinigungen mit bedeutenden Personen aus der internationalen Kapitalistenklasse gut vernetzt. Milei erfuhr von wichtigen Personen des internationalen, digitalen Unternehmertums Unterstützung, so vom CEO des in Lateinamerika dominanten Onlinehandelsplatzes Mercado libre, Marcos Galperin, sowie vom Chef von Twitter/X, Elon Musk.


Frage, ob die in Argentinien verwendeten Begriffe »rechtsextrem« und »rechtsradikal« für Milei angemessen sind, bedarf einer tiefergehenden Analyse. Doch es steht fest, dass Milei seine ökonomisch ausgerichteten, liberal-libertären Anschauungen mit neurechten Symbolen, Praktiken und Slogans verbindet. Mit Milei erfährt die Rechte Argentiniens und auch Lateinamerikas eine Wiederbelebung. Neben Bolsonaro oder dem Präsidenten von El Salvador, Nayid Bukele, hat die »Neue Rechte« Lateinamerikas mit Milei ein weiteres neuartiges Gesicht erhalten.

Intro Antifa-Magazin 207 – März | April 2024

Redaktion #AntifaMagazin
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 207 - März | April 2024

Liebe Leser*innen,

Enough is enough. Genug ist genug. In den vergangenen Wochen sind bundesweit über vier Millionen Menschen in Groß- und Kleinstädten gegen die AfD auf die Straße gegangen. Die Botschaft: Es reicht! Die selbsternannte Alternative darf nicht weiter als rechtspopulistisch verharmlost und ihr Programm muss endlich ernst genommen werden. Den Wähler*innen sollte auch nicht weiter mit viel Verständnis entgegengekommen, sondern mit klaren Einordnungen entgegengetreten werden. Wer die extreme Rechte wählt, wählt die extreme Rechte.

Das Bekanntwerden des Treffens in Potsdam, wo sich AfD-Funktionsträger*innen, CDU-Mitglieder und Unternehmer*innen mit »dem« Kader der »Identitären Bewegung«, Martin Sellner, über »Remigration« austauschten, erschütterte Menschen der unterschiedlichsten Milieus. Sie drängten auf die Straße, weil für sie sichtbar wurde, welche Konsequenzen die Erfolge der AfD für diese Republik haben werden. Sie befürchten, dass die Landtagswahlen im Osten gravierende Folgen haben werden. Vor allem, wenn die CDU die Regierungsmacht halten oder übernehmen will, wie auch immer unterstützt durch die AfD – sei es nur durch Tolerierung ohne vermeintliche Absprache. Die brüchige Brandmauer könnte gänzlich niedergerissen werden. Nach 91 Jahren könnten erneut extrem Rechte in Deutschland direkt im Parlament die Politik bestimmen.

Viele Demonstrierende sehen die Demokratie deshalb massiv gefährdet. Ihnen, uns, wird gewahr, dass diese liberale Demokratie – trotz aller sozial-selektierender Verwerfungen und ausgrenzender Machtmechanismen – gegen reaktionäre Widerstände erst immer erkämpft und nun verteidigt werden muss. Nichts haben die jeweils Herrschenden ohne anhaltenden Kampf zugelassen, Macht und Einfluss freiwillig abgegeben. Kein Tarif- und kein Selbstbestimmungsrecht. Die Freiheiten dieser Republik wurden erstritten und errungen. Ein Kampf für Emanzipation, Liberalität und Diversität, für den Menschen verfolgt, gefoltert, misshandelt, vergewaltigt und ermordet wurden und noch immer werden. Die Geschichtsvergessenheit dieser Kämpfe offenbart auch Machtverhältnisse. Dass sie oft zum Tanzen gebracht wurden, beweist das stets Veränderbare.

Die heute mehr denn je gebotenen sozial-ökonomischen Veränderungen will nicht nur die AfD verhindern. Wenn also Personen oder Parteien der AfD entgegentreten, verdienen sie Unterstützung und keinen Gegenwind. Ein Minimalkonsens, bei dem SPD und Grüne, CDU und FDP auch Kritik an ihrer Politik ertragen sollten. Und Achtung, Trigger-Warnung: Ein noch so linker Redebeitrag würde leider nicht den nötigen Druck erzeugen, ein konservativer Beitrag würde wahrscheinlich mehr Wucht haben. Die Rede von Armin Laschet, Ex-CDU-Ministerpräsident aus Nordrhein-Westfallen, in Aachen hallt nach: »Man kann sagen: Na ja, so schlimm wird das nicht werden.«  Aber das hätten die Menschen 1932 auch gedacht, nach zwei Monaten war die Republik ausgehöhlt. Antidemokraten dürften »keine staatlichen Funktionen« bekommen, betonte der CDU-Politiker und: »Sie werden sie nutzen, um die Demokratie zu beseitigen.« Der massive zivilgesellschaftliche Druck wirkt auf die politisch Zuständigen – und das ist gut so.

Eure Redaktion

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Warme Worte, keine Taten

von Carsten Neumann
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 206 - Januar | Februar 2024

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Die Parole »Nie wieder ist jetzt« wird sowohl seit dem Überfall der Terror­organisation Hamas auf Israel und dem lauter werdenden Antisemitismus als auch als Reaktion auf die völkischen Deportationsphantasien der AfD gezeigt. @ Roland Geisheimer / attenzione

1918 schrieb die Enkelin eines Rabbiners, Rosa Luxemburg, im Militärgefängnis in Breslau: »O Adonai, Adonai! Lass uns nie, solange wir leben, dem heiligen Gebote untreu werden: dem Kampfe wider Unrecht … Laß uns nie die Worte sprechen: retten wir uns selber und überlassen wir die Schwachen ihrem Schicksal.« Wenige Monate später wurde sie von Freikorps-Soldateska auf offener Straße zusammengeschlagen und erschossen und ihr Körper in den Landwehrkanal geworfen. Die deutsche Justiz fand trotz alledem damals keine Schuldigen. Der Sozialdemokrat Gustav Noske verhängte schnell eine Nachrichtensperre. Auch damit wurde von der deutschen Politik und Justiz das fürchterlichste Kapitel der Geschichte der Menschheit vorbereitet.

In Bremen regierte seit der Shoah ohne Unterbrechung die SPD, sie hat seit 2007 auch das Innenressort wieder in ihrer Hand. Ihre Dominanz rechtfertigt sie auch mit den Lehren aus der deutschen Geschichte. »Tu was! Zeig Zivilcourage!« lautet der Name der in Bremen gegründeten Initiative. Mit im Boot sitzen neben der Polizei auch das LidiceHaus, der Flughafen, die bremische evangelische Kirche sowie die Bremer Straßenbahn AG. Eine dieser vielen Kampagnen, die zum Mitmachen auffordern. Zu etwas, das der Duden wie folgt beschreibt: »Mut, den jemand beweist, indem er humane und demokratische Werte (z. B. Menschenwürde, Gerechtigkeit) ohne Rücksicht auf eventuelle Folgen in der Öffentlichkeit, gegenüber Obrigkeiten, Vorgesetzten u. a. vertritt.« Auch die Kneipe »Der Druide« im multikulturellen Hafenarbeiterstadtteil Walle ist einer der Orte, die zu eben dieser Courage aufrufen. In dem Irish Pub hängt hinter dem Tresen ein Plakat von Werder Bremen, auf dem steht »Geh‘ mir wech mit Rassismus«. Der Kneipengründer und Vorsitzende des Vereins, Udo Hollmann, der die Gaststätte seit mehr als zehn Jahren betreibt, sagte 2020 in einem Interview des Weserkuriers, seine Kneipe solle ein Ort für alle sein. Und wird dann konkret: »Und für Faschisten haben wir hier keinen Platz.«

