Nationalsozialismus legal?

von Gideon Botsch
Magazin "der rechte rand" Ausgabe 166 - Mai 2017

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Verbotsantrag gegen die NPD hinterlässt einen widersprüchlichen Eindruck.

der rechte rand Ausgabe 166 - Mai 2017

Aufmarsch der NPD im mecklenburgischen Friedland 2013 – Teilnehmer mit Bekenntnis zum Jahr 1933

Einerseits bestätigte der Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), dass die »Nationaldemokratische Partei Deutschlands« (NPD) eine verfassungswidrige Kraft ist, die »aggressiv-kämpferisch« gegen die »freiheitlich-demokratische Grundordnung« vorgeht. Dabei stellte er auch eine »Wesensverwandtschaft« mit dem Nationalsozialismus fest, die 1952 eine Voraussetzung für das Verbot der »Sozialistischen Reichspartei« (SRP) nach Artikel 21 Absatz 2 Grundgesetz (GG) war und in den Verbotsverfügungen gegen extrem rechte Vereine nach Artikel 9 Absatz 2 GG regelmäßig zu den Verbotsgründen zählt.
Das BVerfG hat mit dem Begriff »Potentialität« nun für ein Parteiverbot folgende Bedingung eingeführt: Die Partei muss in absehbarer Zeit eine Chance haben, ihre verfassungswidrigen Ziele zu erreichen. Das ist eine Neuinterpretation der Rechtslage, die weit über das NPD-Verbot hinausweist und Folgen für das Selbstverständnis der Bundesrepublik als Nachfolgestaat des nationalsozialistischen »Deutschen Reiches« hat.

»Wehre den Anfängen«
Schon 1952 hatte das BVerfG zur Bedingung gemacht, dass die SRP ihre Ziele mit hinreichender Ernsthaftigkeit verfolgt. Beim Verbot der »Kommunistischen Partei Deutschlands« (KPD) wurde 1956 die Formulierung »aggressiv-kämpferische Haltung« eingeführt. Verbotsbegründend blieb gleichwohl die Bewertung der Absichten und des Verhaltens der betreffenden Partei, nicht aber die Aussicht auf Erfolg. Damit wurde eine Lehre aus der Vergangenheit gezogen: Der rasante Aufstieg der NSDAP von einer randständigen Splitterpartei zur stärksten Kraft im Reichstag in nur wenigen Jahren führte zum Credo »Principiis obsta – wehre den Anfängen!«
Auch bei Verboten extrem rechter Vereine wurde regelmäßig die Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus als einer von mehreren Verbotsgründen angeführt. Und ebenso regelmäßig wurde die Anfechtung eines Verbots von den zuständigen Gerichten zurückgewiesen, unter Berufung auf die bundesdeutsche Rechtsauffassung, der zufolge es nicht darauf ankam, ob die Vereine ihre Ziele erreichen konnten.
Diese Auffassung begründete bis in jüngste Zeit die herrschende Meinung in der juristischen Literatur. In der Neuausgabe ihres Kommentars zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz von 2015 halten beispielsweise Christian Burkiczak, Franz-Wilhelm Dollinger und Frank Schorkopf Folgendes fest: »Das Tatbestandsmerkmal ‹darauf ausgehen› macht deutlich, dass bereits Bestrebungen, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (…) richten, für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei genügen. Ein Erfolg (…) in Gestalt einer bereits eingetretenen Beeinträchtigung oder Gefährdung der geschützten obersten Verfassungswerte – Menschenwürde, Freiheits- und Gleichheitsrechte und parlamentarische Demokratie – ist dagegen nicht erforderlich.« Mit einer sprachlich kaum nachvollziehbaren Neuinterpretation der Wendung »darauf ausgehen« setzt sich das BVerfG erklärtermaßen von den Verbotsbegründungen der 1950er Jahre ab. Die Beiläufigkeit, mit der dies in der Urteilsverkündung und der Zusammenfassung des Urteilstenors geschieht, gibt allerdings zu denken.

Freifahrtschein für NationalsozialistInnen?
In welchem Maße das Urteil einer Bagatellisierung der NPD Vorschub geleistet hat, ließ sich dem Echo der medialen Berichterstattung entnehmen. Die grundsätzliche Frage, wie es in der Bundesrepublik zukünftig um die Bewertung nationalsozialistischer Positionen steht, war kaum ein Thema. De facto hat das BVerfG en passant nationalsozialistische Propaganda legalisiert. Eine Vereinigung unter dem Schutz des Parteiprivilegs kann – solange sie nicht in der Lage ist, den Bestand der Demokratie zu gefährden – ganz offen und durchaus aggressiv-kämpferisch auf die Errichtung einer nationalsozialistischen Ordnung hinarbeiten. Mit Rücksicht auf strafrechtliche Verfolgung müsste sie freilich das Verwenden von Hakenkreuzen und dergleichen vermeiden, ebenso Beleidigungen, Holocaustleugnung und Volksverhetzung und zudem die Formalia des Parteienrechts berücksichtigen. Exakt diesen Weg beschreiten bedeutende Teile des neonazistischen Kameradschaftsspektrums, die in Erwartung des Urteils vor einigen Jahren zwei neue Kleinstparteien geschaffen haben. Ein administratives Verbot von »Die Rechte« nach Art. 9 GG gilt schon jetzt als unmöglich; auch der Parteienstatus von »Der III. Weg« dürfte bereits nicht mehr anfechtbar sein.

Zivilgesellschaft statt Verbote?
Es ist sogar fraglich, ob künftige Vereinsverbote nach diesem Urteil Bestand haben werden – schließlich ist auch die grundgesetzlich garantierte Vereinigungsfreiheit ein sehr hohes Verfassungsgut. Entsprechende Verfassungsklagen sind zu erwarten. Da die Verwirkung von Grundrechten nach Art. 18 GG zu Recht als wenig wirksame und bedenkliche Maßnahme gesehen wird und de facto nicht zur Anwendung kommt, wären die meisten in der Verfassung verankerten Instrumente der »streitbaren Demokratie« wirkungslos. »Verfassungsschutz« fände damit weithin durch zivilgesellschaftliches Engagement, administrativ oder auf einfach gesetzlicher Basis statt. Dies wird von vielen DemokratInnen begrüßt und als Fortschritt gesehen. Über »antifaschistische« Elemente, die dem Grundgesetz mitunter zugeschrieben worden sind, muss dann allerdings nicht mehr spekuliert werden. Die Kopplung des »Verfassungsschutzes« und der »Wehrhaftigkeit« der Demokratie an die historische Erfahrung des Nationalsozialismus wird zur Angelegenheit der politischen Kultur – verfassungsrechtlich ist sie praktisch unerheblich geworden.