30 Jahre Hess-Märsche

von Thomas Altdstedt
Magazin "der rechte rand" Ausgabe 168 - September 2017

antifaschistisches Magazin der rechte rand - Hess Narsch

Neonazis marschieren in Berlin mit dem Zitat von Hess »Ich bereue nichts« welchen dieser zum Ende des Nürnberger Prozesses
von sich gegeben hatte. Ausserdem fordern sie eine andere Wahrheit über den Selbstmord.
© Ney Sommerfeld

Nach diversen juristischen Niederlagen und der Auflösung des Familiengrabs in Wunsiedel gab es keine größere Aufmärsche zum Gedenken an Rudolf Hess in den vergangenen Jahren. Die großen Mobilisierungserfolge in Wunsiedel liegen über zehn Jahre zurück. In den letzten Jahren nutzten jedoch »Der III. Weg« und das 2014 verbotene »Freie Netz Süd« den »Volkstrauertag« im November, um in die oberfränkische Kleinstadt zu mobilisieren. Die TeilnehmerInnenzahlen bewegten sich dabei im niedrigen dreistelligen Bereich.
Anlässlich des 30. Todestages des ehemaligen Hitler-Stellvertreters mobilisierte die Neonazi-Szene zum 19. August 2017 wieder zu einem bundesweiten Hess-Marsch. Unter dem Motto »Mord verjährt nicht! Gebt die Akten frei! Recht statt Rache!« formulierte die Szene die seit Jahrzehnten bekannten Verschwörungstheorien und Forderungen, wie sie schon seit dem Suizid des überzeugten Nazis 1987 im Spandauer Gefängnis kolportiert werden. Neben der Erinnerung an die vermeintliche Ermordung wurde die Forderung nach Einsicht in die angeblich unter Verschluss gehaltenen Akten formuliert. Dies natürlich mit der Absicht, »endlich die Aufklärung eines mysteriösen Todesfalls« voran zu bringen. Im Aufruf findet sich daher auch die wenig überraschende Behauptung: »Bis heute ist das Ende von Rudolf Hess nicht zweifelsfrei geklärt.« Mit der nun ablaufenden Verschlussfrist sei es endlich möglich, »diesen Fall mit rechtsstaatlichen Mitteln aufzuarbeiten und abseits der Propaganda aufzuklären«, heißt es im Aufruf weiter. Neben der eigenen Homepage für die Mobilisierung fand sich auf YouTube auch ein Mobilisierungsvideo der Neonazi-Gruppierung »Syndikat 52« aus dem Raum Aachen. »Syndikat 52« versucht, den Leerraum der 2012 verbotenen »Kameradschaft Aachener Land« (KAL) auszufüllen. Passend dazu berichtete der »Tagesspiegel« aus Berlin, der Anmelder sei der in Grevenbroich sesshafte langjährige Neonazi Christian Malcoci. Offiziell tritt die Gruppierung »Syndikat 52« allerdings als Untergruppierung des Kreisverbands Aachen-Heinsberg der Partei »Die Rechte« in Erscheinung und scheint damit auch einem erneuten Verbot eventuell entgegensteuern zu wollen. Neben der Mobilisierung im digitalen Raum wurden bundesweit Aufkleber verschickt, plakatiert und kurz vor dem 19. August mehrere Kundgebungen und Aktionen zum Beispiel in Berlin, Dessau-Roßlau und auch in Dortmund durchgeführt.