Die Tat
So weit so gut. Was in Worten und mit großer Einigkeit in der Stadtgesellschaft angepriesen wird, kam nur zwei Jahre später nicht durch den Praxistest. Im August 2023 sitzt Roland, ein sechzigjähriger Handwerker, vor seinem Stammlokal und genießt den Feierabend. Er bekommt mit, wie zwei junge Männer um die dreißig in die Gaststätte gehen wollen. Sie fallen auf. Sie pöbeln. Es fallen Worte wie »Judensau«, »Scheißjuden« und weitere antisemitische Schmähungen. Auch andere Gäste vor und in der Kneipe bekommen die Worte mit. Spätestens als Roland den beiden den Zutritt zur Kneipe versperrt, werden die meisten Anwesenden auf die Situation aufmerksam. Doch niemand unterstützt ihn. Ihm wird noch von einigen Anwesenden gesagt, er solle da jetzt nicht so ein Ding von machen. Einer der beiden Pöbler verlässt daraufhin die Kneipe, doch der zweite, Ivo S., greift sich nach einem kurzen Gerangel einen Bierkrug und schlägt diesen gegen den Kopf des Handwerkers. Dieser erleidet durch den Angriff einen Schlaganfall. Angeschlagen versucht Roland mit einer Handsäge aus seinem Lastenrad, sich den Angreifer vom Leib zu halten. Er verliert das Bewusstsein und wird, ohnmächtig auf dem Boden liegend, von Ivo S. noch weiter geschlagen und getreten.
Krankenwagen und Polizei erscheinen vor dem »Druiden«. Der Verletzte kommt ins Krankenhaus, wo er für mehr als eine Woche bleibt. Er erlangt erst nach mehreren Stunden wieder sein Bewusstsein, hat Erinnerungslücken. Zeug*innen werden von der Polizei vernommen.

Juristische Aufarbeitung und Desinteresse
Ende 2023 begann nun der Prozess vor dem Amtsgericht. Die Staatsanwältin kann keinen Antisemitismus in diesem Fall benennen. Deswegen nimmt sich Roland einen Anwalt, um als Nebenkläger auftreten zu können. Er möchte von dem Angeklagten Schadensersatz, da er den Rest seines Lebens täglich fünf verschiedene Medikamente nehmen muss. Und er will, dass die politische Dimension des Verfahrens durch eine Verurteilung des Täters wegen Volksverhetzung erfolgt. Die Erfolgsaussichten dafür sind nach Meinung seines Rechtsanwalts Max Hammer jedoch gering. Der entsprechende Paragraf ist zwar vor wenigen Jahren erst geändert worden, doch in seiner neuen Form nicht praktisch – es gibt kaum Verurteilungen bundesweit, da er von den Staatsanwaltschaften und Gerichten kaum angewendet wird.

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Während des ersten Verhandlungstags entschuldigt sich Ivo S. bei seinem Opfer, doch antisemitische Schmähungen will er nicht ausgesprochen haben und einen Grund für die Gewalt gegen den doppelt so alten Roland nennt er nicht. Alle Zeug*innen versuchen, sich selbst in einem möglichst guten Licht dastehen zu lassen. Doch relevante Widersprüche zu dem oben beschriebenen Ablauf gibt es keine. Als es zum zweiten Verhandlungstag kommt, hält es Ivo S. nicht einmal mehr für nötig, vor Gericht zu erscheinen. Da er anwaltlich nicht vertreten wird, bleiben die Plätze rechts vom Gericht komplett leer. Als der Anwalt Max Hammer dann einen Adhäsionsantrag stellt, um den Schadenersatz mit zu verhandeln, vertagt das Gericht den Prozess. Ivo S. bekommt jetzt einen Pflichtverteidiger beigeordnet und der Prozess wird frühestens im April fortgesetzt.

Nur die taz veröffentlichte nach dem ersten Prozesstag einen kurzen Artikel, der Rest der Stadt sieht weg. Zwar steht auf der Website der Hansestadt: »Zudem erachten wir es als dringend notwendig Zivilcourage im Alltag der Menschen zu verankern, um das soziale Klima in der Gesellschaft zu stärken und um physische und psychische Gewalt nicht zuzulassen.«
Doch weder die Beratungsstelle des Landes für Opfer rechter Gewalt im LidiceHaus »Soliport«, noch Polizei, Staatsanwaltschaft, Politik oder sonstige Institutionen legen irgendeine Art wahrnehmbares Engagement an den Tag. Auch der Verein der Gaststätte und der Wirt unterstützen den Schwerverletzten nicht. Ob das Gericht sich dieser mutlosen Herde anschließen wird, ist derzeit noch offen. Wer sich öffentlich gegen Rassismus, Faschismus und Antisemitismus positioniert, sollte auch entsprechend handeln – Heuchelei und Lippenbekenntnisse helfen niemandem: Ganz im Gegenteil, sie erzeugen eine falsche Sicherheit für potenzielle Opfer. Solidarität ist kein Wort, sondern eine Tat.

Nur Roland ist aufgestanden gegen die beiden Hetzer. Er hat die Aufforderung von Rosa Luxemburg umgesetzt. Das Verfahren und der Umgang mit diesem Fall haben mit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober auf Israel eine noch größere Bedeutung erlangt. Jetzt zeigt sich, ob Politik, Justiz und Zivilgesellschaft Antisemitismus nur dann wahrnehmen und bekämpfen, wenn es ihrem Rassismus gegen arabische und muslimische Menschen hilft. Roland hat dafür einen zu hohen Preis bezahlt. Ihm wird und wurde jede Hilfe vorenthalten. Trotzdem sagt er im Gespräch auf die Frage, ob er noch einmal aufstehen und den beiden den Zutritt zur Gaststätte verweigern würde – ohne auch nur einen Moment zu zögern: »Sicher! Das muss man tun.«

Gute Chancen in Karlsruhe und Straßburg

von Björn Elberling
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 205 - November | Dezember 2023

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In der Diskussion um eine Kampagne für ein AfD-Verbot wird mitunter als Gegenargument eingeworfen, ein Verbotsantrag würde beim Bundesverfassungsgericht scheitern und/oder ein Verbot würde durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgehoben werden. Mitunter wird dabei auf »schlechte Erfahrungen« aus den beiden NPD-Verbotsverfahren verwiesen.
Nun lässt sich durchaus fragen, ob es ein gutes Argument gegen eine Verbotskampagne wäre, dass ein Verbotsantrag eventuell scheitern könnte – oder ob nicht die Gefahr eines Nichtstuns viel größer ist, wenn viele Menschen angesichts einer befürchteten AfD-Regierungsbeteiligung auf den sprichwörtlich gepackten Koffern sitzen. Aber es spricht juristisch ohnehin sehr wenig gegen den Erfolg eines Verbotsantrags.

Karlsruhe I: keine schlechten Vorzeichen
So spricht zunächst nichts dafür, dass ein Verbotsantrag vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern würde. Es ist zwar richtig, dass es nach den zwei Parteiverboten gegen die nazistische »Sozialistische Reichspartei« 1952 und gegen die »Kommunistische Partei Deutschlands« 1956 keine weiteren erfolgreichen Verbotsanträge mehr gab, dass sogar insgesamt vier Verbotsanträge gegen neonazistische Parteien nicht zum Verbot führten. Aber keines dieser Verfahren spricht dagegen, dass ein AfD-Verbotsantrag Erfolg haben könnte.

