»Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die Tat politisch motiviert war.«

von Robert Andreasch


Magazin "der rechte rand" Ausgabe 169 - November 2017

Magazin der rechte rand Ausgabe 169

Gedenkfeier am 22.07.2017 in München am Denkmal für die Opfer des Amoklaufs
© Robert Andreasch

Anmerkungen zur Einordnung des Attentats am Münchner Olympia-Einkaufszentrum.

Am 22. Juli 2016 erschoss der 18-jährige David Sonboly neun Menschen im Bereich des McDonald’s-Restaurants am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) und verletzte fünf weitere schwer. Ein djihadistisches Attentat? An mehreren Stellen der Stadt brach Panik aus. Einige Stunden später tötete sich Sonboly selbst, als er von Polizeibeamten in einer Nebenstraße des Einkaufszentrums entdeckt wurde. Ein erweiterter Suizid? Die Tat wurde von den Behörden rasch als »Amoklauf« eines Jugendlichen dargestellt, der psychiatrisch erkrankt gewesen sei und sich für ein erlebtes Mobbing habe rächen wollen. Und in der Tat: Bei Sonboly wurden in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe jugendpsychiatrischer Diagnosen gestellt und von der fünften bis achten Klasse war er durch MitschülerInnen massiv gemobbt und zum Teil auch körperlich angegriffen worden. Der Attentäter versuchte auch tatsächlich mit einigem Aufwand – erfolglos –, einige seiner ehemaligen MitschülerInnen gezielt zum selben Zeitpunkt zum McDonald’s-Restaurant einzuladen.

In der Folgezeit kamen Zweifel an der von den Behörden veröffentlichten Tatmotivation auf. Denn Sonboly hatte das Attentat am fünften Jahrestag des Massenmords des rassistischen Attentäters Anders Behring Breivik in Norwegen verübt, seine Opferauswahl deutete auf rassistische und antiziganistische »Kriterien« hin. Das Video einer verbalen Auseinandersetzung zwischen dem Täter und einem Anwohner, der ihn rassistisch beschimpfte, verbreitete sich viral: Sonboly schrie nicht nur »Wegen Leuten wie Euch wurde ich gemobbt. Sieben Jahre lang«, sondern auch »Ich bin Deutscher« und »Scheiß Türken«.
Ein rechtes Attentat? Weil der Täter selbst aus einer Familie mit Migra­tionserfahrung kam, konnten sich das viele nicht vorstellen. Dass die Einwanderungsgesellschaft häufig immer noch nicht als Realität anerkannt wird, erschwert eine Auseinandersetzung mit migrantischem Ultra­nationalismus und Rassismus oder – wie hier – mit einer nationalistischen Überidentifikation.

Eindeutiges Vorbild
Vor allem durch Anfragen der Landtagsabgeordneten Katharina Schulze (»Bündnis 90/Die Grünen«) wurde zunehmend mehr über die Einstellungen von Sonboly , der seinen Vornamen bei den Behörden von Ali in David ändern ließ, bekannt: Er war stolz, als Iraner und Deutscher »Arier« zu sein. Er fluchte über »Kanaken« und zeigte Sympathien für die »Alternative für Deutschland« (AfD). Er schaute fasziniert Youtube-Videos des rechten Attentäters Breivik an. Dessen Bild nutzte er als persönliches Profilfoto bei »Whatsapp«. Zwei Jahre vor der Tat hatte er ein zweiseitiges Manifest (»Die Rache an diejenigen die mich auf dem Gewissen haben« (sic!)) verfasst. Er beschrieb darin die hoffnungslosen Tage an der Schule, an der er gemobbt wurde, aber auch, dass der Stadtteil Feldmoching-Hasenbergl nahezu komplett mit einem »Virus« infiziert sei. Sonboly hetzte gegen »ausländische Untermenschen«, die er »exekutieren« werde.
Wie sein Vorbild aus Norwegen hatte sich Sonboly eine Pistole »Glock 17 Generation 4« beschafft. Dafür war er zum Marburger Waffenhändler Philipp K. gefahren, den er im Darknet kennengelernt hatte. Philipp K. war ein Rassist wie Sonboly und zeitweise auch in der rechten Szene aktiv. Bei den Schießübungen mit der neuen Waffe filmte sich Sonboly und rief vor der Kamera, die AfD werde die Deutschtürken ausschalten. Wenige Tage vor dem Attentat schrieb er sich selber Chatnachrichten: »Unsere Gegner sind jetzt Salafisten, Wirtschaftsflüchtlinge, Merkel« und antwortete sich daraufhin mit »Du wirst alles stoppen und die AfD wird durch uns in die Höhe gepusht, die Salafisten werden in die Zielscheibe geraten«. Kurz vor dem Attentat legte Sonboly noch ein Dokument mit dem Titel »Ich werde jetzt jeden Deutschen Türken auslöschen egal wer.docx« an. Inhalt war der Satz: »Das Mobbing wird sich heute auszahlen. Das Leid was mir zugefügt wurde, wird zurückgegeben.« ZeugInnen sagten im Rahmen der Ermittlungen, die »halb deutschen, halb türkischen Jugendlichen« habe Sonboly »zerquetschen wie Kakerlaken« wollen. Auch schimpfte er oft über Israel und beleidigte Jüdinnen und Juden.

