»Sammelbeobachtungsobjekt«

von Ernst Kovahl



Magazin "der rechte rand" - Ausgabe 165 - März/April 2017

Keine Gefahr
Weder die Ideologie der »Reichsbürger« noch ihre Nähe zum Neonazismus und ihre Liebe zu Waffen sind neu. In den 1980er Jahren waren es bekannte Neonazis, wie Thomas Brehl oder Michael Kühnen, die sich entsprechender Ideologie bedienten. Mit Reinhold Oberlercher und Horst Mahler traten in den 1990er Jahren zwei lautstarke Propagandisten in die Szene, deren Anbindung an die extreme Rechte offensichtlich war. Entsprechend berichteten die Verfassungsschutz-Ämter. Aufgeführt wurden im Thüringer Bericht beispielsweise die regelmäßigen Treffen des »Deutschen Kollegs« und der »Reichsbewegung« in Mosbach nahe Eisenach – nicht weil es Veranstaltungen der »Reichsbürger« waren, sondern wegen ihrer offen neonazistischen Akteure Oberlercher und Mahler.
2012 kam Bewegung in die Debatte. In ihrer Antwort auf eine Anfrage der Fraktion der »Die Linke« offenbarte die Bundesregierung ihre Einschätzung: Eine »einheitliche ‹Reichsbürgerbewegung› existiert (…) nicht«, verbreitet würden durch »konkurrierende Splittergruppen« und »Einzelpersonen« nur »absurde Thesen zum ‹Deutschen Reich›« und »pseudo-juristisch verbrämte Argumente«. Zudem würden »Pseudoämter« zahlreiche »Phantasiepapiere« und »Reichsausweise« ausgeben. »Seriöse Zahlenangaben zum Personenpotenzial« seien nicht möglich und nur über vier Gruppen lägen »hinreichende verfassungsschutzrelevante Erkenntnisse« vor. Zwar gebe es in der Szene »Rechtsextremisten«, aber es gelte Entwarnung: »Ganz überwiegend bestehen bei diesen genannten Erscheinungsformen erhebliche Zweifel, dass ernstzunehmende ziel- und zweckgerichtete politische Verhaltensweisen vorliegen.« Während der Bund das Bild einer skurrilen, märchenhaften Parallelwelt der »Reichsbürger« zeichnete, begannen ab 2012 mehrere Bundesländer, Broschüren oder Handreichungen zu erstellen, weil die Aktionen gegen Behörden vor allem kommunal erheblich zunahmen. Vor allem Brandenburg bemühte sich, seine MitarbeiterInnen gegen die Attacken der »Reichsbürger« zu schulen.

Extremismus-Forschung
Im Zentralorgan der »Extremismus Forschung«, dem von Uwe Backes, Alexander Gallus und Eckhard Jesse herausgegebenen »Jahrbuch Extremismus & Demokratie« (E&D) spielten die »Reichsbürger« de facto keine Rolle – selbst dann, wenn die Bezüge offensichtlich und sogar benannt wurden. In einem Porträt von Horst Mahler – einem der zentralen Akteure der neonazistischen »Reichsbürger«, verfasst 2001 von Jesse, wurden Mahlers positiver Bezug auf das »Reich«, seine Kritik und Ablehnung der deutschen »Vasallenregierung« und sein Antisemitismus dargelegt – aber offenbar nicht verstanden. Mahlers offen dargestellten Theorien galten Jesse, wenn überhaupt, offenbar nur als nebensächlich. Denn für ihn war Mahler nur ein »irrlichternder Wanderer zwischen den Welten« – und im Kern vor allem weiterhin der ehemalige RAF-Anwalt und Alt-68er. Mahlers Kurs in die extreme Rechte schien nur als Fortführung von Anti-Amerikanismus und Hass auf die Bundesrepublik – nun mit anderen Mitteln. Ähnlich wie Jesse scheint es auch dem Rest der informellen und formellen Verfassungsschutz-MitarbeiterInnen aus der »Extremismus«-Forschung gegangen zu sein: Die Fokussierung auf die Linke verstellte den Blick nach rechts.
Erst 2014 erschien in dem dickleibigen Jahrbuch ein eigenständiger Aufsatz, der kenntnisreich und detailliert die »Reichsbürger« untersuchte. Autor Jan Freitag nannte relevante Gruppen und Strömungen, zeigte die ideologischen Linien und personellen Verknüpfungen in den Neonazismus, warnte vor Bewaffnung und dem Anwachsen der Szene, nahm ihre »scheinjuristischen Argumente« auseinander und stellte klar, dass ausnahmslos alle AnhängerInnen der »Reichsbürger« mindestens ein bis zwei ideologische Kernelemente des »Rechtsextremismus« verträten. Der Politikwissenschaftler wies zudem auf die Kenntnislücken von Regierungen – also auch der Mehrheit der Verfassungsschutzämter – und der Wissenschaft hin. Seine Arbeit scheint sogar die drei Koryphäen der »Extremismustheorie« und Herausgeber des Jahrbuchs überzeugt zu haben. Nachdem das Phänomen nicht mehr zu leugnen war, schrieben sie: »Die Schnittflächen zum Rechtsextremismus sind aufgrund eines Potpourris von antisemitischen, ausländerfeindlichen und antiamerikanistischen Ideologemen groß. Teile dieser skurril anmutenden Szene zeigen zudem Gewaltbereitschaft.«