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Den Verbotsantrag gegen die »Freiheitliche Arbeiterpartei« (FAP) wies das Bundesverfassungsgericht 1994 als unzulässig zurück, denn es sah sich schlicht nicht als zuständig an: die FAP sei mangels ausreichender Größe und Organisationsstruktur und angesichts erfolgloser und wohl eher pro forma erfolgter Teilnahme an Wahlen nicht in der Lage, eine parlamentarische Vertretung ihrer Anhänger*innen ernsthaft anzustreben. Sie sei daher keine Partei im Sinne des Grundgesetzes, sondern ein Verein. Für Vereinsverbote aber ist das Innenministerium zuständig, und dieses schritt dann auch 1995 zur Tat und verbot den Verein FAP. Ähnlich im Fall der Hamburger »Nationalen Liste« – kein Parteiverbot in Karlsruhe, dafür Vereinsverbot durch das Innenministerium. Diese Verbote läuteten den Anfang vom Ende neonazistischer Organisationen in »Parteien« ein, die Szene organisierte sich im Folgenden vor allem in für Verbote schwerer greifbaren »Freien Kameradschaften«. Zu den Erfolgsaussichten eines Verbotsantrags gegen die erfolgreiche Wahlpartei AfD sagen beide Entscheidungen nichts aus.
Und auch die beiden NPD-Verbotsverfahren, die nicht zum Verbot der Partei führten, sind kein Grund, ein Scheitern eines AfD-Verbotsantrags zu befürchten. Das erste Verbotsverfahren endete bekanntlich 2003 mit einer Verfahrenseinstellung durch das Bundesverfassungsgericht. Zahlreiche Parteifunktionäre bis in die Bundesführung waren zum Teil über Jahrzehnte als V-Leute geführt worden, einige noch während des laufenden Verbotsverfahrens. Einige der im Verbotsantrag zitierten Äußerungen der Partei stammten von diesen Personen. Und zu allem Überfluss war im Verbotsantrag diese fortbestehende Verbindung zwischen führenden Vertretern der zu verbietenden Partei und dem sie verbieten wollenden Staat nicht einmal offengelegt worden. Hieraus, so drei der Karlsruher Richter*innen, folge ein dauerhaftes Verfahrenshindernis – und da ein Verbotsantrag nur mit einer zweidrittel Mehrheit erfolgreich sein kann, reichte diese Sperrminorität aus, das Verfahren ganz zu beerdigen.
Eine vergleichbare Situation ist bei der AfD nicht zu befürchten. Denn zum einen wird die ja ohnehin erst seit kurzer Zeit von den Verfassungsschutzbehörden überwacht. Und zum anderen haben die Behörden ihre Lehren aus dem erfolglosen ersten NPD-Verbotsantrag gezogen, wie auch der erfolgreiche zweite Verbotsantrag aus 2013 zeigt.

Karlsruhe II: Maßstäbe gesetzt
Und dieser zweite Verbotsantrag sollte durchaus als Erfolg und als positives Vorzeichen für ein AfD-Verbot verbucht werden. Das Gericht lehnte es diesmal ab, das Verfahren wegen der V-Leute-Problematik einzustellen. V-Leute auf Führungsebene waren rechtzeitig vor dem Verfahren »abgeschaltet« worden; die Materialien, auf die der Verbotsantrag gestützt war, stammten nicht von V-Leuten; die fortbestehende Überwachung der Partei durch den Inlandsgeheimdienst diente nachweislich nicht der Ausspähung der Verfahrensstrategie im Verbotsverfahren. Den Fehler aus dem ersten Verbotsverfahren wiederholten die Landesregierungen, die über den Bundesrat den Verbotsantrag stellten also nicht. In der Sache entschied das Bundesverfassungsgericht zwar, die NPD nicht zu verbieten – dies aber nur deswegen, weil es sie letztlich als zu unbedeutend einstufte: Es erscheine angesichts der Schwäche der Partei nicht einmal als möglich, dass ihr verfassungsfeindliches Handeln erfolgreich sein könne, der NPD fehle es an »Potentialität«. Auch dies ist eine Feststellung, die man für die AfD angesichts ihrer Wahlerfolge nicht nur in den ostdeutschen Bundesländern – leider – nicht treffen kann.

Gleichzeitig ließ das Gericht keinen Zweifel daran, dass die NPD inhaltlich als verfassungswidrig einzustufen ist – und dass sie deswegen aus der staatlichen Parteienfinanzierung ausgeschlossen werden kann. Vor allem setzte es Maßstäbe für die Verfassungswidrigkeit von Parteien, die gerade auch im Falle der AfD angewendet werden können. Denn es begründet die Verfassungswidrigkeit der NPD nicht mit der Lyrik der freiheitlich demokratischen Grundordnung (fdGO), sondern ganz zentral damit, dass die NPD-Politik völkisch-rassistisch und »auf die Ausgrenzung, Verächtlichmachung und weitgehende Rechtlosstellung von Ausländern, Migranten, Muslimen, Juden und weiteren gesellschaftlichen Gruppen gerichtet« ist.

Der Maßstab für ein Parteiverbot ist also maßgeblich auf den Schutz zentraler Menschenrechte von als »nichtdeutsch« eingestuften Personen, von Jüd*innen, von Menschen mit Behinderung, von ­LGBTQI und von anderen gefährdeten Gruppen ausgerichtet. Zu dieser menschenrechtlichen Fundierung passt es, dass die erste umfassende Überprüfung der AfD-Politik hieran vom »Deutschen Institut für Menschenrechte« stammt. Die im Frühsommer 2023 vorgelegte Broschüre »Warum die AfD verboten werden könnte« legt im Einzelnen dar, dass »die national-völkische Programmatik« der AfD derjenigen der NPD in keiner Weise nachsteht und dass daher auch die AfD die materiellen Maßstäbe des NPD-Urteils erfüllt. Jüngste Entwicklungen, wie etwa die Listenaufstellung für die Europawahl, bei der sich nahezu durchweg Kandidat*innen mit »Flügel«-Positionen durchsetzten, oder die im September 2023 im Bundestag kalt lächelnd vorgetragene Ankündigung »millionenfacher Remigration« durch den AfD-Abgeordneten Matthias Helferich bestätigen diese Einschätzung weiter.
Ein Verbotsantrag, der sich die Mühe macht, dies nachzuzeichnen und die Verfassungsfeindlichkeit der AfD anhand von Programm und Aussagen führender Politiker*innen aufzuzeigen, hat also hervorragende Aussichten auf Erfolg beim Bundesverfassungsgericht.

Straßburg: keine Gefahr für ein AfD-Verbot
Und ein Verbotsurteil, das auf diesem strengen und zugleich menschenrechtlich fundierten Maßstab beruht, wird sicher nicht am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte scheitern. Denn wie auch im NPD-Urteil ausführlich dargestellt, lässt der Menschenrechtsgerichtshof den Staaten deutlich mehr Spielräume beim Verbot von Parteien als es das Bundesverfassungsgericht tut. Dieser fordert , dass ein Parteiverbot einen zulässigen Zweck verfolge, etwa den Schutz der Menschenrechte von bestimmten Personengruppen – genau die Rechtspositionen also, die auch ein AfD-Verbot wegen der völkisch-rassistischen Politik dieser Partei schützen würde. Und er fordert weiter ein »dringendes soziales Bedürfnis« für ein Verbot, das insbesondere dann gegeben ist, wenn die Ziele der Partei mit den fundamentalen Grundsätzen der Demokratie und des Menschenrechtsschutzes nicht vereinbar sind. Hinsichtlich der Stärke der Partei und damit des richtigen Zeitpunkts für ein Verbot räumt der Gerichtshof den Staaten einen erheblichen Ermessensspielraum ein – sie müssen nicht warten, dürfen zum Schutz ihrer Bevölkerung nicht warten, bis eine Partei die Macht ergriffen hat und konkrete Schritte hin zu Maßnahmen unternimmt, die grundlegende Menschenrechte verletzen. Sie müssen auch nicht warten, bis eine Machtergreifung kurz bevorsteht. Auch hier dürfte der Maßstab des Bundesverfassungsgerichts zur »Potentialität« von Parteien mindestens so streng sein wie der des Gerichtshofs.

Schließlich und endlich betont der Gerichtshof in seinen Urteilen immer wieder, dass bei der Überprüfung eines Parteiverbots auch die historischen Erfahrungen und Entwicklungen in dem betreffenden Konventionsstaat zu berücksichtigen sind. Gerade diese Äußerung lässt es als kaum vorstellbar erscheinen, dass der Gerichtshof dann das Verbot einer Partei kippt, die gerade in Deutschland wieder Gesetze im Interesse einer völkisch-rassistisch definierten Volksgemeinschaft und unter Ausgrenzung und Entrechtung aller anderen erlassen und durchsetzen will.

Dr. Björn Elberling ist Anwalt für Strafrecht, Presse- und Urheberrecht.

