Wie weit reicht die Ideologie der »Reichsbürger« in die Gesellschaft?

von Roland Sieber


Magazin "der rechte rand" - Ausgabe 165 - März/April 2017

#Reichsbürger

Das Schlagwort »Reichsbürger« lenkt von der Reichweite der Ideologie dahinter ab. Der Politikwissenschaftler Jan Rathje spricht darum auch von Libertären, Souveränisten und Selbstverwaltern. Prominentester Vertreter der Verschwörungs- und Reichsbürgerszene ist der Popstar Xavier Naidoo.

< Deutscher Pop- und Schlagersänger Xavier Naidoo will »Freiheit für Deutschland«

< Deutscher Pop- und Schlagersänger Xavier Naidoo will »Freiheit für Deutschland«

Der Weg in die »Reichsbürger«-Szene kann über die extreme Rechte gehen: Neonazis, die an den Fortbestand des »Dritten Reiches« glauben und AnhängerInnen neu-rechter Strömungen, die Ideologiefragmente der »Reichsbürger« übernehmen. Ein weiterer Weg kann über soziale und finanzielle Fragen gehen: Menschen, die aufgrund von schwierigen Lebenslagen nach Verantwortlichen und Auswegen aus ihrer Krisensituation suchen. Hier seien beispielsweise Mütter genannt, die Meinungsverschiedenheiten mit dem Jugendamt haben oder mittelständische UnternehmerInnen, denen die Insolvenz droht. Diese Menschen suchen im Internet nach Hilfe und stoßen auf Blogs und bei Facebook auf die skurrilen Rechtsmeinungen von »Reichsbürgern«, welche die Situation für Betroffene zumeist noch verschlechtern. Nach und nach kommt dann ein struktureller Antisemitismus hinzu.

Auch Personen mit Migrationshintergrund oder solche, die sich selbst politisch als eher links oder alternativ verorten, können über popkulturelle und politische Verschwörungstheorien in die »Reichsbürger«-Szene rutschen. Auf eine Verschwörung folgt eine weitere und so weiter. So steigern sich Menschen in eine in sich geschlossene Verschwörungsideologie hinein. Jede neue Information wird von den Betroffenen so interpretiert, dass diese ins eigene Weltbild passt. Dies wird als Bestätigungsfehler bezeichnet. Informationen oder Personen, die der eigenen Ideologie widersprechen, werden äußeren Feinden zugeschrieben. Gemeinsame Feindbilder wiederum bilden den Klebstoff, der die in sich widersprüchlichen politischen Grüppchen und Strömungen zusammenhält.

So lässt sich erklären, dass der selbst von Rassismus betroffene Musiker Xavier Naidoo am 3. Oktober 2014 in Berlin vor dem Bundeskanzleramt zusammen mit dem Querfront-rechten Verleger Jürgen Elsässer und dem antisemitischen und rassistischen Neonazi-»Druiden« und »Reichsbürger« Burghard Bangert demonstrierte. Bangert steht seit kurzem im Verdacht, sich gemeinsam mit weiteren Beschuldigten zu einer rechtsterroristischen Vereinigung zusammengeschlossen zu haben, um bewaffnete Angriffe auf PolizistInnen, Asylsuchende und Menschen der jüdischen Glaubensgemeinschaft zu begehen.

Ein waches Hinterfragen politischer Geschehnisse ist sinnvoll, doch können rationale Diskussionen über tatsächliche politische Missstände durch plumpe Verschwörungstheorien unmöglich gemacht werden. Die Definition, ab wann jemand »Reichsbürger« sei, ist umstritten. Zum sehr weiten Umfeld gehören Personen, die an irgendeine Verschwörungstheorie glauben, ob es jetzt um den Tod von Michael Jackson, die Mondverschwörung oder die Ablehnung der Schulmedizin geht. Darin der zweite Ring mit Menschen, die bereits ein geschlossenes verschwörungsideologisches Weltbild besitzen. Hierzu kann auch der Glaube an Klimalüge, Chemtrails, flache Erde oder »Freimaurer« und »llluminaten« sowie eine »Neue Weltordnung« (NWO) gehören, der oftmals schon Merkmale des strukturellen Antisemitismus aufweist, da es eine geheime Macht im Hintergrund geben muss, welche die Fäden zieht. Im dritten Ring die Personen, die ihre Weltverschwörung aufgrund von offenem Antisemitismus erklären, also »die Juden« auch benennen und im innersten Kreis die sogenannten »Reichsbürger«.

