»Sinkende Hemmschwellen«

Interview »der rechte rand« mit Mirjam Blumenthal
Magazin "der rechte rand" Ausgabe 166 - Mai 2017

der rechte rand Ausgabe 166 - Mai 2017

Brandanschlag auf das Auto einer Familie in Fürth, die sich antifaschistisch engagiert.

In Berlin-Neukölln hat es seit Herbst 2016 mehr als drei Dutzend Anschläge auf politische GegnerInnen gegeben. Betroffen waren unter anderem GewerkschafterInnen, SozialdemokratInnen, Jugendverbände, KirchenvertreterInnen, BuchhändlerInnen und ein linkes Café. Auch wenn bisher keine TäterInnen gefasst wurden – alle Indizien deuten auf die Urheberschaft von Neonazis. Mit der Neuköllner DGB-Kreisvorsitzenden und Sozialdemokratin Mirjam Blumenthal sprach Sascha Schmidt für »der rechte rand«.

drr: Im Januar diesen Jahres wurde dein Auto angezündet. Das war nicht der erste Brandanschlag, der dir oder von dir betreuten Initiativen galt.
Mirjam Blumenthal: Seit vielen Jahren wird der »Kinder- und Jugendverband SJD – Die Falken«, wo ich aktiv bin, von der rechten Szene bedroht. 2011 gab es zwei Brandanschläge auf unser Verbandshaus, Gruppenleiter wurden zusammengeschlagen und ich bekam Morddrohungen. Im Dezember 2011 wurde uns durch das BKA mitgeteilt, dass wir auf der Liste des NSU standen.

In den vergangenen Monaten wurden zahlreiche weitere Anschläge auf Personen oder Institutionen in Neukölln verübt, die sich gegen Rechts engagieren. Welche Strategie steckt deiner Meinung nach dahinter?
Es ist leichter nachts unbemerkt einen Brandsatz zu legen, als mit wenigen Personen eine Demo durchzuführen, der sich viel mehr DemokratInnen entgegenstellen. Die Präsenzkultur der rechten Szene hat sich stark verändert. Sie radikalisiert sich und versucht uns einzuschüchtern. Ein Brandsatz an einem Verbandshaus oder einem Buchladen ist schlimm, das kann die wirtschaftliche Existenz der Betroffenen zerstören, und schüchtert ein und macht Angst. Ein Brandsatz vor dem Haus, in dem die Familie lebt, ist eine neue Dimension. Hier wird konkret in Kauf genommen, dass die Flammen auf das Haus übergreifen und Menschen zu Tode kommen. Ich selbst habe erlebt, wie Neonazis auf einem Parkplatz während einer Diskussionsveranstaltung gegen Rechts Autokennzeichen aufgeschrieben haben. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie uns auch von Veranstaltungen gefolgt sind oder Verbindungspersonen mit Zugang zu den Adressen der HalterInnen der Fahrzeuge haben. Die Strategie bleibt immer die gleiche, nur die Taktik hat sich verändert: »Wir wollen unsere Positionen durchsetzen und letztendlich die Demokratie abschaffen.« Das wird umso deutlicher, wenn man sich anschaut, wer betroffen ist: Mitglieder von demokratischen Parteien und Jugendverbänden, GewerkschafterInnen und Gruppen oder Personen, die sich besonders für den Zusammenhalt der demokratischen Gesellschaft stark machen.

Berlin und gerade Neukölln gelten ja als eher weltoffen und kulturell ausdifferenziert. Von außen betrachtet verwundert es schon, dass sich dort Neonazis offenbar zunehmend mehr in die Offensive begeben können. Wie bewertest Du die extrem rechten Strukturen vor Ort? Sind diese auch im Alltag wahrnehmbar?
In Neukölln leben 330.000 Menschen aus über 150 unterschiedlichen Herkunftsländern zusammen. Wir sind ein sehr heterogener Stadtbezirk. Doch die rechte Szene hat eine traurige Tradition in Neukölln. Schon in den Neunzigern haben wir rechte Übergriffe erlebt. Ein Täter – er stellte sich später als der V-Mann Piatto heraus – wurde auch im Zusammenhang mit dem NSU genannt. Wir wissen nicht, ob es sich um die gleichen Täterkreise wie 2011 und 2012 handelt, aber die Muster ähneln sich sehr. 2011 gab es »Feindeslisten«. Dort wurden Organisationen und Verbände, aber auch Einzelpersonen mit Namen und Orten gelistet. Viele dieser Orte wurden nacheinander ‹abgearbeitet›. 2016 gab es neue Listen, seit der neuen Anschlagswelle ging es aber vor allem um Ziele, die auch auf der Liste von 2011 waren.

Im September zog die »Alternative für Deutschland« (AfD) mit rund 14 Prozent der Stimmen und 25 Sitzen ins Berliner Abgeordnetenhaus ein und ist auch in allen Bezirksverordnetenversammlungen vertreten. In Neukölln stellt die AfD einen Stadtrat. Der Stadtteil steht als Symbol für die verhasste »Multikulti«-Gesellschaft. Hast du das Gefühl, dass sich seit den Wahlen die Stimmung geändert hat und sich Neonazis möglicherweise nun als »Vollstrecker des Volkswillens« begreifen?
Die Bezirksverordnetenversammlung von Neukölln ist leider nicht zum ersten Mal mit rechten Parteien konfrontiert. Die AfD in Neukölln ist mit acht Personen als Fraktion gestartet. Schon nach kurzer Zeit ist die einzige Frau aus der Fraktion ausgetreten und nun fraktionslos. Sie war mit dem Stadtratsvorschlag der AfD nicht einverstanden. Wenn man nun sieht, wie sie agiert, provoziert und redet, dann gruselt es einen. Ihre Wahl wäre wohl eher das Kaliber von Andreas Wild gewesen. Dieser kandidiert auf dem Ticket der AfD Neukölln für den Bundestag. Einige Abgeordnete sind erkennbarer Teil des rechten Netzwerkes in Berlin. Schon vor der Wahl hat sich die Stimmung deutlich geändert. Rechtes Gedankengut laut zu äußern, DemokratInnen zu beschimpfen und zu verhöhnen ist salonfähig geworden. Die Hemmschwellen sind deutlich gesunken. Immer wieder versucht die AfD, rote Linien zu überschreiten.

Regt sich nach den vielen Anschlägen in Neukölln nun Widerstand?
Es regt sich ein breiter zivilgesellschaftlicher Widerstand. Wir haben mehrere Bündnisse und Initiativen in Neukölln, die gut zusammenarbeiten. Nach dem Brand haben AnwohnerInnen der Hufeisensiedlung, in der ich lebe, eine Solidemo organisiert. Mehr als 400 Menschen mit Kindern sind gekommen. Viele von ihnen gehören nicht zu den üblichen Aktiven. Trotzdem war es ihnen ein Anliegen, ein Zeichen zu setzen. Das war sehr wichtig. Für die Gemeinschaft und für meine Familie. Das erleben wir auch an anderen Orten in Neukölln. Überall finden sich Menschen zusammen, die das nicht hinnehmen wollen. Dafür ist eine breite Öffentlichkeit sehr wichtig. Je mehr die Presse darüber berichtet, desto mehr erfahren davon.