Urteil im Mord an Blanka Zmigrod – Der »Lasermann«-Prozess in Frankfurt

von Cihan Balikci & Paul Werfel
Magazin »der rechte rand« Ausgabe 171 - März / April 2018

#Naziterror

Im Dezember 2017 begann in Frankfurt am Main der Prozess gegen John Ausonius, den sogenannten »Lasermann«. Er schoss Anfang der 1990er Jahre aus rassistischen Motiven in Schweden auf zehn Menschen und tötete den iranischen Migranten Jimmy Ranjbar. In Frankfurt wurde er nun schuldig gesprochen, 1992 auch die Jüdin Blanka Zmigrod erschossen zu haben. Sein Vorgehen war eine mögliche Blaupause für den NSU. Fast genau 26 Jahre hat es bis zu einem Urteil im Mordfall Blanka Zmigrod gedauert. Am 23. Februar 1992 wurde die 68-Jährige im Frankfurter Kettenhofweg erschossen, das Urteil am 21. Februar 2018 gesprochen. Die meiste Zeit zwischen diesen beiden Ereignissen saß der nun erneut verurteilte John Ausonius in Schweden im Gefängnis. Er war dort 1994 für eine Serie von Banküberfällen und rassistischen Mordanschlägen zu lebenslanger Haft verurteilt worden.

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© Initiative Blanka Zmigrod

Banküberfälle und Morde in Schweden
Für Ausonius war dies nicht der erste Gefängnisaufenthalt. Schon Ende der 1980er Jahre verbüßte er eine mehrmonatige Haftstrafe wegen Betrugs- und Körperverletzungsdelikten. Nach seiner Entlassung folgten weitere Kredit- und Scheck-Betrüge, bis er schließlich 1990 seinen ersten Bankraub beging.
Im Frankfurter Prozess verlas Ausonius zu Beginn der Verhandlung eine Erklärung zu seinen Taten in Schweden. Demnach habe er 1991 angefangen, Mordanschläge auf MigrantInnen zu verüben, um die Polizei von den Ermittlungen zu seiner Bankraubserie abzulenken. Die Auswahl seiner Opfer begründete er damit, dass er – der politischen Stimmung in Schweden entsprechend – Geflüchtete und Zuwanderer für seine persönlichen Probleme verantwortlich machte. Er hoffte auf eine abschreckende Wirkung seiner Taten und sah sie als »Dienst an der Gesellschaft«.
In Schweden gab es Anfang der 1990er Jahre eine Welle rassistischer Stimmungsmache insbesondere gegen Geflüchtete. 1991 zog die neu gegründete »Ny Demokrati« mit einem rassistischen Programm in den schwedischen Reichstag ein. Diese Entwicklungen bestärkten Ausonius in seiner Auffassung, MigrantInnen hätten Schuld an gesellschaftlichen Problemen. Er habe durch seine Mordanschläge einen Teil dazu beitragen können, dass weniger MigrantInnen nach Schweden kommen.
Da Ausonius zu Beginn seiner rassistischen Anschlagsserie ein Gewehr mit Laser-Zielvorrichtung benutzte, gab ihm die Presse den Namen »Lasermannen«. Nachdem er vier Menschen schwer verletzt und den iranischen Studierenden Jimmy Ranjbar am 8. November 1991 getötet hatte, begab er sich auf mehrere Reisen und verbrachte unter anderem drei Wochen in Südafrika, wo zu dieser Zeit noch das Apartheidsregime herrschte.
Als er im Januar 1992 nach Schweden zurückkehrte, schoss er binnen weniger Tage auf sechs weitere Personen, die nur knapp überlebten. Der dadurch – und durch weitere Banküberfälle – ausgelöste Fahndungsdruck veranlasste Ausonius dazu, Anfang Februar 1992 nach Deutschland zu flüchten. In Schweden sorgten die anhaltende rassistische Stimmungsmache und insbesondere auch die von Ausonius verübten Anschläge dafür, dass im Februar 1992 in einem landesweiten Streik gegen Rassismus unter dem Motto »Ohne Einwanderer steht Schweden still« die Arbeit für eine Stunde niedergelegt wurde.

Über Deutschland zurück nach Südafrika
In Deutschland versuchte Ausonius unter anderem, das erbeutete Geld einzutauschen und sich einen Pass für die Flucht nach Südafrika zu besorgen. Dazu sprach er nach eigenen Angaben vor dem Dresdner Arbeitsamt Tilo U. an und zahlte ihm insgesamt 3.000 DM dafür, dass dieser ihm seinen Pass überlassen und ihn erst Monate später als verloren melden sollte. Mit diesem Pass flüchtete Ausonius wenig später nach Südafrika. Von dort aus sendete er mehrere Postkarten an Tilo U., in denen er ihn unter anderem bat, ihm auch einen Führerschein zuzusenden. Als Ausonius nach einigen Monaten nach Schweden zurückkehrte, konnte er kurz danach festgenommen werden.

Mord an Blanka Zmigrod
Während seiner Flucht in Deutschland kam Ausonius am 21. Februar 1992 in das Frankfurter Mövenpick-Restaurant und beschuldigte die dort arbeitende Garderobière Blanka Zmigrod, seinen Taschencomputer aus seiner Manteltasche geklaut zu haben. Auf dem Gerät befanden sich vermutlich Notizen zu den Konten, auf denen er das geraubte Geld verwahrte sowie weitere Notizen zu seinen Banküberfällen und Mordanschlägen.
Nachdem Zmigrods Vorgesetzte sich weigerte, die Handtasche ihrer Angestellten – in der Ausonius seinen Taschencomputer vermutete – zu durchsuchen, beschuldigte er die Frauen, gemeinsam am vermeintlichen Diebstahl beteiligt zu sein. Sie seien beide aus Osteuropa und bräuchten deswegen Geld. »Deutsche würden so etwas niemals tun!«, ließ er sie wissen. Bevor er ging, wandte er sich nochmal an Blanka Zmigrod und sagte: »Wir sehen uns noch!«.
Als Zmigrod gegen 00:15 Uhr am 23. Februar 1992 von ihrer Arbeitsstelle zu ihrer Wohnung im Kettenhofweg lief, näherte sich von hinten ein Fahrradfahrer und schoss ihr in den Kopf. Anschließend flüchtete er mit ihrer Handtasche.
Blanka Zmigrod wurde 1924 im polnischen Chorzów (damals Königshütte) geboren. Ab 1940 wurde sie von den Deutschen in mehrere Zwangsarbeitslager verschleppt und überlebte im Anschluss die Konzentrationslager Auschwitz, Bergen-Belsen, Flossenbürg und Mauthausen. Danach emigrierte sie zunächst nach Israel und kam 1960 nach Frankfurt.
Ausonius fuhr im Laufe des Tattages nachweislich über Köln nach Amsterdam, wo er sich am Flughafen einen neuen Taschencomputer kaufte und im Anschluss unter falschem Namen nach Südafrika flog.


Blaupause für rechten Terror?
Mit der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios 2011 rückte auch der 20 Jahre alte Mordfall wieder ins Licht der Öffentlichkeit. Im Zuge der Beschäftigung mit den NSU-Morden fielen dabei Parallelen zu Ausonius’ Vorgehensweise auf: Sowohl der NSU als auch Ausonius hatten mehrheitlich männliche Migranten zum Ziel, nutzten Banküberfälle zur Finanzierung, lebten im Untergrund unter falscher Identität und flüchteten mit Fahrrädern von den Tatorten.
Im »Field Manual«, einem Handbuch der rechtsterroristischen »Blood&Honour«-Bewegung, wurden Ausonius’ Taten als Beispiel für den »führerlosen Widerstand« genannt. Das Buch kursierte seit 1999/2000 in der rechten Szene, im September 2000 begann die Mordserie des NSU. Das Bundesamt für Verfassungsschutz traf 2012 die Einschätzung, dass die NSU-Mitglieder aufgrund der Erwähnung im »Field Manual« und Kontakten zwischen ostdeutscher und skandinavischer »Blood&Honour«-Bewegung von den Taten gewusst und seine Vorgehensweise kopiert haben könnten.
Bereits 1992 lobte die schwedische Neonazi-Terrorgruppe »Weißer Arischer Widerstand«, die auch Kontakte nach Deutschland unterhielt, Ausonius’ Taten in ihrer Zeitschrift »Storm«. Auf T-Shirts druckte sie das Bild eines dunkelhäutigen Mannes im Fadenkreuz, daneben den Aufdruck »Der Lasermann – ein Lichtpunkt im Dasein« in Anspielung auf die von Ausonius verwendete Laserzielvorrichtung. Auch der Rechtsterrorist Anders Behring Breivik, der 2011 in einem Zeltlager einer sozialdemokratischen Jugendgruppe in Norwegen 77 Menschen tötete, bezog sich auf Ausonius und nannte ihn jemanden, mit dem er die gleichen Ziele teile.