Wobei die Übergänge fließend sind und nicht jeder »Reichsbürger« offen antisemitisch auftritt. Zum Beispiel singt der Rapper Kollegah von der »NWO«, obwohl er kein Reichsbürger ist. Bereits zuvor pushte der Soulsänger Naidoo mit seinen politischen Aussagen und Songzeilen neben dem österreichischen Rapper Kilez More und der Duisburger Band »Die Bandbreite« die Verschwörungs- und Reichsbürgerszene hoch. So teilte der mutmaßliche Polizistenmörder Wolfgang P. aus Georgensgmünd auf Facebook mehrere Aussagen und Songs des Mannheimer Musikers. Die Popularität von Naidoo kann Menschen in eine abstruse Gedankenwelt aus unhaltbaren Behauptungen führen, in denen Hass und Angst mehr zählen als Fakten, warnte die Band »Die Skeptiker« bereits zur Verleihung des Negativpreises für den größten antiwissenschaftlichen Unsinn des Jahres 2014 an Naidoo.

Bereits im Oktober 2011 war Naidoo im ARD-Morgenmagazin zu Gast und erzählte vor laufender Kamera: »Aber nein, wir sind nicht frei, wir sind immer noch ein besetztes Land! Deutschland hat noch keinen Friedensvertrag und ist dementsprechend auch kein echtes Land und nicht frei.« In der »Reichsbürger«-Szene wurde er für diese Verbreitung einer ihrer Kernthesen gefeiert. Daraufhin unterlegte die selbsternannte »Reichsbewegung — Neue Gemeinschaft von Philosophen« ein Propagandavideo mit dem Song IZ ON der »Söhne Mannheims«. Die »Reichsbewegung« versandte 2012 rassistische Briefe an muslimische Menschen und Organisationen und kündigte Gewalt an, falls diese Deutschland nicht verlassen.

Auszüge aus Naidoos YouTube-Kanälen verbreiteten sich in antisemitischen Kreisen. Dort wird der Holocaust geleugnet und gegen jüdische Menschen gehetzt. Beliebt ist sein Lied »Raus aus dem Reichstag« von 2009. Laut dem offiziellen Songtext im Begleitheft der CD »Alles kann besser werden« singt er im antisemitischen Jargon: »Wie die Jungs von der Keinherzbank, die mit unserer Kohle zocken. Ihr wart sehr, sehr böse und steht bepisst in euren Socken. Baron Totschild gibt den Ton an und er scheißt auf euch Gockel. Der Schmock ist’n Fuchs und ihr seid nur Trottel«. »Der Schmock ist’n Fuchs« ist ein antisemitischer Code und mit »Baron Totschild« spielt er auf die jüdische Bankiers-Familie Rothschild an, denen schon die Nazis unterstellten, hinter dem »Federal Reserve System« (FED) und damit hinter dem Banken- und Zinssystem zu stehen, dem in verschwörungsideologischer Manier die Schuld an sämtlichen Missständen und Kriegen der Welt gegeben wird. Fünf Jahre nachdem der Songschreiber den Politikern »Raus aus dem Reichstag« entgegen schmetterte, unterstützte er eine Reichsbürgerdemo vor dem Bundestag in Berlin, aus deren Kreisen mal wieder zum Sturm auf den Reichstag und zum gewaltsamen Sturz der Regierung aufgerufen wurde.