antifaschistisches Magazin der rechte rand - Hess Marsch

© Ney Sommerfeld

Hunderte Neonazis kommen nicht zum Ziel
Am 19. August selbst reisten rund 1.000 Neonazis aus zahlreichen Bundesländern – darunter vor allem Berlin, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Thüringen, Sachsen oder auch Sachsen-Anhalt – nach Berlin und führten insgesamt zwei Aufmärsche durch. Auch aus Österreich, Schweden und den Niederlanden kamen Neonazis. Rund 800 marschierten gemeinsam im Stadtteil Berlin-Spandau auf, wurden allerdings an verschiedenen Blockaden durch GegendemonstrantInnen gestoppt und konnten so nicht zum eigentlichen Hauptziel des Aufmarsches gelangen, dem Standort des ehemaligen Gefängnisses, in dem Hess bis 1987 inhaftiert war. Trotz des Verbotes, Rudolf Hess in »Wort, Schrift oder Bild« zu verherrlichen, trug das Fronttransparent den für Hess berühmten Satz »Ich bereue nichts«, den dieser zum Ende des Nürnberger Prozesses von sich gegeben hatte.
Ein Verbot der Veranstaltung wurde aufgrund der schlechten Erfolgsaussichten im Vorfeld nicht angestrebt. Innensenator Andreas Geisel (SPD) sagte dazu: »Ein Verbot wäre mir sehr sympathisch gewesen, wir haben das sehr sorgfältig geprüft und festgestellt, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung leider auch für Arschlöcher gilt.«
Aufgrund von Brandanschlägen auf Bahnanlagen erreichte eine weitere Gruppe von rund 200 Neonazis vor allem aus Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen den geplanten Aufmarschort in Spandau nicht und führte einen Spontanaufmarsch in Falkensee durch.

Hess – ein Neonazi-Mythos
Die Hochzeiten der neonazistischen Hess-Verehrung haben ihren Zenit längst überschritten. Die Elemente der Erzählungen rund um den Mythos Hess haben sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum verändert. Die zentralen Punkte sind nach wie vor sein Flug nach Großbritannien, seine Verurteilung vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg und natürlich sein Selbstmord im Gefängnis. Dabei bietet sich Hess für die Neonazi-Szene besonders als Märtyrer an, weil er bis zu seinem Tod als überzeugter Nationalsozialist galt. Hess wird als der »gute Nationalsozialist« inszeniert, der mit seinem »Friedensflug« nach Großbritannien als Beleg für die deutschen Friedensbemühungen dargestellt wird. Damit hat die Hess-Verehrung im Kern ein geschichtsrevisionistisches Anliegen, welches das nationalsozialistische Deutschland in der Kriegsschuldfrage freisprechen soll.
Die zahlreichen Widersprüche aber werden in der Neonazi-Szene schlicht ignoriert. So sprach ein NSDAP-Radiobeitrag direkt nach Hess´ Festnahme in Schottland 1941 davon, dieser habe einen Brief zurückgelassen, der auf »geistige Umnachtung« hindeute. Die anschließende Verurteilung in Nürnberg zu lebenslanger Haft beweist für die Neonazi-Szene außerdem die Unrechtmäßigkeit der Nachkriegsjustiz und damit auch die Grundlage der Bundesrepublik Deutschland. Sein Suizid im Jahr 1987, der als Mord dargestellt wird, vollzieht den letzten Akt der ‹schlüssigen› Gesamtdarstellung des Mythos rund um die Figur Rudolf Hess. Nachdem Hess’ Überreste in Wunsiedel im Familiengrab bestattet worden waren, wurde der Ort schnell zum zentralen Erinnerungsort für die extreme Rechte. Bereits kurz nach der Beisetzung fand in Wunsiedel ein erster Gedenkmarsch mit rund 120 TeilnehmerInnen statt. Zwei Jahre später nahmen bereits 1.100 Menschen an einem weiteren Hess-Gedenkmarsch in Wunsiedel teil. Nach dem Verbot der Aufmärsche 1991 fand in Bayreuth ein Aufmarsch mit 1.500 Neonazis statt. Im Laufe der 1990er Jahre nahm der Zuspruch ab.
Erst mit den erneuten Anmeldungen des Neonazi-Anwalts Jürgen Rieger ab 2001 gewannen die Hess-Gedenkmärsche wieder an Dynamik. Rieger setzte erneut Aufmärsche in Wunsiedel durch, an denen 2001 bereits 1.000 Neonazis teilnahmen und 2004 sogar 5.000 der Mobilisierung nach Bayern folgten.
Nach breiten antifaschistischen Protesten vor Ort und einer Änderung des Versammlungsgesetzes wurden die Hess-Gedenkmärsche in Wunsiedel 2005 dann endgültig verboten. 2011 folgte auch die Auflösung des Familiengrabes. Die Hess-Märsche hatten eine zentrale Funktion für die Prägung der neonazistischen Trauermärsche, wie diese später auch in Städten wie Dresden, Bad Nenndorf oder Magdeburg stattfinden sollten und über Jahre zu den größten neonazistischen Veranstaltungen in Deutschland zählten.