Verurteilung im Indizienprozess
Angeregt durch die neue Brisanz des Falls im Zuge der NSU-Ermittlungen erhob die Staatsanwaltschaft Frankfurt im Mai 2017 Anklage gegen Ausonius und ließ ihn nach Deutschland überstellen. Der Prozess begann im Dezember 2017, die Anklage lautete »heimtückischer Mord aus Habgier«, da er beschuldigt wurde, Blanka Zmigrod erschossen zu haben, um seinen Casio-Taschencomputer zurück zu bekommen. Da seit dem ersten Tatverdacht gegen Ausonius keine weiteren Beweise hinzugekommen sind und keine direkten TatzeugInnen existieren, wurde der Prozess als reiner Indizienprozess geführt. Die Staatsanwaltschaft versuchte dabei zu beweisen, dass es sich bei Ausonius nicht nur um den Mann handelt, der das Opfer beschuldigte, seinen Taschencomputer geklaut zu haben, sondern auch um dem Mörder.
Dafür sprach zum einen, dass bei Ausonius Rechnungen gefunden wurden, die belegen, dass er wenige Wochen vor dem Mord eine Pistole vom gleichen Kaliber wie die Tatwaffe gekauft hatte, zusammen mit der passenden Hohlspitzmunition, wie sie auch beim Mord an Blanka Zmigrod verwendet wurde. Die Erklärung von Ausonius, er habe die Waffe kurz vor dem Mord in einer Frankfurter Kneipe einem Unbekannten verkauft, überzeuge nicht, insbesondere da er das gleiche Argument zuvor bei seinen anderen Morden angebracht habe, so die Staatsanwaltschaft. Außerdem zeige der zeitliche Ablauf und die räumliche Nähe, dass es sich bei Ausonius um den »Casio-Mann« handle. Auch sei ihm die Tat nicht »wesensfremd«.
Der Verteidiger, Rechtsanwalt Joachim Bremer, versuchte die Indizienkette zu durchbrechen und diese als nicht aussagekräftig darzustellen. Sie beruhe nur auf Spekulation und sei nicht tragfähig, so der auf Fälle mit großen Medieninteresse spezialisierte Anwalt. Stattdessen versuchte er, andere zeitweise existierende Tathypothesen der Polizei aufzugreifen und den Mord in eine Reihe mit einer Serie an Handtaschenüberfällen zu setzen. Ausonius habe 2000 alle seine Taten gestanden und keinen Grund, diese eine Tat auszusparen, so Bremer.

https://www.nsu-watch.info/

Tatsächlich hatte Ausonius 2000 die Taten, die er in Schweden begangen hatte, gestanden. Eine Verurteilung wegen Mordes an Blanka Zmigrod hat für ihn jedoch schwerwiegende Folgen: In Schweden, wo er seit 26 Jahren in Haft sitzt, hatte er regelmäßig Freigang unter Aufsicht von Zivilbeamten und wäre voraussichtlich in wenigen Jahren entlassen worden. Eine erneute Verurteilung wegen Mordes macht diese Chance zunichte.
Das Gericht folgte zur Überraschung verschiedener ProzessbeobachterInnen der Argumentation der Staatsanwaltschaft und verurteilte John Ausonius am 21. Februar 2018 zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Grund für Letzteres war das Gutachten eines psychologischen Sachverständigen, der Ausonius psychopathologische Persönlichkeitsmerkmale und ein hohes Rückfallrisiko attestierte. Der Sachverständige wurde im Plädoyer der Verteidigung und daran anschließend von Ausonius persönlich für seine Arbeitsmethoden kritisiert. Die Verteidigung kündigte an, in Revision gehen zu wollen.

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Grabstein für die ermordete Blanka Zmigrod © Martina Renner

Offene Fragen
Die rassistische Motivation des Täters blieb im Prozess weitgehend unbeachtet. Trotz Ausonius’ Verurteilung in erster Instanz wurden nicht alle offenen Fragen geklärt. So bleibt offen, ob die Darstellung der Wahrheit entspricht, Ausonius habe Tilo U., der mit mehreren bekannten Neonazis in einem Fußballverein aktiv ist, 1992 in Dresden vor dem Arbeitsamt angesprochen und ihm daraufhin seinen Reisepass abgekauft. Ebenfalls nicht thematisiert wurde, warum er Anfang der 1990er Jahre eine Vorliebe für den Apartheidsstaat Südafrika entwickelte und mit wem er dort Kontakt hatte. Unklar ist darüber hinaus, ob Ausonius wusste, dass Blanka Zmigrod Jüdin ist. Am Rande des Prozesses gab die damals ermittelnde Staatsanwältin an, die eintätowierte Häftlingsnummer auf dem Unterarm aus dem KZ Auschwitz habe sie noch vor der Obduktion des Opfers identifiziert. Als Ausonius bei einer Vernehmung in Schweden mitgeteilt wurde, dass Blanka Zmigrod Jüdin war, reagierte er offenbar überrascht, aber zufrieden.

Lackmustest

von Andreas Speit
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 206 - Januar | Februar 2024

Drei Wahlen, eine Wahrscheinlichkeit. In Brandenburg, Sachsen und Thüringen könnte die AfD bei den kommenden Landtagswahlen die stärkste Fraktion bilden. Bei Umfragen liegt die vermeintliche Alternative um die Bundesführung Alice Weidel und Tino Chrupalla stabil über 30 Prozent. Ein Minister Björn Höcke in Erfurt ist eine rechnerische Möglichkeit. In 2024 könnte 94 Jahre nach der ersten Regierungsbeteiligung der NSDAP erneut in Thüringen die erste Regierungsunterstützung durch extrem Rechte erfolgen.

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“Remigration” meint Deportation. AfD in Brandenburg @ Pressefuchs Brandenburg


Aktuelle historische Mahnungen
Nach einem Misstrauensvotum scheiterte 1931 die damalige Landesregierung unter Erwin Baum vom Landbund allerdings gut ein Jahr später. Kein Anlass zu Entwarnung. Die Grenze zur Macht war geöffnet, der Weg zur Machtübergabe geebnet. Diese historische Erfahrung mahnen zivilgesellschaftliche Initiativen nicht erst seit 2023 an. Sie ist auch nur ein geschichtlicher Moment, auf den gegenwärtig stetig verwiesen wird. Mahnungen und Warnungen, die aber kaum aus dem konservativen Milieu zu vernehmen sind. Hier dröhnt ein Friedrich Merz, der vor Weihnachten vergangenen Jahres erklärte, dass zur »Leitkultur« der Kauf eines »Weihnachtsbaums« zu unserer »Art zu leben« und zu unserer »kulturellen Identität« gehöre. Wir gegen die, das Eigene gegen das Fremde markierte der Bundestagfraktionschef der Union und Bundesvorsitzende der CDU – mal wieder. Diesen Kulturkampf mit rechtem Duktus übertönt kaum wer aus dem konservativen Milieu. Das Schweigen dieses politischen Spektrums dröhnt fast noch lauter als dessen parlamentarische Sprecher*innen. Aus der Union erfolgt jedoch keine starke Grenzziehung mit dem historischen Verweis auf das konservative Versagen. Wer 2023/24 aus diesem Spektrum wieder denkt, mit Rechtsradikalen könnte der Macht wegen paktiert werden, auch um »die Linke« zu verhindern, hat 1933 nicht verstanden. Eventuell könnte aber – wider historischen Fakten – geglaubt werden, bei solcher Zusammenarbeit würden sie »die Rechten« schon kontrollieren können. Welch ein Irrglaube, dem im Osten die CDU wohl anhängt – und im Westen CDU/CSU in der Öffentlichkeit kaum mahnend abschwört.