Der selbsternannte Systemkritiker Xavier Naidoo berichtet in einem Videointerview mit »Sons of Libertas«, wie er seine Wahrheit in YouTube-Videos fand. Politischer Weggefährte von Naidoo war Oliver Janich, ein selbsternannter Libertärer, der sich vor einigen Jahren mit Elsässer gegen die »Rothschilds« und für Thilo Sarrazin stark machte. Ein antistaatliches Buch von Janich wird von Naidoo in dem Lied »Die Wahrheit« beworben, in dem sich der Sänger auch selbst als »libertären, gläubigen Menschen« beschreibt. Janich gründete 2009 die rechtslibertäre und marktradikale »Partei der Vernunft« (PdV). Rechtslibertäre Anarchokapitalisten lehnen mit Berufung auf den US-Ökonomen Murray Rothbard Staaten ab, wollen diese aber durch einen sozialchauvinistischen freien Markt ersetzen. Da diese Ideologie in sich widersprüchlich ist, wird sie häufig mit Verschwörungstheorien ergänzt. In einem Interview mit der neu-rechten markt­liberalen Monatsschrift »eigentümlich frei« (ef) führte Janich seine politische Nähe zu dem US-amerikanischen Verschwörungsideologen Alex Jones aus. Jones hat bis heute Einfluss auf die »Tea-Party«-Bewegung und stellte sich im letzten Wahlkampf früh hinter den jetzigen US-Präsidenten Donald Trump.

Die Ideologie von Naidoo nimmt Anleihen aus dem christlichen Fundamentalismus, aus in der Rap- und Rastafari-Szene verbreiteten Verschwörungstheorien von satanischen Logen und von »Babylon« als Bild für die westliche Zivilisation, aus deutschnationalistischen Verschwörungstheorien und aus dem marktradikalen Libertarismus. Mit Sprachcodes sowie der Bildsprache in einigen Musikclips befeuert der Sänger die Verschwörungstheorien der »Truther«- und »Infokrieger«-Szene. Diese verklären mit Falschinformationen die Terroranschläge in den USA vom 11. September 2001 zu einem ‹Inside Job› und die informellen »Bilderberg-Konferenzen« zu einer globalen Schattenregierung. So brüllt Naidoo am Ende des Songs »Mein Weltbild«: »Bilderberger, wir kommen euch zu holen!« Hierseits wie dortseits des Atlantiks wird eine antisemitische Bildsprache benutzt, die die FED und die Obama-Regierung als Marionetten einer geheimen freimaurerischen oder jüdischen Weltregierung zeichnet. Neonazis kürzen dies in ihrer Szenesprache als ZOG ab: »Zionist Occupied Government«. Hier überschneidet sich die »Infokrieger«-Szene punktuell mit dem neonazistischen Spektrum. Aus diesem breiten Mischspektrum mobilisierten sich die bundesweiten »Mahnwachen für den Frieden und gegen die tödliche Politik der ‹Federal Reserve› (einer privaten Bank)«, zu denen Lars Mährholz im Frühjahr 2014 vor dem Hintergrund des Ukraine-Konflikts aufrief und an denen zahlreiche Szene-Größen der sogenannten »Reichsbürger« teilnahmen.

Die »Souveränitätsfrage« wird auch in dem Monatsmagazin »Compact« und von dessen Chefredakteur Jürgen Elsässer aufgeworfen. Wer bei den rechten Demos von PEGIDA mitläuft, demonstriert nicht nur mit »Reichsbürgern«, sondern glaubt häufig auch selbst, die »Lügenpresse« und die »Systemparteien« seien Teil einer Verschwörung gegen das »deutsche Volk« und Deutschland sei angeblich nicht souverän und von ausländischen Mächten fremdbestimmt.
Die mutmaßlich von Mario R. betriebene Facebookseite »Anonymous.Kollektiv« ging noch weiter und verbreitete, Deutschland werde als »BRD GmbH« verwaltet und »wir« Deutschen seien angeblich nur deren Personal. Ich definiere »Reichsbürger« als Personen, die sich darüber hinaus als souverän oder frei erklären und sämtlichen deutschen Rechtsnormen und Behörden die Legalität absprechen.

Den Weg in diese SelbstverwalterInnen-Szene ebnet zum Beispiel Peter F. Dieser bietet kostenpflichtige Seminare an und tritt als »Prozessbevollmächtigter« auf. Während F. damit Einnahmen generiert, reitet er die Leute, die er bei seinen Schulungen in die Irre führt und die ihm statt einem Rechtsanwalt vertrauen, noch tiefer in die soziale und finanzielle Krise. Auch Adrian Ursache, der in U-Haft sitzt, weil er in Reuden auf Polizisten geschossen haben soll, und der mutmaßliche Polizistenmörder Wolfgang P. haben sich als »Menschen« als »frei« und »souverän« erklärt und ihr eigenes Staatsgebiet ausgerufen.