Offizielle Einordnung
Nach der Tat fasste die Staatsanwaltschaft in einem internen Bericht zusammen: »David S. hatte eine Abneigung gegenüber Personen mit ausländischen Wurzeln bzw. mit Migrationshintergrund. Allen voran konnte er türkisch-stämmige, albanisch-stämmige und balkan-stämmige Jugendliche nicht leiden. Gegen diese Personengruppen entwickelte er einen regelrechten Hass.« Im öffentlichen Statement des LKAs zum Abschluss der Ermittlungen heißt es dagegen: »Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die Tat politisch motiviert war.« Verantwortlich für diese aktive Ausblendung der ideologischen Hintergründe bei der Festlegung des Tatmotivs war eigenen Angaben zufolge die SOKO OEZ in enger Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft München I, der Operativen Fallanalyse Bayern, der Staatsschutzabteilung des Bayerischen Landeskriminalamts und dem bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz. Wieder einmal setzten die Behörden die furchtbare Tradition fort, Attentate in Bayern wie das Oktoberfestattentat und die NSU-Morde zu entpolitisieren.

So entwickelten sich in München individuelle Bezeichnungen: Diejenigen, die die psychopathologischen Faktoren der Tat betonen, sprechen konsequent von einem Amoklauf. Von einem Attentat sprechen jene, die die politisch-ideologischen Einstellungen als tatauslösend hervorheben. Doch es geht um mehr als Begriffe: Wird die individuelle Disposition des Täters für die Tat verantwortlich gemacht oder wird sich auch auf gesellschaftliche Ursachenforschung begeben? Der Psychoanalytiker Günter Lempa schrieb 2001 in seinem Buch »Der Lärm der Ungewollten«, dass in der Gesellschaft ziviles Verhalten und Denken in einer Art Handel gegen Anerkennung und Partizipation getauscht werden. Das Angebot, endlich positiv – in diesem Fall als Deutscher – definiert zu werden, verspricht die Lösung aller Probleme und Identitätsunsicherheiten. Nicht man selbst ist schuld an den erlebten Misserfolgen, es sind die »Fremden«. Dazu kommt die Illusion: Wenn die »Anderen« erst einmal weg sind, bekomme man, was einem bislang vorenthalten wurde.

Psychisch oder sozial entwurzelte Amokläufer entwickeln aufgrund realer oder zumindest wahrgenommener Demütigungen das Bedürfnis, sich an bestimmten Menschen oder Teilen der Gesellschaft zu rächen. Die psychische Situation von Sonboly könnte seinen ideologisch motivierten Hass geradezu verstärkt haben. Emotionen wie Hass und Kränkungen können Menschen dazu veranlassen, Terror als gerechtfertigt anzusehen und die Feindgruppen gewalttätig zu bekämpfen. Fand er letztlich in der rassistischen Ideologie eine Legitimation dafür, seinen Hass mit tödlicher Gewalt auszuleben? Die aggressiven Affekte suchen jedenfalls ein Ziel. Rassismus führt dazu, dass die Aggressionen »Fremdgruppen« zugeschrieben werden. Verschiedene Umstände können also zusammengewirkt haben, damit es zu einer solch extremen Tat kommen konnte: politisch-ideologische, historische sowie soziologische, psychiatrische, psychologische und auch strukturelle. Oft liegen diese Faktoren auch nicht so weit auseinander, zum Beispiel im Wunsch, Herr über Leben und Tod zu sein oder in der Neigung zur brutalen Gewalt des männlichen Kämpfers, die die faschistische Identität ausmacht.

Öffentliches Hearing
Ein Jahr nach der Tat beauftragte die Stadt München Gutachter, um zu einer eigenen Einordnung der Tat zu kommen. In einem vielbeachteten öffentlichen Hearing verwies Prof. Dr. Christoph Kopke (Berlin) zunächst auf die extrem rechten Einstellungen des Täters. Kopke wehrte sich gegen eine strikte Trennung von »Amokläufen« und »Terrortaten«, da deren TäterInnen jeweils viele gemeinsame Charakteristika teilten und Amoktaten immer wieder auch »Elemente politischer Kommunikation« enthielten. Schon aus formalen Gründen, so Kopke, hätten die Behörden die Morde am OEZ unter »Politisch motivierte Kriminalität« einsortieren müssen. Für sein subjektiv erlittenes Unrecht habe David Sonboly eine rassistisch konstruierte Gruppe verantwortlich gemacht und schließlich gezielt Angehörige dieser Gruppe ermordet.

Der Gutachter Dr. Matthias Quent (Jena) sprach von einem eindeutigen rassistischen Hassverbrechen und verfolgt ebenfalls einen explizit »Opferorientierten Ansatz«: »Nicht nur das unmittelbare Opfer wird schwer traumatisiert, wie bei jeder Gewalttat, sondern es geht um die Verunsicherung und Verängstigung der gesamten Opfergruppe. Betroffen ist darüber hinaus die rechtsstaatliche Gemeinschaft, denn die Täter senden durch ihre Tat die Botschaft, die Opfergruppe auszugrenzen.« Die Behörden sollten nicht den Rassismus des Täters reproduzieren und die rassistisch diskriminierte Gruppe in Sippenhaft für das Verhalten der Mobber nehmen. Stattdessen sollten sie »die für die Gesellschaft besonders zerstörerische Wirkung von Rassismus und Vorurteilen verurteilen«.