»Wie deutlich muss die AfD ihre Positionen denn noch formulieren, mit wem aus dem rechtsradikalen Spektrum soll die Partei weiter paktieren, um bundesweit endlich als das benannt zu werden, was sie ist?«

Was muss noch geschehen? Im Kontext der anhaltenden ökonomischen Krisen durch die Globalisierung, der Krise der Flüchtlingspolitik, der Krise durch die COVID-19-Pandemie, der Krisen durch den Krieg in der Ukraine und im Nahen Osten sind einzelne rechte Ressentiments gewachsen. Autoritarismus verbunden mit Nationalismus, Verschwörungsnarrative vereint mit Antisemitismus sowie Rassismus mit Elitevorrechten liegen im Trend. Keine neue Analyse, keine neuen Tendenzen, die Studien nicht seit Jahren anmahnen. Sie werden aber immer weniger verbindlich wahrgenommen. Auch weil die Mahnenden und Warnenden vor allem aus dem liberalen und linken Milieu der Gesellschaft kommen. Just jenes Spektrum von »Gutmenschen« oder »den Grünen«, die in Teilen des öffentlichen Diskurses von Politik, Wissenschaft und Feuilleton – aber vor allem in den sozialen Medien – als die gesellschaftliche Gefahr markiert wurden. Wann werden die wirklichen Feinde einer pluralen und liberalen Gesellschaft vielleicht dennoch ausgemacht, fragen sich viele Engagierte in den zivilgesellschaftlichen Projekten. Mehrere Politolog*innen und Sozialwissenschaftler*innen fragen ebenso: Wie deutlich muss die AfD ihre Positionen denn noch formulieren, mit wem aus dem rechtsradikalen Spektrum soll die Partei weiter paktieren, um bundesweit endlich als das benannt zu werden, was sie ist?

Die Landtagswahlkämpfe im September sind ein Lackmustest für die Union. Schon jetzt weisen zivilgesellschaftliche Projekte auf die eingeschlagenen Löcher in der Brandmauer hin. Sie bilden die Mauer, aus denen eine Pressure-Group aus dem konservativen Spektrum Stein für Stein herausbricht. Ein Trümmerhaufen, entstanden durch Entscheidungen gegen Demokratie-, NS-Gedenk-, Klima- und LGBTQI-Initiativen, der stetig größer wird. Diese Allianzen können mit der AfD personell, aber eben auch ideell bestehen. Sie können aber auch vermeintlich ganz pragmatisch motiviert sein. Als im September 2023 die CDU im Erfurter Landtag mit Unterstützung von FDP und AfD ein Gesetz zur Senkung der Grunderwerbssteuer gegen die Regierung von Die Linke, SPD und Grüne durchsetzte, begründete der CDU-Fraktionsvorsitzende Mario Voigt das Herangehen vermeintlich logisch: »Wir können doch die Lösung von Problemen nicht davon abhängig machen, dass die falsche Seite mit Zustimmung droht.« Aus der Berliner Parteizentrale erfolgte die Bestätigung.

Diese Entgrenzungen führen zu einer Normalisierung – nicht nur im Osten. Im Westen stiegen die Umfragewerte der AfD in zweistellige Bereiche. Bei der Landtagswahl in Hessen erreichte die AfD 18,4 Prozent. Mit fast acht Prozent mehr zog die Partei erneut in das Wiesbadener Landesparlament ein. Die Analysen bei der ARD offenbaren am Wahlabend, dass 80 Prozent der AfD-Wählenden denken: »Es ist mir egal, dass sie in Teilen als rechtsextrem gilt, solange sie die richtigen Themen anspricht«. Eine Aussage, die viele Deutungen zulässt. Sie könnte widerspiegeln, dass wenn in Landesparlamenten Parteien mit der AfD Themen durchsetzen, Wählende dann auch meinen, eine Partei unterstützen zu können, die ihre Themen anspricht. Sie dürfte zudem spiegeln, dass die Bereitschaft, Rechtsradikale zu wählen gestiegen ist, weil die Positionen geteilt oder aus Protest dennoch gewählt werden. 87 Prozent der Befragten gaben an, mit der Wahl der AfD ihren »Protest gegenüber der Politik ausdrücken zu können«.

Vorfahrt für Kultur und Identität
Der anhaltende Kulturkampf, der letztlich auch ein Identitätskampf ist, dürfte das Sag- und Wählbare erneut weiter nach rechts verschoben haben. Diese Verschiebung von Sachpolitik auf Kultur- und Identitätsdebatten wird vorangetrieben, statt auf Krisen mit ökonomischen, sozialen und ökologischen Konzepten zu reagieren. Der Pyrrhussieg der Union gegen den Nachtragshaushalt 2023 der Bundesregierung um Olaf Scholz (SPD), Robert Habeck (Grüne) und Christian Lindner (FDP) befeuert diese Entwicklung. Die nun fehlenden 60 Milliarden Euro, die anfänglich als Mittel für die Corona-Krise bereitgestellt waren, müssen eingespart werden. In dieser Debatte klingen bei der FDP die angeblichen »Sozialschmarotzer« durch und die SPD deutet an, dass vermeintlich zu viele Geflüchtete kommen. Die Grünen scheinen nach und nach ihre Grundwerte zu verlieren. Sie setzen sich in der Regierung zwar kaum durch, werden in der Öffentlichkeit aber als die dominierende und durchsetzungsstarke Kraft gesehen. Ganz so, als wenn Habeck allein die Klimaschutzmaßnahmen der Bundesregierung zu verantworten hätte. Die Entscheidung für Wärmepumpen oder fürs SUV-Fahren sind da längst zu einer Identitätsfrage hochstilisiert. Die Sparidee, bei den Landwirt*innen die Kfz-Steuerbefreiung und die Steuerbegünstigung bei Agrardiesel zu streichen, löste bereits deren Protest aus. Eine Blockade von »Wut-Bauern« Anfang Januar in Schlüttsiel, um den Bundeswirtschaftsminister, der aus dem Urlaub kam, am Verlassen einer Fähre zu hindern, beweist die gestiegene Enthemmung dieses Milieus. Erneut erscheinen die Grünen als einzige Verantwortliche. Habeck ist jedoch auch der Einzige aus der Regierung, der offen artikuliert, was andere fürchten zu sagen: Die sozioökonomische und ökologische Transformation belastet jetzt, um zukünftig zu entlasten. Diese Logik treibt Fridays for Future an, die auf die ökonomischen Folgen der ökologischen Krisen verweisen. Die deutsche Sektion, die sich bewusst gegen antisemitische Positionen in dem internationalen Netzwerk positioniert, weist darauf hin, dass der nötige Wandel zu Macht- und Verteilungskonflikten führen kann. Diese Konflikte sprechen weder SPD noch CDU/CSU an. Allein die FDP markiert, für welches Klientel sie die Privilegien bewahren und durchsetzen will. Ein Identitätskampf, in dem die Einwanderungs- und Asylpolitik als das zentrale Problem gilt, lenkt nicht bloß ab, er schützt auch vor gebotenen Änderungen und Alternativen. Die Grünen sorgen sich teilweise auch schon um »die Grenzen«. Ganz so, als wenn in der Wohnungs- und Bildungspolitik erst mit den Geflüchteten Probleme entstanden wären.

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Bei einer Umfrage in Hessen meinten 95 Prozent, dass die »Zuwanderung von Ausländern und Flüchtlingen« beschränkt werden sollte. Im September vergangenen Jahres gaben beim »Deutschlandtrend« 64 Prozent der Befragten an, eher Nachteile mit der Zuwanderung zu verbinden. Das Agenda-Setting von rechts ist gelungen: Die sozioökonomischen und bildungspolitischen Probleme erscheinen fast nur noch als Kultur- und Identitätskonflikte und -probleme. Eine Transformation, mit der sich die Verantwortlichen der Verantwortung entziehen. Ein »Nie wieder ist jetzt« reicht nicht, um rechte Wahl­erfolge einzudämmen, eine Betroffenheitsrhetorik bei rechtem Terror ebenso nicht. Ein Rückzug aus den sozialen Medien wie ein Leise­werden bei politischen Events wegen rechter Präsenz, ist dessen Intention. Den rechten Strategien zur Macht im vorpolitischen und im parlamentarischen Raum kann nur gesellschaftliches Umdenken entgegenwirken. Bündnisse von jenen, die wissen, woher die wirkliche Bedrohung kommt. Ein moralischer Antifaschismus dürfte längst nicht mehr nachhaltig wirken. Ein »denk an die Betroffenen« oder »erinnere die Geschichte« bewegt kaum.