Plötzlich gefährlich
Um ins Visier der Geheimdienste zu rücken, muss eine Organisation oder Bewegung »hinreichend tatsächliche Anhaltspunkte als verfassungsfeindlich« bieten. Was das genau ist, ist kaum definiert. Die Einschätzung basiert auf Analysen und Bewertungen der Verfassungsschutz-Ämter, dem Konsens in der »Extremismus«-Forschung und unterliegt, wie aktuell bei den »Reichsbürgern« zu beobachten, am Ende auch politischen Erwägungen. Die »Reichsbürger« haben zwar tatsächlich parallel zum jüngsten Aufschwung der extremen Rechten an Potential gewonnen, aber weder ihre Ideologie noch ihr Hang zu Waffen und Gewalt oder ihre aggressive Ablehnung der staatlichen Ordnung haben sich zugespitzt – sie sind seit Jahren gleich.
Am Fall der »Reichsbürger« werden wieder einmal die strukturellen Fehler und die ideologisch begründete, theoretische Beschränktheit der Geheimdienste deutlich. In der Eigenlogik der Dienste braucht es, um zum Beobachtungsobjekt zu werden, feste Strukturen – am besten mit Satzung, Ausweis und Kassenwart –, und eine gemeinsam festgeschriebene Programmatik. Und die Organisationen müssen die staatliche Ordnung bedrohen – nicht allein Menschen. Doch selbst dort, wo fast alle Voraussetzungen gegeben waren, wurden im Bereich der »Reichsbürger« durch die Mehrheit der Ämter nur jene Strukturen ins Visier genommen, die durch ihr Personal – bekannte Neonazis und extreme Rechte wie Mahler oder Oberlercher – sowieso im Fokus standen. Allein die kontinuierliche und zielgerichtete Verbreitung von Antisemitismus, die Ablehnung der Demokratie, offener Geschichtsrevisionismus, Waffen-Fetisch, organisierte Aktionen gegen staatliche Einrichtungen oder Bedrohungen Einzelner reichten den Behörden nicht, um die Szene in den Fokus zu nehmen. Noch 2016 meinte die Niedersächsische Regierung, es sei von einer »hohen Quote an Querulantentum« – also letztlich unpolitischen Einstellungen – in der Szene auszugehen. Als aber ein Polizist erschossen wurde, waren die zuvor angeblich nicht umfänglich vorhandenen Kenntnisse da. Nun gilt plötzlich die gesamte Szene als gefährlich. Dass die im November 2016 von Bund und Ländern getroffene realistischere Einschätzung dabei den bisher mehrheitlich falschen Analysen widersprach, interessierte niemanden.
Weder wird eine einheitliche Beobachtung der »Reichsbürger« noch eine Ausweitung der Beobachtungsobjekte und Kompetenzen oder eine Reform der Spitzel-Behörden die extreme Rechte stoppen. Aber solange die Einschätzung der Dienste und der »Extremismus-TheoretikerInnen« handlungsleitend für den Staat sind – von den kommunalen Versammlungsbehörden über die Polizei und Verwaltungen bis hin zu Gerichten -, und ihre Einschätzungen in Medien, Politik und öffentlicher Debatte mehr Gewicht haben, als das unabhängiger ExpertInnen oder AntifaschistInnen, ist der kritische Blick auf die dürftigen Kenntnisse und die inkonsistente Praxis der Geheimdienste notwendig.