 

Mitleidlos

von Joachim F. Tornau
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 205 - November | Dezember 2023

Vor 32 Jahren starb Samuel Yeboah bei einem Brandanschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft in Saarlouis. Doch erst jetzt wurde sein Mörder überführt und verurteilt. Der Prozess führte exemplarisch vor Augen, wie nachlässig in den frühen 1990ern bei rechten Straftaten ermittelt wurde.

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Antifaschistischer Protest vor dem Oberlandesgericht Koblenz im November 2022 für den ermordeten Samuel Yeboah. © Joachim F. Tornau

Samuel Yeboah ging es gut an diesem Abend. Der 27-Jährige aus Ghana hatte beim Boxtraining gewonnen und tanzte durch sein Zimmer im Dachgeschoss einer Geflüchtetenunterkunft in Saarlouis. »Samuel war glücklich«, erinnerte sich ein Mann, der damals mit ihm in dem ehemaligen Gasthaus »Weißes Rössl« lebte. Wenige Stunden später war Samuel Yeboah tot, qualvoll gestorben nach einem Brandanschlag auf die Unterkunft in der saarländischen Kleinstadt, am frühen Morgen des 19. September 1991. Es war, als hätte er es geahnt. Als er am Vorabend über den Großen Markt von Saarlouis gelaufen war, hatten wie so oft die örtlichen Neonazis am Brunnen gesessen und gesoffen. »Eines Tages«, hatte Yeboah da zu seinem Begleiter gesagt, »werden sie mich umbringen.«
Die düstere Prophezeiung zitierte Richter Konrad Leitges, als er am 9. Oktober 2023 nach elfmonatigem Prozess das Urteil gegen den Mann verkündete, der nach Überzeugung des Koblenzer Oberlandesgerichts für den Mord vor mehr als 32 Jahren verantwortlich war: Sechs Jahre und zehn Monate Jugendstrafe verhängte der Staatsschutzsenat gegen den früheren Neonazi-Skinhead Peter Werner Schlappal – heute Schröder. Eine Verurteilung zu lebenslanger Haft blieb dem 52-Jährigen nur erspart, weil er bei der Tat noch Heranwachsender gewesen war. »Der Angeklagte erfüllte gleich drei Mordmerkmale«, sagte Senatsvorsitzender Leitges. Er habe heimtückisch, aus niederen Beweggründen und mit gemeingefährlichen Mitteln gehandelt. Peter Werner Schröder habe das nächtliche Feuer in dem einstigen Gasthaus aus rassistischem Hass gelegt – und um sich gegenüber seinen braunen Kameraden zu beweisen. »Er wollte allen Ausländern das Gefühl geben, in Deutschland nicht sicher zu sein.«

Paulchen-Panther-Tattoo auf dem Unterarm
Der Angeklagte war ein Aktivposten der rechten Szene im Saarland, gewalttätig und mitleidlos. 1992 schlug er zusammen mit elf Gleichgesinnten einen Studenten in Saarbrücken brutal zusammen. Vier Jahre später soll er versucht haben, einen abtrünnigen Kameraden im dritten Stock über die Balkonbrüstung zu stoßen. So jedenfalls berichteten es Zeugen vor Gericht – die Polizei hatte damals gar nicht erst ermittelt. Er fungierte als Ordner bei Aufmärschen und lief 1996 zusammen mit den späteren NSU-Terrorist*innen Uwe Mundlos und Beate Zschäpe beim »Rudolf-Heß-Marsch« durch Worms. Und entgegen seinen anderslautenden Beteuerungen hat sich Schröder nie von seiner menschenfeindlichen Gesinnung distanziert. Noch kurz vor seiner Festnahme tauschte er per Whatsapp rassistische Memes und Hitler-Bilder aus. Auf einem Foto, das die Polizei bei ihm fand, posiert er stolz in SS-Uniform. Auf seinem rechten Unterarm trägt er ein Paulchen-Panther-Tattoo – gestochen kurz nach der Selbstenttarnung des NSU, der die Zeichentrickfigur bekanntlich in seinem zynischen Bekennervideo verwendet hatte.

Nicht allein wegen des Mordes an Samuel Yeboah verurteilte ihn nun das Gericht, sondern auch wegen versuchten Mordes an zwölf weiteren Bewohner*innen der Unterkunft. Aber: Bei acht Menschen, die im Erdgeschoss einen Geburtstag feierten, habe er von einer Rettung ausgehen können, ihren Tod also nicht billigend in Kauf genommen. Nebenklageanwalt Björn Elberling, der mehrere dieser Betroffenen vertritt, hält das für nicht nachvollziehbar. »Das ist kein ‹Kollateralschaden›, wenn hier Menschen sterben«, sagte der Anwalt. »Das ist das Ziel.« Er hat deshalb ebenso wie die Bundesanwaltschaft und die Verteidigung Revision beantragt.

Mit dem Urteil blieb das Gericht in der Mitte zwischen den Forderungen der Anklagebehörde, die neun Jahre Jugendstrafe verlangt hatte, und der Verteidigung, die auf viereinhalb Jahre plädiert hatte – wegen bloßer Beihilfe. Denn nach anfänglich hartnäckigem Leugnen hatte Peter Werner Schröder ein halbes Jahr nach Prozessbeginn schließlich doch noch eine Art Geständnis abgelegt: Er sei bei dem Anschlag dabei gewesen, aber nur als Mitläufer eines anderen damaligen Neonazis, dem heute 51-jährigen Heiko S., einem Szene-Aussteiger. Das nahm ihm das Gericht jedoch nicht ab.

Der nächste Prozess könnte schon bald folgen
Mehr als 1.500 rassistische Anschläge gab es bundesweit in der ersten Hälfte der 1990er Jahre, der »Baseballschlägerjahre«, als Neonazis sich angesichts der flüchtlingsfeindlichen gesellschaftlichen Stimmung als Vollstrecker eines »Volkswillens« fühlten – und sich durch die faktische Abschaffung des Asylrechts 1993 bestärkt sehen konnten. Allein im Saarland wurden zwischen 1990 und 1992 etwa 20 Brand- und Sprengstoffanschläge gezählt, vor allem auf Unterkünfte für Geflüchtete, aber auch auf ein Parteibüro der PDS, Vorgängerin der Linkspartei, und auf ein linkes Zentrum. Nur ein verschwindend kleiner Teil wurde jemals aufgeklärt. Dass das mit mehr als drei Jahrzehnten Verspätung nun beim Mord an Samuel Yeboah doch noch gelang, ist einer einzigen Frau zu verdanken. Die Zeugin meldete sich im Oktober 2019 bei der Polizei, weil sie nach dem Anschlag von Halle einen Artikel über rechte Gewalt im Saarland gelesen hatte. Erst dadurch, sagte sie, habe sie vom Mord an Samuel Yeboah erfahren – und sich zugleich erinnert, dass sich Schröder ihr gegenüber bei einer Grillparty viele Jahre zuvor mit dem Brandanschlag gebrüstet habe: »Das war ich. Und sie haben mich nie erwischt.« Ihre Aussage, vor Gericht schließlich auch unter Eid wiederholt, sorgte für die späte Wiederaufnahme der Ermittlungen, die jetzt auch noch einen weiteren Neonazi vor Gericht bringen könnten: Seit Juni sitzt Peter Strumpler, der langjährig unangefochtene Anführer der Neonazis von Saarlouis, in Untersuchungshaft. Die Bundesanwaltschaft glaubt, dass er seinen Freund und treuen Gefolgsmann Peter Werner Schröder zu dem Anschlag aufgestachelt hat. Die Anklageerhebung dürfte kurz bevorstehen.

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Peter Strumpler gründete die braune »Kameradschaft Horst Wessel – Saarlautern«, die bis zu ihrer Auflösung Mitte der 2000er Jahre regelmäßig bei rechten Demonstrationen bundesweit aufmarschierte. Er betrieb einen einschlägigen Versandhandel und den Szeneladen »Studio 88« in Neunkirchen/Saar. Als »Psychopath« und »Gottkaiser« beschrieb ihn einer seiner damaligen Gefolgsleute im Prozess: »Er war der Kopf. An dem haben sich in Saarlouis alle orientiert.« Ein Anschlag ohne sein Wissen oder gar, wie Schröder es behauptet hat, gegen seinen erklärten Willen, erscheint deswegen kaum vorstellbar. Bis heute soll der ergraute 54-Jährige mit dem etwas zerzausten Vollbart von seinem einstigen Renommee in der extremen Rechten zehren. Als die früheren Neonazi-Skinheads von Saarlouis durch die wiederaufgenommenen Ermittlungen aufgescheucht wurden, war er es, bei dem die Informationen zusammenliefen.

»Ein Paradebeispiel für institutionellen Rassismus«
Nach der überraschenden Anzeige durch die Zeugin vom Grillfest hatten die Ermittler*innen alle Register gezogen. Telefone wurden abgehört, Autos überwacht, Wohnungen durchsucht und Dutzende Menschen vorgeladen. Der Kontrast zu den halbherzigen Ermittlungen nach dem 19. September 1991 hätte größer nicht sein können. Keine zwei Wochen lang war damals in der rechten Szene nach möglichen Täter*innen gesucht worden. Die Polizei glaubte oberflächliche Unschuldsbeteuerungen, ohne allzu sehr nachzufragen. Freundlich wurden die jungen Neonazis auf der Wache geduzt, einem soll sogar ein Bier angeboten worden sein. Bewohner*innen der Unterkunft, die erst wenig Deutsch sprachen, befragte man hingegen ohne Dolmetscher*in. Und auch andere Zeug*innen fielen vor Gericht aus allen Wolken, als ihnen vorgelesen wurde, was sie damals angeblich gesagt haben sollen. Eine Anwohnerin war felsenfest überzeugt, von dunkelgekleideten Menschen gesprochen zu haben, die ihr in der Tatnacht aufgefallen seien. In ihrem Vernehmungsprotokoll aber stand stattdessen etwas von dunkler Hautfarbe – bezeichnet überdies mit dem rassistischen N-Wort, das sich mit größter Selbstverständlichkeit durch die Akten zieht. Obwohl es auch vor 30 Jahren schon diskriminierend war.
Dennoch wollte Richter Leitges den Ermittler*innen von einst keinen Vorwurf machen. Schuld an der gescheiterten Aufklärung sei nicht schludrige Arbeit gewesen, sondern das Schweigegelübde der rechten Szene – an das sich manche der damaligen Szene-Angehörigen auch jetzt als Zeug*innen vor Gericht noch hielten. Nebenklageanwalt Alexander Hoffmann sah das ganz anders. »Die Ermittlungen«, hatte er in seinem Schlussvortrag bilanziert, »sind ein Paradebeispiel für institutionellen Rassismus.«

Das Ende des Schweigens an der Saar
Jahrzehntelang hatten nur drei antifaschistische Initiativen – die Aktion 3. Welt Saar, der Saarländische Flüchtlingsrat und die Antifa Saar – die Erinnerung an den Brandanschlag von Saarlouis wachgehalten. Für sie war von Anfang an klar, was nun auch gerichtlich festgestellt ist: dass Samuel Yeboah einem neonazistischen Mord zum Opfer gefallen ist. Doch außer ihnen wollte das lange Zeit kaum jemand wahrhaben im Saarland. Erst mit der Wiederaufnahme der Ermittlungen und dem Prozess in Koblenz setzte ein Umdenken ein. Bereits im vergangenen Jahr hat sich Saarlands Polizeipräsident für die »Versäumnisse« und »Defizite« bei den Ermittlungen entschuldigt. Ein Untersuchungsausschuss des Landtags in Saarbrücken, der Anfang Oktober seine Arbeit aufnahm, soll den nachsichtigen Umgang der Behörden mit der extremen Rechten aufarbeiten. Ein Entschädigungsfonds des Landes für Opfer rassistischer Gewalt ist angekündigt. Und als sich der Anschlag am 19. September 2023 zum 32. Mal jährte, richtete auch die Stadt Saarlouis zum allerersten Mal eine Gedenkveranstaltung aus. Die Überlebenden der rassistischen Tat hatte man dabei allerdings offenbar wieder einmal vergessen: Sie waren nicht eingeladen.

Intro 206

Eure Redaktion
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 206 - Januar | Februar 2024

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Demonstration am 14. Januar 2024 in Berlin gegen die AfD und gegen Rassismus. © Oliver Feldhaus

Liebe Leser*innen,

»Nie wieder ist jetzt«. Seit Mitte Januar fanden bundesweit in vielen Städten große und beeindruckende Demonstrationen mit hunderttausenden Teilnehmer*innen gegen die AfD und gegen Faschismus statt. Hintergrund war die wenige Tage vorher veröffentlichte Recherche über ein Treffen in einer Potsdamer Villa. Dort hatten AfD-Funktionär*innen und Politiker*innen, Neonazis und alte Nazis mit Wurzeln in langjährig aktiven Netzwerken sowie Mitglieder der CDU und der »WerteUnion« unter dem verharmlosenden Begriff »Remigration« über Pläne zur massenhaften Deportation von Menschen mit Migrationsgeschichte aus Deutschland beraten. Dabei ist die euphemistische Verwendung der Vokabel »Remigration« nicht neu: Nicht in der bundesdeutschen Neonaziszene, die mit Gewalt »No Go Areas« für Menschen mit Migrationshintergrund durchsetzen will. Nicht in der AfD, durch deren rund zehnjährige Geschichte sich entsprechende Gewaltfantasien wie ein roter Faden ziehen. Auch die offene Zusammenarbeit von AfD und Neonazis ist spätestens seit ihrem öffentlichen Schulterschluss in Chemnitz im August 2018 kein Geheimnis mehr. Angesichts dessen mutet es schon skurril an, wenn Der Spiegel nach dem Treffen in Potsdam titelt »Die AfD trifft sich mit Rechtsextremen«. Dabei ist die Partei inhaltlich doch kaum noch zu unterscheiden von den extrem rechten Akteur*innen und Netzwerken, die sie innerparteilich und als Vorfeldorganisationen pflegt. Ebenfalls in Vergessenheit geraten ist scheinbar der Kern der AfD-Politik: das Konzept eines ethnisch zwangshomogenisierten Staates mit einem reaktionären Volksbegriff. Schon im Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2017 forderte der AfD-Vorstand unter Jörg Meuthen und Frauke Petry eine Grundgesetzänderung, um eine »Ausbürgerung krimineller Migranten auch unter Hinnahme der Staatenlosigkeit« und ihre Deportation in Lager auf Inseln außerhalb Europas realisieren zu können. Ein Jahr später sehnt sich Björn Höcke nach einem »großangelegten Remigrationsprojekt« und seit dem Programm zur Europawahl 2019 ist die Vertreibung von Migrant*innen als »Remigration« Kern der AfD-Programmatik. Nun dienen sich selbsternannte Konservative wie Mitglieder der CDU und der »WerteUnion« bei dem Treffen in Potsdam als Steigbügelhalter an, um diese rassistische Gewaltfantasie umzusetzen und das völkische und rassistische Konzept der AfD durchzusetzen, sobald sich für sie eine Machtoption ergibt. Und das nicht erst seit dem öffentlich gemachten Treffen: Die Runde in Potsdam soll bereits das siebte Treffen dieser Art gewesen sein, auch AfD-Chef Tino Chrupalla soll bereits daran teilgenommen haben. Teil des Problems sind auch konservative Kreise und willige Finanziers, mit deren Hilfe die AfD den Ausbau ihrer Macht und die Normalisierung faschistischer Politik anstrebt. Dafür steht die Vokabel »Remigration«, die als rechter Kampfbegriff und beschönigende Tarnvokabel zum »Unwort des Jahres« gekürt wurde. Dieser Rechtsruck in Diskursen in der Politik und in der Gesellschaft lässt sich auch an den »Unwörtern« der vergangenen Jahre nachlesen: Klimaterroristen, Pushback, alternative Fakten, Volksverräter und Gutmenschen sind nur einige davon.

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